Protokoll der Sitzung vom 09.11.2005

(Zuruf der Abg. Brigitte Lösch GRÜNE)

Unser Konzept wird den Eltern gerecht, die ihre Kinder selbst betreuen, und auch den Eltern, die auf eine externe Betreuungsmöglichkeit angewiesen sind. Das gilt für die Kleinkindbetreuung genauso wie für die Ganztagsschule flächendeckend in Baden-Württemberg.

(Ministerpräsident Oettinger)

Wir nehmen den Eltern die Verantwortung nicht ab. Aber wir unterstützen sie, wenn und wo sie dies wünschen, wenn und wo sie Unterstützung des Staates und der Kommune benötigen.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Wir verstaatlichen nicht die freie Zeit von Kindern und Jugendlichen, sondern wir bieten freien Trägern die Möglichkeit, diese Zeit gemeinsam mit jungen Menschen sinnvoll zu gestalten.

Die Zukunft unserer Kinder ist eine Aufgabe, der sich alle gleichermaßen stellen müssen: die Eltern, der Staat, die Schulen und die Betreuungseinrichtungen, die Kommunen, die Kirchen, die freien Träger, die Vereine und Verbände, die Wirtschaft, die Gesellschaft insgesamt. Das Konzept „Kinderland Baden-Württemberg“ gibt dieser ganzheitlichen Gesamtverantwortung neuen Raum.

Seit dem Amtsantritt der neuen Landesregierung vor einem halben Jahr haben wir eine Vielzahl von Gesprächen geführt,

(Zuruf der Abg. Brigitte Lösch GRÜNE)

und wir haben eine Reihe von Projekten und Maßnahmen vorbereitet, die die Situation von Kindern, von Jugendlichen, von Müttern und Vätern, von Familien in BadenWürttemberg umfassend verbessern werden, über die ich Ihnen jetzt berichten will.

Am letzten Freitag haben wir dazu eine entsprechende Vereinbarung mit den Präsidenten von Landkreistag, Städtetag und Gemeindetag geschlossen. Ich danke den kommunalen Verbänden, den Kommunen in Baden-Württemberg generell für eine faire Partnerschaft, für eine faire Aufgabenteilung, für eine faire Finanzverteilung.

(Zuruf der Abg. Brigitte Lösch GRÜNE)

Das Fundament von Land und Kommunen wird die Grundlage sein, auf der die Ganztagsbetreuung in Baden-Württemberg sinnvoll und maßvoll ausgebaut werden kann.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Ein wesentliches Element aller Maßnahmen und Projekte, die wir mit den kommunalen Verbänden vereinbart haben, ist das Bewusstsein, dass Bildung und Betreuung zusammengehören, und zwar in allen Altersstufen. Dabei versteht es sich von selbst, dass Kleinkinder andere Bildungsinhalte und ein anderes Maß an Betreuung benötigen als Schüler und Jugendliche.

Wenn wir über das Thema Betreuung reden, müssen wir uns bewusst sein, dass immer mehr Familien auf ein zweites Einkommen angewiesen sind. Der Arbeitsmarkt in BadenWürttemberg ist intakt. Gut ausgebildete Frauen werden von der Wirtschaft gebraucht. Immer mehr Frauen wollen arbeiten, haben die Qualifikation dafür, und immer mehr Frauen müssen arbeiten, weil das Einkommen sonst nicht ausreichend ist. Deswegen wollen wir, dass Frauen in Ba

den-Württemberg ihre eigene berufliche Karriere, ihre Erwerbstätigkeit wahrnehmen können und dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtert wird. Ich halte es für nicht akzeptabel, wenn Frauen sich noch immer rechtfertigen müssen, dass sie nach der Elternzeit die Rückkehr in den Beruf wünschen.

(Beifall der Abg. Brigitte Lösch GRÜNE – Zurufe von der SPD)

Genauso falsch wäre es aber, wenn Frauen sich dafür rechtfertigen müssten, dass sie zu Hause bleiben und ihre Kinder selbst erziehen wollen.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP sowie Ab- geordneten der SPD und der Grünen – Zurufe)

Beide Wege sind richtig. Beide Wege verdienen Anerkennung und Unterstützung der Gesellschaft, materiell, finanziell und ideell.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Wir brauchen eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, und zwar für Frauen und für Männer. Wir brauchen ausreichende Betreuungsangebote für Kinder. Nur so wird es Familien ermöglicht, trotz Berufstätigkeit beider Elternteile eigene Kinder aufzuziehen. Es liegt auf der Hand, dass jungen Paaren auf diese Weise die Entscheidung für ein Kind, für Kinder erleichtert wird.

