Protokoll der Sitzung vom 02.02.2006

Das Wort erhält Herr Abg. Schmiedel.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die sozialdemokratische Partei und auch die SPD-Landtagsfraktion treten entschieden und kraftvoll für ein soziales Europa ein.

(Beifall bei der SPD)

Denn nur ein soziales Europa wird von den Bürgern angenommen, und nur ein Europa, das von den Bürgern angenommen wird, ist ein starkes Europa.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Abg. Hofer FDP/DVP: Das ist schön gesagt! – Abg. Herrmann CDU: Wer hat Ihnen das aufgeschrieben? – Abg. Dr. Scheffold CDU: Wo haben Sie das abgeschrie- ben?)

Deshalb darf die notwendige Öffnung des europäischen Markts für Dienstleistungen nicht zu einem Wettlauf zwischen den einzelnen Staaten um die niedrigsten Standards führen.

Für uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die weitere Öffnung des Binnenmarkts für Dienstleistungen mit drei Grundsätzen verbunden, die für uns unverzichtbar sind:

Erstens: Bei der Erbringung von Dienstleistungen müssen die Arbeits-, Gesundheits- und Lohnbedingungen des Landes gelten, in dem sie erbracht werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dabei muss die Einhaltung durch Stellen desjenigen Staates kontrolliert werden, in dem sie erbracht werden, denn nur so lässt sich Lohn- und Sozialdumping effektiv vermeiden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Zweitens: Hohe Standards beim Umweltschutz dürfen nicht durch eine Öffnung der Dienstleistungsmärkte ausgehöhlt werden. Denn dies würde ja genau zu Wettbewerbsverzerrungen zuungunsten Deutschlands führen und unsere Arbeitsplätze gefährden.

(Abg. Dr. Caroli SPD: Beispiel Trinkwasser!)

Drittens: Dienstleistungen im öffentlichen Interesse wie soziale Dienste, Wasserversorgung oder der öffentliche Rundfunk dürfen nicht schutzlos dem Diktat des Wettbewerbs unterworfen werden.

(Beifall bei der SPD)

Jetzt haben Sie ja, Frau Kollegin Netzhammer, ähnliche Befürchtungen geäußert, vielleicht nicht so deutlich, aber doch in derselben Tendenz.

(Zuruf des Abg. Zeller SPD)

Wer aber diese Gefahren sieht, der muss sich dann auch deutlich zu Wort melden und kann die Geschichte nicht auf die lange Bank schieben und sagen: Jetzt wollen wir noch einmal gutachterlich bewertet haben, ob es Alternativen gibt, und wenn das Gutachten vorliegt, dann werden wir uns auch irgendwie modifiziert dazu äußern. Das ist zu wenig. Die politische Diskussion im Europäischen Parlament findet jetzt statt, und die Entscheidung, ob das Ziellandprinzip oder das Herkunftslandprinzip gelten soll, wird jetzt getroffen. Wenn wir also unsere Interessen wahrnehmen wollen und uns für ein soziales Europa stark machen wollen, dann müssen wir jetzt deutlich sagen, was wir wollen.

(Beifall bei der SPD)

Es ist schade, dass die CDU seit der erstmaligen Beratung im Wirtschaftsausschuss umgefallen ist.

(Abg. Veronika Netzhammer CDU: Wir haben doch gar nichts beschlossen!)

In der erstmaligen Beratung hat der Sprecher der CDU noch laut und deutlich gesagt: Für die CDU ist das Herkunftslandprinzip nicht akzeptabel. Da haben wir gedacht: Wunderbar! Dann lasst uns doch auf dieser Basis eine ge

meinsame Entschließung im Landtag machen. Die findet natürlich mehr Gehör als Entschließungen von einzelnen Fraktionen. Aber es hat sich gezeigt: Wenig Verlass auf diese Position.

Bei der weiteren Beratung wurde dann darauf hingewiesen, dass es ja keinen Spielraum gebe. Der Sprecher der CDU hat dann gesagt, die Vertreterin der Kommission bei der Anhörung habe ausgeführt, dass aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nur das Herkunftslandprinzip infrage komme.

(Abg. Veronika Netzhammer CDU: Das hat sie ja auch gesagt!)

Das ist ein bisschen billig und ein Versteckspiel, wie wir meinen.

