Protokoll der Sitzung vom 09.11.2005

(Abg. Mappus CDU: Jetzt! Erzählen Sie mal! – Zu- ruf: Sehr gut!)

Nehmen wir doch mal – –

(Abg. Mappus CDU: Die meisten Teilzeitarbeits- plätze in Deutschland!)

Die Teilzeit wollten Sie bei den Koalitionsvereinbarungen in Berlin ja rückgängig machen! Sie wollten doch das Teilzeitgesetz rückgängig machen!

(Abg. Mappus CDU: Wir sind hier in Baden-Würt- temberg! – Weitere Zurufe von der CDU und der FDP/DVP – Lachen bei der SPD)

Zuerst muss es im Gesetz drinstehen. Man kann es nicht immer in Berlin anders machen als hier. Das muss schon im Gleichklang sein.

(Zurufe und Unruhe)

Nehmen wir doch einmal an, eine Frau in Baden-Württemberg mit einem sehr qualifizierten Beruf entscheidet sich gemeinsam mit ihrem Mann für ein Kind.

(Abg. Mappus CDU: Ja!)

Dann kommt das Kind auf die Welt, und nach einem Jahr überlegt sich die Frau aufgrund ihrer Qualifikation den Wiedereinstieg. Wenn sie das Glück hat, eine der Betreuungsstellen zu bekommen, die überhaupt nur für 5,5 % aller unter Dreijährigen angeboten werden, dann kann sie ihren Beruf ausüben. Meistens – weil es für fast 95 % dieser Kinder ein solches Angebot gar nicht gibt – geht es nicht; die Frau wird also weiter zu Hause bleiben.

(Abg. Mappus CDU: Das stimmt doch nicht!)

Doch, doch! Sie wird weiter zu Hause bleiben, oder sie wird was weiß ich für einen Job annehmen. Sie wird also meist zu Hause bleiben.

Wenn ihr Kind drei Jahre alt ist, hat sie die Chance, es in den Kindergarten zu schicken. Die wird sie auch wahrnehmen. Dann könnte sie, wenn die Familie mithilft, möglicherweise einen Halbtagsjob ausüben; wenn nicht, muss sie morgens das Kind hinbringen, mittags das Kind abholen, Mittagessen machen und nachher das Kind ganz schnell wieder hinbringen. Oder sie hat das Glück, einen von 7,5 – –

(Zurufe von der CDU, u. a. Abg. Hoffmann: Das ist nicht mehr so! – Zuruf der Abg. Heiderose Berroth FDP/DVP)

Herr Kollege, kümmern Sie sich um Krankenkassen! Das wäre besser für alle.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)

7,5 % aller Kindergartenplätze sind in Ganztagskindergärten mit Mittagessenangebot. Wenn sie das Glück hat, dort einen Platz zu bekommen, kann sie berufstätig sein. Hat sie dieses Glück nicht, ist es wieder aus.

(Abg. Schmiedel SPD: So ist es!)

Hat sie das Glück, dann kann sie ihren tollen Job drei Jahre lang ausüben, denn dann kommt das Kind in die Schule. Hat sie die Chance, für ihr Kind einen Platz in einer Ganztagsschule mit Mittagessen zu bekommen? Da haben wir für 1,3 Millionen Schüler gerade mal 110 000 Plätze.

(Abg. Schmiedel SPD: 8 %!)

8 % sind es bei Privatschulen, 6 % bei öffentlichen Schulen. Hat sie das Glück nicht, muss sie ihre berufliche Situation wieder verändern. Hat sie dieses Glück, dann kann sie weiter arbeiten. So stellt sich das Kinder- und Familienland Baden-Württemberg für Frauen dar! Genau so ist es!

(Beifall bei der SPD und den Grünen – Abg. Sei- metz CDU: Das ist typische sozialdemokratische Miesmacherei! – Abg. Mappus CDU: Das ist wie zur schlimmsten Sozialistenzeit! Alles Staat!)

Es hat nichts mit Miesmacherei, es hat etwas mit der Realität zu tun.

(Abg. Seimetz CDU: Nein, mit Miesmacherei! – Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU: Und mit selek- tiver Wahrnehmung!)

Zu dem Satz „Ich halte es für skandalös, dass Frauen sich immer noch dafür rechtfertigen müssen, wenn sie sich nach der Elternzeit eine Rückkehr in den Beruf wünschen“, kann ich Sie nur beglückwünschen. Sie sind jetzt in der Mitte der Gesellschaft Baden-Württembergs angekommen. Sie haben die Realität begriffen. Genau so ist es. Sie haben mit dieser Regierungserklärung die Realität begriffen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Brigitte Lösch GRÜNE)

Jetzt kommen wir zu dem, was Sie sonst noch machen wollen. Nehmen wir doch einmal die Sprachförderung. Wir haben seit fünf, sechs, sieben Jahren unsere Anträge zur Sprachförderung gestellt. Wie oft haben wir hier mit unseren Anträgen gefordert: Sprachförderung ab drei muss sein! Die Voraussetzungen für den Erwerb der deutschen Sprachkompetenz muss in den baden-württembergischen Kindergärten ab drei Jahren geschaffen werden. X Anträge waren es! Sie haben sie alle abgelehnt. Sie haben zunächst nicht einmal das Problem erkannt. Dann haben Sie das Problem erkannt und haben gesagt: Wir haben kein Geld.

