Protokoll der Sitzung vom 27.06.2001

Jetzt kommt aber noch ein ganz anderes Problem hinzu. Sie wissen nämlich noch gar nicht, ob Sie die 5 500 Stellen überhaupt besetzen können. Berechnungen gehen davon aus, dass die Zahl der Absolventen in etwa der Zahl der durch Pensionierung frei werdenden Lehrerstellen entspricht. Wenn man dann noch weiß, dass nicht alle Absolventen auch in den Schuldienst gehen, ist klar, dass Sie da ein reales Problem bekommen. Auf dieses Problem, Herr Ministerpräsident, sind Sie in Ihrer Rede mit keinem Wort eingegangen, übrigens auch nicht auf die Frage, wie Sie denn dem Fachlehrermangel insbesondere in den naturwissenschaftlichen Fächern begegnen wollen.

Interessant, Herr Ministerpräsident, fand ich Ihr Zitat, dass für Sie alle Schülerinnen und Schüler gleich viel wert sind.

Das ist eigentlich eine bare Selbstverständlichkeit. Aber Sie wollten halt extra betonen, dass Sie der Ministerpräsident für alle sind. Das ist auch völlig legitim.

Noch interessanter fand ich allerdings, dass Sie kein Wort darauf verwandt haben, wie Sie eigentlich qualifizierte Hauptschullehrer in ausreichender Zahl gewinnen wollen. Es ist Ihnen anscheinend entgangen, dass das Berufsfeld für die anspruchsvolle Tätigkeit eines Hauptschullehrers oder einer Hauptschullehrerin bei vergleichsweise schlechter Bezahlung massiv gelitten hat und dass so gut wie niemand mehr das Studium für das Lehramt an Hauptschulen ergreift. Da haben wir ein veritables Problem. Das haben Sie nicht erkannt.

(Beifall bei den Grünen)

Eine andere Baustelle oder, besser gesagt, mehrere Baustellen gibt es im Moment beim Gymnasium, dem Steckenpferd unserer Ministerin, Frau Schavan. Das achtjährige Gymnasium soll jetzt von oben eingeführt werden. Die Debatten darüber werden an den Schulen erst kommen. Das ist immer so, weil man hier alles von oben macht und unten erst diskutiert wird, wenn es nicht mehr zu verhindern ist. Zuerst sollte das achtjährige Gymnasium ein Angebot für besonders leistungsstarke Schülerinnen und Schüler sein. Jetzt wird es flächendeckend eingeführt. Es ist nur noch ein Angebot für Schüler, die besonders schnell Abitur machen wollen. Für die Oberstufenreform, die ja de facto einer Abschaffung des Kurssystems gleichkommt, werden jetzt, damit die Binnendifferenzierung wieder stattfindet, die durch die Reform gerade abgeschafft wurde, neue Lehrpläne für die Klassen 12 und 13 geschrieben. Für das allgemeine achtjährige Gymnasium müssen aber die Lehrpläne der Klassen 1 bis 12 quasi insgesamt neu gemacht werden. Man sieht, das Gymnasium hat viele angefangene Baustellen, aber es gibt keine Reflexion über das Ganze und keinen Neuaufbau von unten.

Wir glauben, dass jetzt eine Diskussion über die Inhalte, die an der Schule eigentlich vermittelt werden sollten, nötiger denn je wäre. Sie haben ja Recht, Herr Ministerpräsident, wenn Sie sagen, es komme nicht darauf an, viel zu wissen, sondern darauf, das Richtige und das Wichtige zu wissen. Das ist völlig richtig. Die Frage ist doch nur: Wer weiß, was das Richtige und das Wichtige ist? Welche Inhalte können gestrichen werden, und welche müssen neu hinzukommen, zum Beispiel ökonomische Grundkenntnisse? Für diese Fragen ist unseres Erachtens ein öffentlicher Diskurs nötig. Das können nicht irgendwelche Arbeitskreise im Kultusministerium allein entscheiden. Das ist eine gesellschaftliche Frage. Darüber müssen wir alle diskutieren.

(Beifall bei den Grünen)

Wir wollen die Auseinandersetzung um die Inhalte der Bildung von morgen und die Frage, wie man dann die Schulen und eben auch das Gymnasium reformieren muss.

Acht oder neun Jahre – das sage ich ehrlich – ist für uns überhaupt kein Dogma. Aber umgekehrt ist für uns Beschleunigung auch kein Wert an sich. Da muss man schon darüber diskutieren, was da passieren soll.

Die Schulen in freier Trägerschaft werden deshalb immer wichtiger, weil die offensichtlichen Mängel des öffentlichen Schulsystems dazu führen, dass es bei Leuten, die es sich leisten können – ich formuliere es ausdrücklich so –, mittlerweile eine Abstimmung mit den Füßen gibt, in die Schulen in privater und freier Trägerschaft zu gehen. Die entlasten das öffentliche Schulwesen. Das muss man einfach sagen. Sie sind deshalb gut, weil sie viele Reformkonzepte haben, die die öffentlichen Schulen nicht umsetzen, und weil sie insbesondere Unterrichtsangebote haben, Ganztagsangebote, die in diesem Land sonst fehlen. Sie verweigern trotz Verfassungsgerichtsurteil die notwendige Finanzierung für die Schulen in freier Trägerschaft. Sie ziehen sich jetzt darauf zurück, dass Frau Berroth und Frau Lazarus in einem Arbeitskreis waren, der sich nicht darauf einigen kann, wie eigentlich die reale Datenbasis ist. Das ist mir auch zu wenig.

(Zuruf der Abg. Heiderose Berroth FDP/DVP)

In diesen Bereich muss Geld hinein, meine Damen und Herren.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen)

In der Hochschulpolitik wurde in den letzten Jahren, das will ich anmerken, vieles auf den Weg gebracht, wurden viele Verkrustungen aufgebrochen und viele Reformen eingeleitet. Herr Kollege Pfister hat darauf hingewiesen. Der neue Minister Frankenberg steht dafür, diesen Kurs fortzusetzen.

Das neue Dienstrecht an Hochschulen, das wir auf Bundesebene mit angestoßen haben, muss nun auf Länderebene umgesetzt werden. Die damit verbundene Einführung von Juniorprofessuren und die Eröffnung neuer akademischer Karrierewege wurde von uns seit Jahren gefordert. Wir sind froh, dass dies endlich kommt. Das ist insbesondere für Frauen eine große Chance. Am wichtigsten ist in diesem Zusammenhang eine leistungsgerechtere Bezahlung von Professoren und die Gleichbehandlung der Besoldungsstruktur von Universitäten und Fachhochschulen.

Auf zwei Dinge werden wir in der Ausgestaltung unser besonderes Augenmerk richten: auf angemessene Besoldungsspielräume auch für Fachhochschulprofessoren – Sie haben völlig Recht: ein guter Fachhochschulprofessor muss genauso viel verdienen können wie ein Universitätsprofessor – und darauf, dass die Leistungselemente, die an den Hochschulen ebenfalls eingeführt werden, echte befristete Zulagen sein werden.

Wünschenswert wäre, dass Sie, Herr Minister Frankenberg, anders als Ihr Amtsvorgänger die Demokratisierung der Hochschulen nicht als etwas den Hochschulen Wesensfremdes ansehen würden. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Mitbestimmung aller Studierenden und aller Beschäftigten an den Hochschulen nicht den reibungslosen Ablauf von Lehre und Forschung behindert, sondern dass die Mitbestimmung diesen Ablauf eher befruchtet und zur Motivation aller beiträgt.

(Beifall bei den Grünen)

Die Frauen kommen bei Ihnen nur am Rande vor, Herr Ministerpräsident: in Ihrer Regierung so gut wie gar nicht und

in Ihrer Regierungspolitik ebenfalls so gut wie nicht. Von einer Verbesserung des Landesgleichberechtigungsgesetzes kein Ton – von einer weiteren Umsetzung des Gesetzes auch in Kommunen und Kreisen keine Rede.

Aber man darf ja froh sein: Frauen sind in Ihrer Rede immerhin wenigstens Gegenstand der Familienpolitik. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird jetzt auch bei Ihnen zum Thema. Das ist erfreulich. Dass aber viele Familien aus Alleinerziehenden bestehen und Alleinerziehende mit Ihrem Reihenhausförderprogramm in den allermeisten Fällen wenig anfangen können, weil sie sich das nicht leisten können, das ist Ihnen anscheinend noch nicht aufgefallen,

(Zuruf des Ministers Dr. Christoph Palmer)

sonst würden Sie vielleicht Sozialwohnungen bauen. Aber da herrscht totale Fehlanzeige.

Zum Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten brauchen Sie im Übrigen keine Ideenwerkstatt, wie Sie sie fordern. Auch wenn das Thema für Sie persönlich neu sein sollte: Es geht um flexible Öffnungszeiten, Mittagstische, Ganztagsangebote, Integrationsgruppen usw. Eine völlige Leerstelle war bei Ihnen bislang der Bereich der unter Dreijährigen. Herr Drexler hat die Zahlen und Statistiken aufgezählt. Da ist es mit Tagesmüttern nicht getan. Krippen müssen Kindergärten hinsichtlich der Finanzierung endlich gleichgestellt werden. Dann werden Sie schon sehen, welchen Bedarf es im Land dafür gibt.

Der gesamte Kinderbetreuungsmarkt – ich sage: Markt – muss endlich nachfrageorientiert gestaltet werden. Für schlechte, unflexible, teure Angebote gibt es logischerweise keinen Markt, für gute, bezahlbare hingegen schon. Hier müssen Sie gewaltig einsteigen, wenn Sie nicht 2020 die Klagen hören wollen, Sie hätten vor 20 Jahren geschlafen.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Ihr Beitrag zum Thema Zuwanderung – lassen Sie es mich klipp und klar sagen, Herr Ministerpräsident – war eine einzige Enttäuschung. Sogar Herr Goll hat angemerkt,

(Abg. Dr. Caroli SPD: Das will was heißen!)

dass Sie ständig Bedingungen und Voraussetzungen für Zuwanderung fordern, die alle längst erfüllt sind. Die Zahl der Asylbewerber geht seit Jahren zurück. Mit Fort- und Weiterbildung allein werden Sie den Bedarf an Fachkräften gerade in unserem Bundesland nie und nimmer decken können. Darauf hinzuweisen, wird die Wirtschaft nicht müde. Die von Ihnen einberufene Zukunftskommission – das ist Jahre her, unter Herrn Leibinger – forderte schon vor Jahren allein für Baden-Württemberg 25 000 Zuwanderer jährlich. Sie sprechen von Zuwanderung wie von einem Übel, das man irgendwie in den Griff bekommen müsse.

In Ihrer Rede – auch das finde ich bemerkenswert – loben Sie alles und jedes in Baden-Württemberg. Sie wollen der Ministerpräsident für alle sein. Ich habe schon einmal gesagt: Das ist völlig legitim; diesen Anspruch muss jeder Ministerpräsident haben. Aber eine Gruppe vergessen Sie. Diese Gruppe macht allein in der Landeshauptstadt Stutt

gart 25 % der Bevölkerung aus: die Gruppe der ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Der Beitrag, den Migrantinnen und Migranten in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur leisteten und leisten, bleibt unerwähnt. Zuwanderung, Herr Ministerpräsident – die CDU hat das insgesamt kapiert, aber man muss es doch einmal sagen –, findet nicht erst in Zukunft statt, sie hat bereits millionenfach stattgefunden.