(Abg. Veronika Netzhammer CDU: Aber es stimmt!)

Denn Sie wissen genau: Zwei Juristen, drei Meinungen.

(Abg. Dr. Noll FDP/DVP: Wie heute Nachmittag schon einmal! – Abg. Veronika Netzhammer CDU: Deswegen prüfen wir das noch einmal! – Abg. Ho- fer FDP/DVP: Das kann nicht sein! – Abg. Dr. Noll FDP/DVP: Dann muss man sagen, was man politisch will! – Abg. Hofer FDP/DVP: Beleidi- gung der Juristen! Er muss sich entschuldigen! Er muss zurücktreten!)

Ich empfehle Ihnen eine von weiteren Experten vorgelegte Ausarbeitung. Aber das sind jetzt nicht die Experten der Kommission, die ja die Richtlinie auf den Weg gebracht haben, sondern das sind Referenten in der Europa-Abteilung des Bundesministeriums der Finanzen, unseres gemeinsamen Bundesministeriums der Finanzen. Diese kommen klar zu dem Ergebnis, dass man das genau anders sehen kann und dass es jetzt darauf ankommt, in der politischen Diskussion klar zu machen, was man will.

Es besteht die große Gefahr, dass dann, wenn in dieser europäischen Dienstleistungsrichtlinie das Herkunftslandprinzip verankert wird, dies ein Manifest ist für die weitere Entwicklung der Europäischen Union, anhand dessen sich entscheidet, ob der jeweils niedrigste Standard eines Mitgliedslands als Ausgangspunkt und Zielmarke genommen wird, oder ob die historisch gewachsenen, gehobenen Standards der älteren Länder in der Europäischen Union zum Maßstab werden. Es muss darum gehen, dass sich die anderen nach oben entwickeln und wir uns nicht nach unten entwickeln. Deshalb fordern wir Sie auf, unserem klaren Beschluss, der einen klaren Willen für ein soziales Europa zum Ausdruck bringt, und keinem Wischiwaschi zuzustimmen.

(Beifall bei der SPD – Abg. Fischer SPD: Sehr gut!)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Hofer.

(Abg. Boris Palmer GRÜNE: Die Spannung steigt!)

Lieber Herr Kollege Schmiedel, nach dieser Beschimpfung der Juristen sollten Sie sich entweder heute Abend bei mir entschuldigen oder zurücktreten.

(Heiterkeit)

Es gibt zwar drei Juristen mit drei Meinungen, aber es gibt nicht zwei Juristen mit drei Meinungen.

(Abg. Schmiedel SPD: Doch!)

Die Stellungnahmen allerorten, wie sie gerade in den Nationalstaaten, im Bund und in den Ländern abgegeben werden, verfahren ja, wenn man es bei Licht betrachtet, alle ein bisschen nach dem Motto von Radio Eriwan: im Prinzip ja, aber. Im Prinzip wollen alle nicht nur einen freien Warenverkehr, sondern auch einen freien Dienstleistungsverkehr in der EU. Auch die Potenziale, die nach der LissabonAgenda auszuschöpfen sind – Beschäftigung, Wettbewerb, Wachstum; Sie haben die Zahlen genannt –, wollen wir alle. Natürlich sehen wir auch besondere Chancen für die kleinen und mittleren Dienstleistungsbetriebe in Baden-Württemberg, etwa im unternehmensbezogenen Dienstleistungsbereich, wenn man die protektionistischen Schranken abbaut. Im Prinzip also ein klares „Hurra, ja, das wollen wir“.

Nun aber zum Aber. Wir alle wollen zugleich, dass kein Lohn- und Sozialdumping stattfindet. Das wollen wir alle gemeinsam. Und wir wollen alle, dass der hohe Standard des Verbraucherschutzes beibehalten wird. Das wollen wir in Wahlkampfzeiten ganz besonders, und jeder sagt das auch besonders laut, damit es auch jeder hört. Im Übrigen wollen wir natürlich mehr davon profitieren als alle anderen. Dieses prinzipielle Ja beißt sich jedoch mit dem Aber, und da beißt die Maus auch keinen Faden ab.