Jetzt sage ich Ihnen: Wenn Sie nach Frankreich schauen – Sie haben es angesprochen –, dann erkennen Sie doch: Sprache ist nicht alles, aber ohne Sprache ist alles nichts, Herr Mappus. Wenn ich jetzt die Kommentare zur Kenntnis nehme, die wir in letzter Zeit lesen können, dann wird mir klar: Wir haben möglicherweise noch nicht – das gebe ich ja zu – die städtebauliche Situation wie in den großen französischen Städten.

(Abg. Hillebrand CDU: Was heißt „noch nicht“?)

Es gibt Behauptungen, wonach es auch hier in Großstädten zu solchen Gettobildungen kommt. Ich glaube, wir haben diese Situation noch nicht. Deswegen haben wir auch eine Chance. Aber bei uns ist das Hindernis für die Integration die Sprache. Wenn ein Viertel der Kindergartenkinder eines Jahrgangs – 25 000 – nicht Deutsch sprechen oder nicht verstehen, dann ist doch das ein Alarmzeichen. Jedes Jahr geht das weiter. Das sind im Übrigen die 20 %, die dann mit 15 oder 16 Jahren aus der Schule kommen und immer noch nicht Deutsch können. Das müsste Sie doch seit Jahren nachdenklich machen, unabhängig jetzt von den französischen Vorkommnissen. Wir haben immer gesagt: Sorgen wir für Sprachkompetenz. Wir zahlen die Hälfte, und zwar flächendeckend. Das haben Sie immer abgelehnt.

Auch jetzt fangen Sie mit der falschen Methode an. Sie machen das Projekt „Schulreifes Kind“ ab fünf, sechs Jahren, im letzten Kindergartenjahr. Jetzt fangen Sie wieder mit einem Programm von Modellen an.

Ich lese Ihnen einfach einmal vor, welche Modelle es schon gibt, was eigentlich wissenschaftlich erwiesen und in Baden-Württemberg an vielen Stellen auch schon erprobt ist. Gestern stand in der Zeitung: „Frühe Sprachförderung – große Fortschritte“. Es gibt eine Mannheimer Professorin, die mehrere Pilotprojekte in ganz Baden-Württemberg durchgeführt hat zur Frage: Wie schnell können Kinder überhaupt eine Sprache lernen? Ich zitiere:

Die Forschungen der Professorin Tracy haben ergeben, dass ausländische Kinder erstaunlich schnell Deutsch lernen, sofern sie frühzeitig gefördert werden. Migrantenkinder, die im Alter von drei Jahren unterstützt werden, erwerben die Grundstrukturen der Sprache in sechs bis zehn Monaten.

(Zurufe von der SPD)

Sie fangen wieder mit fünf bis sechs Jahren an! Sie nehmen überhaupt nicht die Forschungsergebnisse auf. Ich verstehe nicht, was mit Ihnen los ist.

(Abg. Heiderose Berroth FDP/DVP: Das müssen Sie auch nicht verstehen!)

Warum fangen Sie dabei nicht mit drei Jahren an, wie das schon mit großen Erfolgen praktiziert wird? Das wäre jetzt die Antwort unserer Gesellschaft auch auf das, was in Frankreich passiert. Nichts machen Sie, nichts!

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grü- nen)

Ich lese Ihnen auch noch weiter vor, damit jetzt endlich einmal in der Öffentlichkeit deutlich gemacht wird, um was es geht:

(Abg. Schebesta CDU: Sie haben aber den Orien- tierungsplan nicht gelesen, Herr Kollege!)

Für möglichst frühzeitige Sprachförderung sprechen laut Ansicht der Professorin drei Gründe:

Ich muss das jetzt einfach vorlesen, weil ich denke, vielleicht nehmen Sie es einmal zur Kenntnis.

Zum einen sind die biologischen Voraussetzungen im Alter von drei bis vier Jahren noch gegeben. Bis zu einem Alter von fünf Jahren habe das Gehirn bestimmte Strategien parat, die einfaches Erlernen einer Sprache ermöglichten.

(Abg. Schebesta CDU: Sind die Kinder nicht im Kindergarten? Haben wir da keinen Orientierungs- plan? – Gegenrufe von der SPD – Unruhe)

Genau das haben wir. Toller Zwischenruf! Setzen Sie den Orientierungsplan doch jetzt sofort um! Wir sind das letzte Bundesland, das ihn noch nicht umgesetzt hat. Sie machen jetzt 30 bis 50 Modellversuche.

(Abg. Schebesta CDU: 200 Kindergärten!)

200 Kindergärten ohne Staatszuschuss. – Wissen Sie, wie viel das sind? Das sind 3 %, was Sie an Modellversuchen machen, obwohl die Ergebnisse schon auf dem Tisch sind. Das ist das Ergebnis!

(Beifall bei der SPD und den Grünen)

Sie schließen mit Ihrer Modellideologie, die Sie vor der Landtagswahl unter dem Motto: „Ein bisschen machen wir ja, wir räumen das Thema ab, vor der Wahl machen wir Modelle“, gerade überall verbreiten, in den kommenden Jahren fast 400 000 Kinder aus dem Orientierungsrahmen aus. Die können gar nicht teilnehmen.

(Abg. Capezzuto SPD: Unglaublich!)

Ist Ihnen nicht klar, dass das eine hohe Gefahr für die Integration dargestellt? Das müsste Ihnen doch klar sein. Jetzt gerade wird es Ihnen offensichtlich klar.