Protokoll der Sitzung vom 16.10.2002

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Kernfrage, um die es heute bei dieser Debatte geht, um die es geht, wenn wir nach einem Handlungsbedarf fragen und zu Recht fragen, ist doch die: Darf man einen Menschen, der entweder mehrere schwere Delikte oder ein besonders schweres Delikt begangen hat und bei dem uns die Leute, die ihn im Vollzug behandeln, die mit ihm zu tun haben, und außerdem zwei unabhängige Gutachter sagen, das werde in Sichtweite wieder passieren, einfach vor die Mauer stellen, wenn die Strafe abgelaufen ist? Das ist die Kernfrage, die übrigens diejenigen, die damit direkt zu tun haben, durchaus auch einmal abends noch persönlich beschäftigt. Kann man das machen, wenn man weiß, dass wieder etwas passieren wird? Meine Damen und Herren, ich glaube, diese Frage zu stellen heißt sie beantworten.

Ich wehre mich auch ein bisschen gegen den Eindruck, der manchmal erweckt wird, als gehe es um eine allgemeine Verschärfungsdiskussion, als würden wir antreten und sagen: Wenn man nur ordentlich an der Schraube mit schärferen Gesetzen dreht, dann wird irgendetwas besser. Es geht nicht um eine solche allgemeine Aufrüstungsdebatte, sage ich jetzt einmal, sondern es geht darum, dass wir sehr konkrete Situationen haben, in denen das passiert, was ich Ihnen eben geschildert habe, und wo wir eine Rechtsgrundlage brauchen, um in diesen Fällen handlungsfähig zu sein.

(Beifall bei der FDP/DVP und des Abg. Dr. Reinhart CDU)

Das heißt, wir müssen eine Handlungsgrundlage haben, um bei einem sehr eng begrenzten Kreis von rückfallbedrohten Tätern handeln zu können. Handeln heißt, sie auf Sicht festhalten und therapieren zu können, bis man einen Punkt erreicht hat, wo man mit einiger Wahrscheinlichkeit sagen kann: Es passiert nichts mehr. Es darf also nicht gerade umgekehrt sein, dass wir klar vorhersehen, dass wieder etwas passiert. Das ist die Realität in diesen Fällen.

Meine Damen und Herren, klar ist, wenn ich von Vorhersehbarkeit gesprochen habe, dass immer Fehler gemacht werden. Ich sage das auch, weil das in der Debatte als Argument kommt: Wo Menschen arbeiten, werden Fehler gemacht, auch in der Einschätzung. Aber ich möchte Ihnen heute auch ganz klar sagen, dass ich schon dafür bin, eher einmal in einem Einzelfall zu riskieren, einen Täter aus diesem Kreis mit vorangegangenen schweren Taten, mit absolut negativer Prognose festzuhalten, auch wenn theoretisch nichts passiert wäre – in Klammern: wer kann uns das sagen? –, als dass wir umgekehrt ein Risiko für Familien in Baden-Württemberg und anderswo eingehen, deren Leben wir zerstören, weil wir nämlich wissen, dass tatsächlich wieder etwas passieren wird. Das darf man nicht machen.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU)

Das Ziel ist klar formuliert. Deswegen haben ich und andere jahrelang beim Bund gekämpft, bis man im Wahlkampf spät – für meine Begriffe auch halbherzig – reagiert hat und ein Gesetz gemacht hat. Ich werde darauf noch zu sprechen kommen. Man hat einen Schritt getan, aber auch erst, nachdem wir im Land ein Gesetz beschlossen hatten, und zwar bundesweit einmalig, lieber Herr Bebber, weil wir gesagt haben: Wenn nicht der Bund, was besser wäre und was ich bis heute für besser halte, handelt, handeln eben wir, weil nichts anderes übrig bleibt. Diesem Gesetz haben Sie nicht zugestimmt, weil Sie verfassungsrechtliche Bedenken haben. Es ist sehr freundlich, dass Sie mich jetzt auf die Kompetenz des Landes hinweisen; aber eben diese Kompetenz haben Sie damals bezweifelt, und Sie haben das Gesetz abgelehnt.

(Abg. Bebber SPD: Das haben wir nicht bezweifelt! Das stimmt doch überhaupt nicht! – Gegenruf des Abg. Blenke CDU: Er sagt genau das Gegenteil wie vor einem Jahr! – Abg. Bebber SPD: Das ist jetzt ein starkes Stück! Das ist doch nachlesbar!)

Natürlich, klar. Sie haben sich damals enthalten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der FDP/ DVP)

Wir haben dieses Gesetz gemacht. Gott sei Dank haben wir es gemacht. Jetzt ist die Rede davon, dass dieses badenwürttembergische Gesetz noch in keinem einzigen Fall in der Weise Anwendung gefunden hätte, dass wir aufgrund dieses Gesetzes jemanden festgehalten hätten. Das stimmt; aber Sie müssen auch zunächst einmal dazusagen, dass vier bis fünf weitere Länder das Gesetz wortgleich übernommen haben, und dort gibt es Anordnungen von Fällen. Ich sage Ihnen offen: Ich war über die eine oder andere Entscheidung auch überrascht. Da wird man möglicherweise bei dem

(Minister Dr. Goll)

Gesetz irgendwann einmal nachbessern müssen. Aber darauf kommt es jetzt gar nicht an, sondern es kommt auf etwas ganz anderes an. Dieses Gesetz hat seine Wirkung natürlich schon längst entfaltet, weil es keinen therapieunwilligen Täter mehr gibt. Sie müssen sich einmal überlegen: Ein Gesetz wirkt natürlich auch dadurch, dass es als Drohung über den Betroffenen hängt. Schauen Sie sich doch einmal die Urteile an. Da wurde die richterliche Entscheidung zum Beispiel dadurch beeinflusst, dass einer auf einmal sagt: „Jetzt mache ich eine Therapie“, der das vorher niemals gemacht hätte.

Ich will das einmal zuspitzen. Wenn Sie die Therapie haben wollen, die Sie fordern, dann brauchen Sie ein solches Gesetz; denn vorher hatten wir reihenweise Fälle von Tätern, die gesagt haben: „Ich mache Endstrafe, ich brauche keine Therapie.“ Es gab sogar Fälle, wo Täter gesagt haben: „Wenn ich herauskomme, mache ich wieder etwas.“ Das ist passiert. Diese Fälle haben wir in Baden-Württemberg nicht mehr,

(Abg. Oelmayer GRÜNE: Haben Sie auch die Thera- pieplätze?)

weil jeder weiß: Wenn er sich im Vollzug nicht ein Stück weit darauf einstellt, sich zur Tat bekennt und therapiebereit ist, drohen ihm die Konsequenzen des baden-württembergischen Straftäter-Unterbringungsgesetzes. Insofern ist es wirklich so, dass der Gaul am Schwanz aufgezäumt wird, wenn man sagt, dieses Gesetz würde nicht wirken. Das Gegenteil ist der Fall.

Aber es gibt Lücken. Da haben Sie Recht. Es gibt bei den jetzigen beiden Regelungen von Bund und Land Lücken und Schwächen, die wir nicht so lassen sollten. Diese Lücken und Schwächen wollen wir heute thematisieren, vor allem anlässlich dieses furchtbaren Falles bei Kuchen.

Wenn ich zwischendurch schaue, welche Signale dazu bisher aus Berlin kommen, muss ich natürlich sagen: Das ist kläglich. Sie wissen genau, wie die Lage im Moment ist. Die SPD-Bundestagsfraktion in Gestalt ihres rechtspolitischen Sprechers Hartenbach verweist uns auf die Länderkompetenz, und die Grünen sagen: Was die Länder machen, ist verfassungswidrig. Das ist im Moment die rot-grüne Handlungsfähigkeit in Berlin.

Jetzt haben Sie druckfrisch in Ihre Koalitionsvereinbarung hineingeschrieben, Sie wollten den Schutz vor Sexualstraftaten verbessern. Ich kann Ihnen sagen: Wir wissen, wie man das macht. Das geht nämlich. Und es ist gar nicht so schwierig, wenn wir nur einmal die Frage stellen: Was muss passieren?

Das Erste, was passieren muss, ist, dass aus der bundesrechtlichen Regelung der Vorbehalt herausgenommen wird, weil die jetzige Vorbehaltslösung, nach der der Vorbehalt schon im Urteil gemacht werden muss, natürlich ganz große Tätergruppen ohne eine nachvollziehbare Begründung aus der Anwendbarkeit herausnimmt. All die, die jetzt einsitzen und in den kommenden zehn Jahren, sage ich einmal, als gefährlich entlassen werden, sind von dieser bundesrechtlichen Regelung völlig unberührt.

