Protokoll der Sitzung vom 15.05.2002

(Beifall bei der CDU Zurufe)

Es gibt nämlich solche und solche. Das möchte ich ausdrücklich sagen. Ich lasse mich da in jeder Frage beim Wort nehmen. Das ist meine Grundüberzeugung.

Damit bin ich beim entscheidenden Punkt, beim Subsidiaritätsprinzip. Von Herrn Pfister und anderen ist zu Recht gesagt worden: Das steht ja in den Verträgen. Es ist ein riesiger Fortschritt, dass es in den Verträgen steht. Das haben die deutschen Länder erreicht, und zwar nur deshalb, weil sich alle 16 einig gewesen sind. Darin liegt auch das Geheimnis, wenn wir auf europäischer Ebene überhaupt etwas durchsetzen wollen: dass wir hier in diesem Parlament einig sind und dass die 16 deutschen Länder einig sind.

Die 16 deutschen Länder haben der Bundesregierung vor den Vertragsverhandlungen von Maastricht vier Ziele genannt, die erreicht werden müssen. Der Bundeskanzler hat sich damals entschieden dafür eingesetzt.

Das erste war die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips in den Verträgen der Gemeinschaft. Das ist in Maastricht geschehen und dann im nachfolgenden Vertrag von Amsterdam noch einmal konkretisiert worden.

Das zweite war ein Ausschuss der Regionen. Er ist gebildet worden und besteht jetzt seit zehn Jahren.

Das dritte war, dass in allen Fragen, in denen Länderkompetenzen berührt sind, am europäischen Ratstisch nicht ein Bundesminister sitzt, sondern ein Vertreter der Länder. Auch das ist realisiert worden.

Das vierte Ziel ist noch nicht realisiert und deswegen heute auch in der Debatte angemahnt worden, nämlich ein Klagerecht der Länder oder, wie wir heute sagen, ein selbstständiges Klagerecht der Regionen mit Gesetzgebungsbefugnis beim Europäischen Gerichtshof, wenn ihre Rechte nach dem Subsidiaritätsprinzip verletzt sind.

Jetzt geht es aber darum, dass wir das Subsidiaritätsprinzip nicht nur in Sonntagsreden und in einer Grundsatzbestimmung in den Verträgen verankert haben erfreulicherweise setzt es sich in ganz Europa durch; das ist auch noch nicht lange der Fall , sondern jetzt kommt es darauf an, dass das Subsidiaritätsprinzip konkret angewandt wird.

Was bedeutet das Subsidiaritätsprinzip? Das Subsidiaritätsprinzip sagt: Das ursprüngliche Recht liegt bei der kleinsten Einheit, in unserem Fall also bei den Städten und Gemeinden. Wenn man die europäische Geschichte betrachtet, dann sieht man: Die europäische Geschichte war über Jahrhunderte eine Geschichte der Städte. Doch bis zur Stunde ist das Selbstverwaltungsrecht der Städte und Gemeinden in keinem europäischen Vertrag auch nur genannt oder verankert. Wir müssen von den Städten ausgehen.

Dann kommen bei uns die Kreise. Danach kommen die Regionen, die Länder, die Kantone. Dann kommt der Bund,

(Ministerpräsident Teufel)

und dann kommt Europa. Derjenige, der Aufgaben ansiedelt, ist beweispflichtig dafür, dass die Aufgaben nicht auf einer niedrigeren Ebene erledigt werden können, sondern zwingend auf einer höheren Ebene erledigt werden müssen, weil die niedrigere Ebene überfordert wäre, diese Aufgaben richtig und bürgergerecht wahrzunehmen.

(Beifall der Abg. Beate Fauser FDP/DVP)

So muss man Europa von unten nach oben denken und darf Europa nicht von oben nach unten den Bürgern über den Kopf stülpen.

Nun ist mir noch eines sehr wichtig. Das Subsidiaritätsprinzip ist etwas ganz anderes als Dezentralisierung. Dezentralisierung geht von einem Denken von oben nach unten aus und gibt den unteren Ebenen die eine oder andere Zuständigkeit. Nein, umgekehrt ist es: Das Recht liegt bei den vertragsschließenden Regierungen, und das Recht liegt bei den jeweils untersten Einheiten.