Die grundsätzliche Zuständigkeit für die Kleinkindbetreuung in altersgemischten Kindergartengruppen, in Kinderkrippen und durch Tagesmütter und Tagesväter liegt bei den Kommunen, so wie dies am letzten Freitag vereinbart wurde.

Die Verantwortung für Kinder im Alter bis sechs Jahre liegt zuallererst bei den Kommunen.

Die Landesregierung wird jedoch am Ziel eines qualitativen und quantitativen Ausbaus der Angebote mitarbeiten, indem wir die bisherige Mitfinanzierung von 10 % bei den Kinderkrippen beibehalten und diese Förderung auch bei steigender Nachfrage in Baden-Württemberg finanziell ermöglichen.

(Abg. Alfred Haas CDU: Sehr gut!)

Auch in finanziell schwierigen Zeiten bekennen wir uns zu unserer Mitverantwortung für die junge Generation im Land. Wir ziehen uns aus gemeinsam vereinbarten Aufgaben nicht zurück. Wir bleiben ein Partner für Kommunen und Kirchen, wenn es um Kleinkindbetreuung in BadenWürttemberg geht.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

In Deutschland und auch in Baden-Württemberg besteht ein Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg. Kinder aus der Oberschicht haben deutlich höhere Chancen, das Gymnasium zu besuchen, als Kinder aus Arbeiter- und Migrantenfamilien.

(Abg. Zeller SPD: Das gilt aber auch umgekehrt!)

(Ministerpräsident Oettinger)

Dieses Ergebnis des neuen Ländervergleichs, PISA-E 2003, hat in den letzten Tagen zu Recht die Öffentlichkeit stark beschäftigt. Ich will diese Problematik nicht beschönigen und versichere Ihnen, dass wir diesen Sachverhalt besonders ernst nehmen. Ich weise trotzdem darauf hin, dass das Ergebnis Baden-Württembergs in dieser Studie zumindest eines aussagt: Ein Drittel aller Abiturienten legt eine Reifeprüfung an den beruflichen Gymnasien ab, eine Besonderheit Baden-Württembergs. Diese Besonderheit wird in der Studie nicht dargestellt. Deshalb ist diese Studie ergänzungsbedürftig. Der Kollege Rau geht nachher darauf ein.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP)

Auch wenn man dies berücksichtigt, wird man in BadenWürttemberg – wie in allen Bundesländern – einen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen trotzdem nicht bestreiten können. Unser Ehrgeiz muss sein, die Ungleichheit dieser Chancenverteilung weiter zu verringern. Dies ist eine Frage der Gerechtigkeit gegenüber Kindern und Familien. Aber es geht auch um die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Wir können es uns nicht leisten, dass Talente und Begabungen brachliegen oder verschüttet werden. Gerade die Förderung junger Menschen aus sozial schwachen Familien muss ein Schwerpunkt der nächsten Jahre sein.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Der jüngste PISA-Ländervergleich hat aber auch ausgesprochen erfreuliche Ergebnisse für unser Land gezeigt. Die Schülerinnen und Schüler aus Baden-Württemberg konnten sich bei der Bewertung ihrer Kompetenzen auch in diesem Jahr auf vorderen Plätzen behaupten. Im internationalen Maßstab hat sich Baden-Württemberg auf praktisch allen Feldern weiter verbessert. Dies spricht für die gute Ausgangslage und die Qualität unserer Bildungspolitik, der Arbeit unserer Schulen und unserer Lehrerinnen und Lehrer vor Ort.

Am Beispiel von Nordrhein-Westfalen hat PISA gezeigt, dass Gesamtschulen kein Mittel für mehr Chancengerechtigkeit sind.