Deshalb ist in der Tat das Hauptproblem das Herkunftslandprinzip. Das gilt nicht nur für uns. Wenn ich es im „Handelsblatt“ richtig gelesen habe, ist das gegenwärtig auch die Diskussion in der Bundesregierung. Die müssen ja auch bis zum 8. Februar eine Erklärung abgeben; ich bin gespannt – möglicherweise geben die die gleiche Erklärung ab wie wir. Das wäre natürlich gerade jetzt dumm für Sie. Dass das Herkunftslandprinzip in der ursprünglichen Form nicht zu halten ist, wissen wir alle. Es ist ja auch längst durch zahlreiche Ausnahmen abgeschwächt worden. Ich will sie nicht im Einzelnen aufführen. Sie sind in der Pressemitteilung, die nach der Sitzung des Wirtschaftsausschusses hinausging, aufgelistet. Wir haben im Ausschuss sogar noch ein paar hinzugefügt, vor allem auch die Beteiligung der EG etwa an der Finanzierung der einheitlichen Ansprechpartner. Vor allem – das kommt ein bisschen zu kurz – haben wir eine Besonderheit eingebaut, nämlich eine Stufenlösung, eine gewisse Einschränkung des horizontalen Prinzips, unter dem man alles gleichzeitig angeht. Ob es rechtlich möglich ist, zu sagen: „Lasst uns erst einmal die technischen, unternehmensbezogenen Dienstleistungen angehen; die sind einfacher zu machen. Da profitieren wir in Baden-Württemberg auch am meisten. Dann werden wir es evaluieren, und dann schauen wir einmal,“ ist auch eine Frage. Das wäre eigentlich der eleganteste und sicherste Schutz. Nur, ob das rechtlich möglich ist, kann ich Ihnen auch nicht sagen.

Dann erst würden wir an die sensiblen Dienstleistungen gehen. Beispiele hierfür kennen Sie alle: Gesundheit, Tarifangelegenheiten und, und, und; Daseinsvorsorge, allgemeine wirtschaftliche Leistungen usw.

(Abg. Zeller SPD: Für was sind Sie jetzt? Was wol- len Sie?)

Ich bin ja noch nicht ganz fertig mit meinen Ausführungen. Hören Sie doch zu. Es freut mich, dass Sie daran interessiert sind. Ich sage es Ihnen auch gern.

Die Harmonisierung muss parallel dazu fortgesetzt werden. Das ist keine Frage. Da kann man nicht sagen: Das machen wir gar nicht mehr.

Es bleibt nun die offene Frage, ob man das Herkunftslandprinzip noch modifizieren oder ganz aufheben kann, etwa durch ein Ziellandprinzip mit Ausnahmen oder dadurch, wie vorgeschlagen, dass man Zugang und Ausübung trennt. Das hat ja die Berichterstatterin des Binnenmarktausschusses vorgeschlagen. Das könnte man sich überlegen.

Nun zu der Frage, was man tun soll. Nach meiner Meinung muss man in der Tat sagen: Wir bitten, das genauestens zu überprüfen. Denn wenn es rechtlich nicht möglich ist, Herr Schmiedel, und wenn es zu keinem Konsens und damit zu keiner Dienstleistungsrichtlinie kommt, dann fällt die ganze Regelungskompetenz an den Europäischen Gerichtshof, und das können Sie als Sozialdemokraten gerade nicht wollen. Dann kriegen Sie eine Regelungskompetenz, die schon bisher ganz eindeutig vorgibt: Ziellandprinzip geht nicht. Das hat der Europäische Gerichtshof gesagt.

(Zurufe der Abg. Schmiedel und Ruth Wecken- mann SPD)

Deshalb denke ich, man sollte insbesondere noch einmal die Stufenlösung ansprechen. Auf die würde ich ganz eindeutig setzen. Das scheint nach meiner Kenntnis rechtlich noch am ehesten möglich zu sein. Nirgendwo ist festgeschrieben, dass man alles horizontal auf einmal anfangen muss. Das geht schon aus Gründen der Arbeitsökonomie nicht. Darüber hinaus möge man das Herkunftslandprinzip auf Alternativen überprüfen. Das ist ein Vorschlag. Sie brauchen ihn nicht zu teilen, aber es wäre mir recht, wenn Sie ihn, Herr Zeller, auch zur Kenntnis genommen hätten.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU)