Wenn Sie uns vom Gegenteil überzeugen wollen, dann geben Sie endlich allen Ganztagsschulen, die das benötigen, zusätzliche Lehrerwochenstunden – nicht nur Hauptschulen an sozialen Brennpunkten.
Ganztagsschulen möglichst nur an Hauptschulen an sozialen Brennpunkten einzurichten ist eine Doktrin, die der Idee der Ganztagsschule am meisten schadet, weil sie zur Stigmatisierung von Ganztagsschulen führt.
Herr Oettinger ist in diesem Punkt schon sehr viel weiter als das Ministerium. Er sagte gemäß einem Artikel in den „Badischen Neuesten Nachrichten“ vom 10. Oktober 2003 wörtlich:
Nach meiner Überzeugung wird der Begriff des sozialen Brennpunkts nicht mehr der Maßstab für Ganztagsschulen bleiben können.
Meine Damen und Herren, auch die Chancen für eine umfassende individuelle Förderung von Kindern und Jugendlichen in Ganztagsschulen werden vonseiten der Landesregierung falsch eingeschätzt. Besondere Bedürfnisse von Kindern sind eben nicht dasselbe wie besondere Probleme.
Natürlich geht es einerseits darum, Teilleistungsstörungen auszugleichen und Entwicklungsverzögerungen aufzuholen. Andererseits sind aber auch besondere Begabungen zu fördern, und dies flächendeckend. Das ist das Problem bei Ihrem Prestigeprojekt, dem Hochbegabtengymnasium in Schwäbisch Gmünd – ein Projekt, bei dem vieles nicht zusammenpasst.
Viele werden sich fragen – auch nach der Lektüre Ihrer Stellungnahme zu unserem Antrag Drucksache 13/2509 und nach dem ersten Spatenstich am 19. November, an dem Sie, Frau Schavan, teilgenommen haben –: Warum wird ein Prestigeprojekt verfolgt, das lediglich 120 Jugendlichen zugute kommt? Was passiert mit den anderen, je nach Definition bis zu 15 000 hoch begabten Jugendlichen in BadenWürttemberg, wenn eine flächendeckende Förderung – in Bayern längst realisiert – nicht vorhanden ist bzw. zurückgefahren wird?
Warum behaupten Sie, Frau Schavan, in Ihrer Stellungnahme zu unserem Fraktionsantrag, der Landesverband Hochbegabung unterstütze das Hochbegabteninternat in Schwäbisch Gmünd, während dieser in seiner offiziellen Stellungnahme auf der Verbandshomepage das Hochbegabteninternat ablehnt?
Nicht nur das, der Landesverband Hochbegabung bezeichnet das Hochbegabteninternat sogar wörtlich als den „millionenschweren Kasernengaul in Schwäbisch Gmünd“.
Entweder haben Sie hier noch massiven Abstimmungsbedarf mit dem Landesverband, oder aber Sie sind in Ihrer Antwort zumindest unredlich.
Dasselbe gilt für die Einstellung zur pädagogischen Konzeption. Das Kultusministerium beruft sich auf die fachkundige Mitarbeit von Professor Ziegler in der Kommission und auf dessen ausgearbeitete Konzepte. Sonderbar ist nur, dass eben jener Professor Ziegler in einer Gegendarstellung in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „LHV Aktuell“ die Urheberschaft bestreitet. Professor Ziegler schreibt – ich zitiere wörtlich –:
Eine eingehende Diskussion dieses Papiers... war aufgrund des enormen Zeitdrucks, der den Kommissionsmitgliedern auferlegt wurde und gegen den diese wiederholt protestiert hatten, nicht möglich. Es handelt sich somit weder um ein Papier, das von mir stammen würde, noch um ein Papier, das ich inhaltlich als meine Vorstellungen widerspiegelnd betrachten würde. Tatsächlich habe ich mehrere Einwände gegen dieses dann als Konzeption übernommene Papier in Sitzungsprotokollen vermerken lassen (dasjenige von der Ab- schlusssitzung wurde mir übrigens nie zugesandt).
Bislang wurden keine mir bekannten Anstrengungen unternommen vonseiten des Kultusministeriums, die von der Kommission ausgesprochenen Zusatzempfehlungen in die Tat umzusetzen.
Und noch etwas: Dass in Schwäbisch Gmünd bereits der erste Spatenstich erfolgt ist und vor Ort die Finanzierung durch Bundesmittel verkündet wird, während für dieses Projekt in Berlin bisher kein Geld beantragt wurde, ist ebenfalls ein eigenartiger Vorgang. Ich weiß nicht, was Sie sagen würden, wenn das zur normalen Gepflogenheit der Projektträger in Baden-Württemberg werden würde.
Meine Damen und Herren, es wäre ein großer Gewinn für die Bildungsdiskussion in unserem Land, wenn endlich auch das Prinzip individueller Förderung durchgehend eine breite Verankerung erfahren würde.
Die Ganztagsschule ist hierzu zwar kein Allheilmittel, aber sie ist eine große Chance. Das gilt auch für das konzeptionelle Zusammenführen von Elementen formaler, nicht formaler und informeller Bildung, wie es unter anderem vom Bundesjugendkuratorium gefordert wird. Das aber, meine Damen und Herren, hieße, einen massiven Ausbau der Kooperation von Schulen und Jugendhilfe zu betreiben.
Was erleben wir? Eine völlige Planungsunsicherheit bei der Schulsozialarbeit, das Zurückfahren des Kooperationsprogramms „Schule und Jugendarbeit“, eine fehlende Klausel für Kooperationen zwischen Schulen und Jugendhilfe im Schulgesetz, eine absolut ungenügende Einbeziehung außerschulischer Bildungspartner in die Bildungsplanung dieses Landes.
Eine organisatorische und konzeptionelle Zusammenführung von Schulen und Einrichtungen der Jugendhilfe – ich weiß das – ist nicht einfach. Sie verlangt einen breiten Bildungsbegriff; denn Bildung ist mehr als Schule, kann aber durch die Vielfalt der Perspektiven einen deutlichen Qualitätszuwachs bedeuten. Im Zusammenspiel von schulischen und außerschulischen Bildungselementen kann so innerhalb der Schule ein auch für Schülerinnen und Schüler hoch attraktives Bildungsnetzwerk entstehen. Man mag dies, wie ich das tue, als Ganztagsbildung bezeichnen. In jedem Fall muss dieser Prozess unter den Aspekten von Qualitätsentwicklung und Beteiligung gesehen und auch als solcher organisiert werden. Eine Strategie hierzu auf Landesebene ist aber weit und breit nicht zu erkennen.
Hier und da wird nun seit einiger Zeit von CDU-Abgeordneten auf Veranstaltungen auch das Hohelied von Ganztagsschulen angestimmt. Das ist im Prinzip gut so. Nur die Tonart bedarf einer Nachbesserung. Manchmal hört man den Grundton „Brennpunktschule“, dann den Grundton „Ganztagsschule light“. Das eine führt zu Stigmatisierungen, und das andere birgt zumindest die Gefahr pädagogischer Billiglösungen in sich. Beides wird den wirklichen Ansprüchen qualitativ hoher Ganztagsbildung nicht gerecht.
Nun zu einer Informationspolitik, die ja einen gewissen Charme hat, den Charme der Selbstbeschränkung: Kein Wort des Ministerpräsidenten kommt dazu in seiner Regierungserklärung vor. Es gibt nur einen kleinen Hinweis in der Publikation „Kultus und Unterricht“ auf das milliardenschwere Investitionsprogramm des Bundes. Das ist zu wenig, und das charakterisiert eher die Haltung der Landesregierung zum Thema Ganztagsschule als wohlfeile Erklärungen auf der Homepage des Kultusministeriums.
(Abg. Mappus CDU: Wie lange redet er denn noch? – Gegenruf des Abg. Dr. Birk CDU: Regie- rungserklärung!)
Dort wird in viel offenerer und in aktiver Form für Ganztagsschulen geworben. Man organisiert Informationsveranstaltungen und Wissensbörsen sowie einen Austausch für
Schulleitungen und Lehrerkollegien. Baden-Württemberg muss die Umsetzung des größten Schulprogramms in der Geschichte unseres Landes endlich offensiv vorantreiben.
Es ist auch völlig unverständlich, warum man bei diesem zukunftweisenden Prozess des Aufbaus von Ganztagsschulen und von Ganztagsbildung vor einer Evaluation zurückschreckt. Vielleicht deshalb, weil dabei herauskommen könnte, dass Ganztagsschulen nach ihrer Einführung immer beliebter werden?
Zumindest könnte man den Vorschlag des Bundesjugendkuratoriums, zur Begleitung der Entwicklungs- und Aufbauphase vor Ort runde Tische Ganztagsbildung anzuregen und selbst auf Landesebene einen solchen runden Tisch einzurichten, umsetzen.
Zum Beispiel könnte für die Dauer der Abwicklung eines Investitionsprogramms eine Ad-hoc-Arbeitsgruppe mit Vertreterinnen und Vertretern der schulischen und der außerschulischen Seite eingerichtet werden. Das wäre das richtige Signal: Ja, wir wollen Ganztagsschulen; ja, wir wollen Ganztagsbildung in der Bildungsplanung des Landes fest verankern. Wir wollen alle damit befassten schulischen und außerschulischen Akteure daran beteiligen und sie auf gleicher Augenhöhe miteinander ins Gespräch bringen.
Erstens: Wir brauchen nicht nur mehr, sondern durch gute pädagogische Konzepte und zusätzliche Lehrerwochenstunden auch eine qualitativ gute Ganztagsbildung in den Schulen. Auf keinen Fall dürfen – ich sage es in Anführungszeichen – „Aufbewahrungsschulen“ deshalb, weil sie billig sind, zum Leitmodell für ganztägige Betreuung werden.