Wenden wir das jetzt einmal konkret mit der Erfahrung der deutschen Situation an. Deswegen habe ich die deutsche Situation geschildert. Die Zentralisierung ist fast natürlich. Stellen Sie sich selbst einmal die Frage: Woran liegt es, dass wir in Deutschland und in anderen Mitgliedsländern der Europäischen Union Monat für Monat in den Umfragen, die die EU-Kommission macht, früher Zustimmungen für Europa von 70 % bis 80 % hatten, heute aber bei rund 50 % liegen, genauso, wie die Volksabstimmungen in anderen Ländern ausgegangen sind? Dort lag die Zustimmung teilweise knapp über 50 % wie in Frankreich 52 % und damit ein positives Ergebnis , teilweise bei 48 % und einem negativen Volksabstimmungsergebnis wie etwa in Irland.

Woran liegt das? Es liegt nicht daran, dass die Bürger nicht begreifen würden, was es bedeutet, dass wir seit 50 und mehr Jahren in Frieden leben, sondern es liegt daran, dass sie glauben, dass sich die europäische Ebene auf einmal in Alltagsquisquilien einmischt, in denen bei uns nicht die nationale und nicht die Landesregierung, sondern oft eine untere Verwaltungsbehörde oder eine Stadt zuständig ist. Deswegen muss der Zuständigkeitskatalog mit Grundsatzfragen so gestaltet sein, dass die Aufgaben, die wirklich über die Kraft des Nationalstaats hinausgehen, nach Europa müssen. Auch ich habe seit vielen Jahren Daniel Bell zitiert. Es müssen zusätzliche Aufgaben nach Europa. Zusätzliche!

Im Zusammenhang mit der Krise auf dem Balkan habe ich wenige Aussagen so häufig gehört wie den Satz, auf dem Balkan hätte Europa versagt. Ich habe dem immer widersprochen und gesagt: Auf dem Balkan hat nicht Europa versagt, sondern auf dem Balkan haben die europäischen Nationalstaaten versagt. Denn Europa hat ja noch gar keine Zuständigkeit in der Außenpolitik und in der Sicherheitspolitik.

Schauen Sie sich einmal an, wie unglaublich „überzeugend und durchschlagend“ es ist, wenn in einem Krisenherd in Bosnien-Herzegowina so, wie es jetzt geschehen ist drei europäische Außenminister gemeinsam ankommen: derjenige, der gerade Ratsvorsitzender ist, derjenige, der es im letzten halben Jahr war, und derjenige, der es im nächs

ten halben Jahr sein wird. Das ist eine „sehr überzeugende“ Präsentation, die den früheren amerikanischen Außenminister Kissinger veranlasst hat, zu fragen, welches eigentlich die Telefonnummer Europas sei. Das ist doch die Situation.

(Vereinzelt Heiterkeit)

Schauen Sie sich einmal an, was Europa seit dem 11. September in der Terrorismusbekämpfung bietet. Oder schauen Sie sich einmal an, welches der Beitrag Europas zur Lösung des Konflikts in unserem Vorhof im Nahen Osten ist.

Wir müssen Europa also stärken. Wir brauchen ein starkes Europa. Aber ein starkes Europa ist ein Europa, das die richtigen Aufgaben wahrnimmt und nicht Aufgaben, die eine andere Ebene weit besser, billiger und bürgernäher wahrnehmen könnte.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP sowie des Abg. Kretschmann GRÜNE)

Welche Aufgaben müssen nach Europa? Erstens zunehmend Aufgaben der Außenpolitik, zweitens zunehmend Aufgaben der Sicherheitspolitik, drittens natürlich, wenn man eine gemeinsame Währung hat, die Währungspolitik, viertens selbstverständlich die Aufgaben des Gemeinsamen Marktes und der Wettbewerbspolitik, wenn man einen gemeinsamen Markt hat, und fünftens selbstverständlich die Außenhandelspolitik, wenn man weltweit als eine Wirtschaftsgroßmacht im Wettbewerb vor allem mit den Ländern der Triade auftreten will.