Das gilt übrigens auch für diejenigen, bei denen sich die Gefährlichkeit erst im Vollzug herausstellt. Das war eine der

Gruppen, auf die wir gerade mit dem Landesgesetz zielten. Wenn die Gefährlichkeit erst später erkannt wird, hilft uns das Bundesgesetz nicht. Das hat mittlerweile auch der Deutsche Richterbund erkannt. Der sieht das mittlerweile genauso. Es sollte doch zu denken geben, dass der Deutsche Richterbund in Gestalt seines Vorsitzenden klar die gleiche Position einnimmt.

Nun kommt natürlich wie immer, meine Damen und Herren, das Argument des Verfassungsrechts. Ich habe noch nie eine Debatte geführt, in der nicht jemand gesagt hat, das gehe nicht, weil es verfassungswidrig sei. Jetzt denke ich aber einmal von hinten her. Wenn wir es schaffen, den Tierschutz im Grundgesetz zu verankern, sollten wir es, glaube ich, auch schaffen, den Schutz von Kindern und Frauen verfassungsrechtlich abzusichern.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU)

Nach meiner Meinung ist übrigens gar keine Grundgesetzänderung notwendig. Aber wenn jemand Angst hätte, haben wir doch die Zweidrittelmehrheit. Wir bräuchten theoretisch zum Beispiel bloß die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit deutlicher im Grundgesetz zu verankern. Wenn ich Ihren Worten folge, dass Sie etwas tun wollen, haben wir die entsprechende Mehrheit. Aber ich glaube nicht, dass es nötig ist, sondern ich halte das in dem Fall wieder für das typische Totschlagargument, dass alles in Ehrfurcht erstarrt, wenn gesagt wird: Das geht aufgrund des Verfassungsrechts nicht. Das ist eine Scheindebatte.

(Abg. Oelmayer GRÜNE: Was soll das Totschlag- argument?)

Es sollte also der Vorbehalt weg.

Zweitens sollten die Ersttäter in bestimmten Fällen einbezogen werden. Es ist bei einer besonders schweren Tat wie zum Beispiel dem dreifachen Mord, also der Vortat im Fall Kuchen, nicht vermittelbar und nicht verständlich, zu sagen: Wir nehmen Ersttäter generell aus und warten auf jeden Fall das zweite schwere Delikt ab. Das kann man bei sehr schweren Delikten nicht tun. Darum würde ich die Voraussetzungen so fassen: Wenn es mehrere schwere Delikte gibt oder ein besonders schweres Delikt, muss man über ein längeres Festhalten nachdenken dürfen.

Genauso gilt das natürlich für die Heranwachsenden. Auch ich will den Bedürfnissen Jugendlicher und Heranwachsender Rechnung tragen. Wir sind in Baden-Württemberg auch an anderer Stelle dabei, neue Wege zu gehen, wo das nötig ist, um die Jugendlichen von Straftaten abzuhalten, präventiv zu wirken, um zu verhindern, dass es schlimmer wird. Aber auf der anderen Seite stelle ich einmal die Frage: Wenn jemand nach zehn Jahren Jugendstrafe im Alter von 30 Jahren entlassen wird, warum verbieten wir uns dann, auch nur zu fragen, ob wir die Allgemeinheit schützen können, nur weil dieser Mensch gerade im Alter zwischen 18 und 21 Jahren nach dem JGG verurteilt worden ist? Es ist doch bei einem späteren Betrachtungszeitpunkt nicht mehr entscheidend, ob er zehn Jahre vorher nach Jugendstrafrecht oder Erwachsenenstrafrecht bestraft worden ist. Deswegen bin ich dafür, dass man auch Heranwachsende in diese Regelung einbeziehen kann.

(Minister Dr. Goll)

Ebenso spreche ich mich schon länger generell dafür aus – da haben Sie Recht, Herr Oelmayer –, dass es für 18- bis 21Jährige schlicht und einfach ein falsches Signal ist, sie nach dem Jugendstrafrecht zu beurteilen. Sie wissen, dass jetzt im Jugendgerichtsgesetz steht: Grundsätzlich gilt das Erwachsenenstrafrecht, im Ausnahmefall das Jugendstrafrecht. Das hält man seit Jahrzehnten für vernünftig. Aber die Praxis ist genau umgekehrt.

(Abg. Oelmayer GRÜNE: Es gibt eben unabhängige Gerichte!)

Die Praxis sieht so aus, dass gerade bei den Delikten gegen Leib, Leben und sexuelle Selbstbestimmung über 90 % der jungen Leute zwischen 18 und 21 Jahren nach dem Jugendstrafrecht beurteilt werden. Man behandelt sie alle als unreif. Da frage ich mich manchmal: Wann hört das auf?

(Abg. Oelmayer GRÜNE: Was wollen Sie denn da- mit sagen? – Abg. Drexler SPD: Was sollen die Richter machen?)

Ich kenne auch 30- und 40-jährige Täter, die Entwicklungsdefizite haben. Sie finden keine Grenze, wenn Sie nicht eine klare Grenze ziehen und sagen: Mit 18 Jahren ist bei uns jemand erwachsen. Dann kann er wählen. Dann kann er ein Auto kaufen und ein Auto fahren. Dann ist er auch strafrechtlich verantwortlich.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Richtig!)

Wenn man diesen Grundsatz nicht wieder herstellt, gibt man den Jugendlichen jedenfalls bei den leichteren Taten falsche Signale, und bei den schwereren können Sie nicht angemessen reagieren.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Jetzt sind wir bei Ihrem Hinweis, dass diese Regelung in dem Fall, der sich in Kuchen ereignet hat, nicht geholfen hätte. Das stimmt natürlich nicht. Wenn man auf Bundesebene das gemacht hätte, was ich Ihnen jetzt vorgeschlagen habe, dann hätte dieser Täter zunächst einmal mit absoluter Sicherheit lebenslänglich bekommen – mit der Möglichkeit anschließender Sicherungsverwahrung. Hier haben wir von der Reaktion her natürlich ein völlig anderes Bild.

Aber wenn ich jetzt abschließend in die politische Landschaft schaue, dann macht mir natürlich Sorge, dass die Bundesregierung – schon die alte Bundesregierung, aber die neue hat die gleiche Farbe – ein Gutachten der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen bestellt hat – sie hat es mitfinanziert –, in dem – da werden Sie staunen – genau das Gegenteil steht. Darin steht zum Beispiel, dass das Jugendstrafrecht bis 24 Jahre ausgedehnt werden soll.

(Abg. Beate Fauser FDP/DVP: Hört, hört!)

Darin sagt man vorsichtshalber, dass auch auf die Jugendlichen selbst keine Höchststrafe mehr von zehn Jahren, sondern nur noch eine Höchststrafe von fünf Jahren anwendbar sein soll. Das geht in genau die umgekehrte Richtung.

Da steht zum Beispiel auch drin, dass man solche Delikte wie Schwarzfahren und Ladendiebstahl aus der Anwendung

des Strafgesetzbuchs herausnehmen solle. Ich frage mich, wann man mit diesem alten und gefährlichen Unsinn endlich aufhört.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU)

Jetzt lese ich mit Interesse – ich komme darauf zurück – in der neuen Koalitionsvereinbarung, die Alltagskriminalität solle bekämpft werden und es solle zu einem verbesserten Schutz vor Sexualstraftaten kommen. Ich habe Ihnen gerade eben gesagt – auch andere Redner haben das getan –, was man machen kann. Man muss nur Ja dazu sagen. Man kann darüber diskutieren, ob einem das gefällt oder nicht gefällt. Aber man kann nicht darüber diskutieren, dass das einen verbesserten Schutz bedeuten würde. Sie stehen, glaube ich, schon in der Situation, dass Sie, wenn Sie etwas dieser Art nicht wollen, sagen müssen, warum Sie das nicht wollen und warum Sie diesen Weg des Handelns nicht beschreiten.

Ich würde diesen Weg gern zusammen mit dem Deutschen Richterbund und mit Ihnen gehen. Ich bin gespannt, ob es sich bei diesen Äußerungen in Ihrer neuen Koalitionsvereinbarung nur um hohle Erklärungen handelt. Ich habe in der Debatte der letzten Jahre leider mehrfach erleben müssen, dass man irgendetwas aufs Papier schreibt, um dem Handlungsdruck auszuweichen. Aber dieser Handlungsdruck ist nach meiner Überzeugung begründet. Man muss im Sinne der potenziellen Opfer etwas tun. Deswegen geht mein Appell an diese Seite des Hauses, das nun mitzutragen.

Danke schön.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU)

Das Wort erhält Herr Abg. Theurer.