Dann kommt ein Satz, bei dem ich richtig erschrocken bin: Sie sagen, Zuwanderung setzt Integration voraus. Da kann man nur den Kopf schütteln. Wahrscheinlich muss einer schon integriert sein, bevor er hierher kommt. Darum soll er auch in seinem Heimatland Sprachkurse machen, damit sie dann hier nichts mehr kosten. Herr Teufel, so kann es nicht funktionieren. Der richtige Satz muss heißen: Zuwanderung erfordert Integration. Integration erfordert ein staatliches Angebot und die Bereitschaft der Zuwanderer, sich darauf einzulassen. Es geht also um eine Bringschuld des Staates und um eine Bringschuld der Zuwanderer.

(Abg. Pfister FDP/DVP: Richtig!)

Integration kann aber nur funktionieren, wenn sie gleichzeitig als Querschnittsaufgabe verstanden wird, die die Kindergärten, Schulen, Hochschulen, Betriebe, Vereine und alle gesellschaftlichen Kräfte darin unterstützt, interkulturelle Kompetenz zu zeigen.

Bei einem weiteren Punkt, Herr Ministerpräsident, bei der Drogenpolitik, hört man auch überhaupt nichts Neues,

(Abg. Pfister FDP/DVP: Noch nicht!)

außer dass sich CDU und FDP/DVP jetzt schon wie in den letzten fünf Jahren streiten,

(Abg. Pfister FDP/DVP: Wie Überlebenshilfe or- ganisiert werden soll! Das ist der Punkt!)

wie die wenigen Zeilen, die Sie dem Thema in Ihrer Koalitionsvereinbarung opfern, interpretiert werden sollen. Dieses Spiel haben wir fünf Jahre lang erlebt. Die Originalität ist nur noch gering.

(Abg. Drexler SPD: Wer ist hier der Affe?)

Herr Ministerpräsident, ich fordere Sie noch einmal auf – Stichwort indische Affen: nichts hören, nichts sehen, nichts sagen –:

(Abg. Drexler SPD: Genau, Herr Pfister!)

Sehen Sie doch endlich ein, dass Drogenabhängige in erster Linie kranke Menschen sind und nicht in erster Linie Kriminelle.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Kranken Menschen muss man helfen und darf ihnen nicht sagen: Werde du erst gesund, dann helfen wir dir.

(Abg. Scheuermann CDU: Richtig, aber nicht mit Heroin! – Zurufe der Abg. Döpper und Dr. Lasotta CDU)

Baden-Württemberg hat die höchste Drogenabhängigensterberate aller Flächenstaaten. Die kommunalen Landesverbände weisen seit Jahren auf die Defizite im Hilfsangebot für Drogenabhängige hin, insbesondere auf fehlende Drogenkonsumräume. Für sie gibt es keine Alternative zu diesen qualifizierten Überlebenshilfen für Schwerstdrogenabhängige. Wir fordern deshalb mit den kommunalen Landesverbänden Sie, Herr Ministerpräsident, auf, die rechtlichen Voraussetzungen für die Einrichtung von Drogenkonsumräumen zu schaffen.

(Abg. Dr. Lasotta CDU: Damit helfen Sie den Leu- ten aus ihrer Sucht nicht heraus!)

Ich lese und höre von Ihnen dazu nichts. Darüber hinaus ist es notwendig, diejenigen Städte mit praktikablen Konzepten zu unterstützen, die in eine heroingestützte Behandlung Opiatabhängiger einsteigen wollen, wie das zum Beispiel in Karlsruhe der Fall ist. Das ist ein Appell von mir. Ich glaube, es gibt eine Mehrheit hier in diesem Hause, aber keine Mehrheit in dieser Regierung. Wir unterstützen Sie, Herr Pfister, bei allem, was Sie da anleiern. Ich bedauere nur, dass nichts Klareres drinsteht.

(Beifall bei den Grünen)