Ferner gehört, glaube ich, zusätzlich grenzüberschreitende Umweltpolitik dazu. Das ist meine Formulierung. Es ist logisch, dass man am Rhein oder an der Donau nicht mit nationalen Grenzwerten arbeiten kann, sondern dort geht es in der Gewässerreinhaltung genauso wie in der Luftreinhaltung um Grenzwerte, die gemeinsam festgelegt werden.

Großforschungspolitik. Schauen Sie sich einmal an, welche Schwierigkeiten wir haben, wenn wir alle drei Jahre in Baden-Württemberg einen Höchstleistungsrechner kaufen, und nach drei Jahren ist er weit, weit überholt. Es wird immer größere Projekte im Bereich der Forschungspolitik geben, die national nicht mehr bewältigt werden können. Es geht also nicht um die ganze Forschungspolitik, nicht um die ganze Umweltpolitik das alles ist richtig gesagt worden , sondern wirklich um grenzüberschreitende Probleme aus diesen Feldern. Das sind die Kernpunkte, die nach Europa müssen.

Jetzt komme ich wiederum zur Erfahrung in Deutschland und zur Erfahrung in Europa. Die Erfahrung in Deutschland habe ich geschildert. Jetzt schildere ich die Erfahrung in Europa.

Warum ist trotz einer Einzelfallermächtigung in den seitherigen europäischen Verträgen, also trotz einer klaren Regelung immer mehr nach Europa gegangen? Ich sehe drei Einfallstore dafür.

Das Einfallstor Nummer 1 ist von Herrn Kollegen Oettinger richtig geschildert worden. Manche haben ihn, scheint mir, aber bewusst missverstanden. Es ist völlig richtig von

(Ministerpräsident Teufel)

ihm geschildert worden: Die Europäische Union hat Kompetenzen immer mit der Begründung an sich gezogen, es gehe um Fragen des Wettbewerbs und des Gemeinsamen Marktes. Dann kann in einem Vertrag lange stehen, Gesundheitswesen sei Sache der Mitgliedsstaaten. Dann kann in einem Vertrag lange stehen, kommunale Selbstverwaltung sei Sache der Städte und Gemeinden. Dann kann in einem Vertrag lange stehen, Medien seien Teil der Kulturhoheit und deswegen nicht Sache der Europäischen Union. In all diese Bereiche hat die Europäische Union eingegriffen, und zwar immer mit der Begründung Wettbewerb und Binnenmarkt.

Das zweite Einfallstor sind allgemeine Zielformulierungen in den Verträgen. Immer dann, wenn man einen Grundsatzvertrag macht, formuliert man auch eine Präambel. Darin kommen sehr schmückende Begriffe vor, dass man sich um die Zukunft und das Wohl der Bürger sorgen müsse. Mit einer solchen Begründung kann man auch jede einzelne politische Frage an sich ziehen.

Das dritte Einfallstor war immer, dass in einem Bereich, für den man nicht zuständig ist, Geld zur Verfügung gestellt wird. Dann vergisst jeder alle Grundsätze. Das gilt in Deutschland, wenn es um das Verhältnis zwischen Bund und Ländern geht, oder in Europa, wenn es um das Verhältnis der Mitgliedsstaaten zur Europäischen Union geht. Dann sagt man: „Jawohl. Grundsätzlich ist das nicht richtig, aber das Geld nehmen wir an.“

Wenn man nun diese deutschen und diese europäischen Erfahrungen mit einer Einbahnstraße von Zuständigkeitsverlagerungen nach oben hat, dann muss man sich doch Gedanken machen. Ich liege überhaupt nicht fest, aber ich mache mir Gedanken: Wie können zusätzliche Sicherungen eingebaut werden? Eine Überlegung ist: Es darf nicht nur eine Liste der Zuständigkeiten geben. Wenn der Begriff „Katalog“ aufregend ist, dann verzichte ich gern auf den Begriff „Katalog“. Es kommt mir auf den Inhalt an. Es muss eine Liste geben, oder es muss, wenn es keine Liste geben darf, zusätzlich zur Liste der Zuständigkeiten der europäischen Ebene eine Ausnahmeliste darüber geben, was die europäische Ebene auf gar keinen Fall als ihre Aufgabe betrachten darf.