(Zuruf des Abg. Zeller SPD)

Obwohl diese Schulform dort seit Jahrzehnten propagiert wird, liegen die Bildungschancen von Arbeiterkindern dort im bundesweiten Vergleich deutlich hinten. NordrheinWestfalen zeigt, dass die Gesamtschule nicht der Weg der nächsten Jahre sein kann.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Wir sind davon überzeugt, dass der Schlüssel zu noch mehr Chancengerechtigkeit nicht in Gleichmacherei, sondern in der intensiven frühkindlichen Bildung liegt. Die intensive Förderung in Kindergarten und Grundschule ist mir deshalb ein wichtiges Anliegen. Diese Schwerpunktsetzung erfolgt in Übereinstimmung mit den kommunalen und den freien Trägern in Baden-Württemberg, mit denen auch in den nächsten Jahren ein gutes Miteinander, eine gewinnbringende Kooperation fortgesetzt wird.

Dass wir uns in Baden-Württemberg bereits auf einem guten Weg befinden, hat die IGLU-Studie gezeigt. Mit dem „Schulanfang auf neuen Wegen“ haben wir an unseren Grundschulen in Baden-Württemberg ein bundesweit anerkanntes Programm etabliert. Dieses Programm hat bereits zu einer deutlich ablesbaren Reduzierung der Zahl der Zurückstellungen vom Schulbesuch geführt und die Zahl der frühen Einschulungen erkennbar gesteigert. Der „Schulanfang auf neuen Wegen“ hat variable Einschulungsmöglichkeiten eröffnet und die flexible Ausgestaltung des Anfangsunterrichts in den Klassen 1 und 2 ermöglicht. Damit werden wir der Begabung von Fünf-, Sechs- und Siebenjährigen gerecht.

Die flächendeckende Einführung der Grundschulfremdsprache ab Klasse 1 hat sich ebenfalls positiv bewährt. Auch hier sind wir in Einklang mit den Erkenntnissen der frühkindlichen Pädagogik, die zu einem frühzeitigen Erlernen von Fremdsprachen raten. Wir führen dies in Baden-Württemberg flächendeckend durch.

Die Kooperation zwischen Kindergarten und Grundschule hat bei uns eine gute Tradition. Diese Kooperation soll in Zukunft vor dem Hintergrund des Orientierungsplans für vorschulische Bildung und mit dem Konzept „Schulreifes Kind“ weiter ausgebaut werden. Unser Ziel ist es dabei, jedem Kind die Förderung zu geben, die es braucht, um seine Begabungen optimal zu entfalten.

Wir wollen Kindergarten und Grundschule vernetzen. Wir wollen, dass jedes Kind, das in Baden-Württemberg die Schule besucht, ab dem ersten Tag schulreif ist. Das ist eine ehrgeizige Zielsetzung. Daran arbeiten wir. Bitte unterstützen Sie uns dabei.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Wir haben in Baden-Württemberg bereits in der Vergangenheit Akzente in der frühkindlichen Bildung gesetzt. Auf der Grundlage dieser Erfahrungen haben wir ein weiterentwickeltes Konzept erarbeitet und Ihnen vorgelegt: den Orientierungsplan für frühkindliche Bildung und Erziehung. Wir wollen eine möglichst frühe und individuelle Förderung der Kinder erreichen und die Bedeutung frühkindlicher Bildung betonen. Die Kindheit ist die lernintensivste Zeit überhaupt.

(Zuruf des Abg. Schmiedel SPD)

Der Orientierungsplan ist kein Curriculum, und er soll auch keine Vorschule begründen. Er soll Orientierung für die pädagogische Unterstützung kindlicher Entwicklungsprozesse geben. Auf die Kinder im Kindergartenalter soll alters- und entwicklungsadäquat zugegangen werden. Es geht darum, die natürliche Entdeckungslust und den Wissensdurst von Kindern anzusprechen. Inhalte sollen Themen wie Körper, Sinne, Sprache, Denken, Gefühl und Mitgefühl, Werte und Religion sein.

Wir haben den Orientierungsplan mit den Kommunen, den Kirchen und den freien Trägern abgestimmt. Er wird Ende November allen Kindergärten zugehen. Im Februar nächsten Jahres werden 30 Pilotkindergärten den Orientierungsplan erproben und dabei wissenschaftlich begleitet werden. Weitere 200 Kindergärten werden ihn anwenden und mit