Dazu gehört ich sage das jetzt nur beispielhaft, nicht abschließend beispielsweise die Kulturhoheit. Dazu gehören Schulen. Dazu gehört kommunale Daseinsvorsorge. Dazu gehört Sportförderung, und dazu gehört Tourismusförderung. Das alles sind Einzelbereiche, die doch nicht auf der europäischen Ebene angesiedelt werden müssen. Was muss sich die europäische Ebene um Notariatsgebühren eines selbstständigen Notariatswesens in Baden-Württemberg kümmern? Das Beispiel ist doch völlig zu Recht angesprochen worden.

Nun habe ich die FFH-Richtlinie angesprochen. Auch, damit da keine Missverständnisse entstehen, sage ich: Ich bin selbstverständlich der Meinung, dass es auf europäischer Ebene Umweltzuständigkeiten geben muss und dass es auch gemeinsame Richtwerte für Felder geben muss, die ich vorhin angesprochen habe, wie Luftreinhaltung oder Abwasserbeseitigung. Aber ich frage mich: Ist es denn

wirklich sinnvoll, auf der europäischen Ebene eine parzellenscharfe Abgrenzung von Schutzgebieten vorzunehmen?

(Lebhafter Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Das ist das Beispiel, das ich angesprochen habe. Wer das missverstehen will, sagt sofort: „Der will die Umweltschutzzuständigkeiten oder die Naturschutzzuständigkeiten der europäischen Ebene wieder nehmen.“ Nein, ich habe dezidiert die parzellenscharfe Abgrenzung der FFHSchutzgebiete angesprochen. Ich glaube, das ist ein richtiges Thema.

In Deutschland kümmert sich um die Abgrenzung eines Naturschutzgebiets oder eines Wasserschutzgebiets oder eines Landschaftsschutzgebiets nicht der Bund, nicht die Landesregierung, nicht ein Landesministerium und nicht einmal das Regierungspräsidium das dient nur zur Genehmigung , sondern das macht die untere Verwaltungsbehörde. Und das soll auf europäischer Ebene angesiedelt werden!

(Beifall bei der CDU)

Das kann doch überhaupt nur zum totalen Verdruss bei Bürgern führen.

Die Beispiele kann doch jeder fortsetzen. Warum sind denn die Handwerker so enttäuscht? Weil sie im Einzelfall die gleichen Erfahrungen machen. Muss denn die europäische Ebene alles aufgreifen, was gewachsen ist, was zum Teil in Jahrhunderten gewachsen ist und sich in einem Land bewährt hat? Nein, ich glaube, alles Uniforme ist uneuropäisch.

Wenn Europa aus 25 Staaten besteht und aus noch sehr viel mehr Regionen und Landschaften, dann muss es die ganz und gar unterschiedliche Geschichte, Mentalität, Sprache der Menschen achten und darf sich wirklich nur um die Aufgaben kümmern, die auf der europäischen Ebene angesiedelt werden müssen. Das ist keine Defensivhaltung ich sage es ganz deutlich , sondern meine Meinung ist das ist auch nicht nur die Sicht eines Landespolitikers in Deutschland : Wer will, dass das europäische Projekt nicht scheitert, sondern bei den Bürgern Zustimmung findet, der muss hier klare Regelungen schaffen.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Deswegen sage ich übrigens auch einvernehmlich mit dem, was andere gesagt haben : Es muss auch etwas darüber drinstehen, was Europa nicht darf.

Jetzt kommt der dritte Punkt: Wie kontrolliert man es? Wieder mit den Erfahrungen von Europa und Deutschland: Ganz klar ist, dass so, wie ein Land wie Deutschland zum Bundesverfassungsgericht gehen kann, wenn es in seinen Rechten verletzt ist, genauso jeder, der in seinen Rechten verletzt ist, der sagt, das Subsidiaritätsprinzip sei nicht beachtet, die Kompetenzordnung sei nicht beachtet, zum Europäischen Gerichtshof gehen kann. Das ist selbstverständlich. Aber es muss erreicht werden, dass das nicht nur die Mitgliedsstaaten dürfen, sondern dass das beispielsweise auch die Länder dürfen. Dann kann auch der Landtag von

(Ministerpräsident Teufel)

Baden-Württemberg beschließen: Wir gehen mit einer Klage vor den Europäischen Gerichtshof.