Protokoll der Sitzung vom 05.05.2004

Diese zwei Herausforderungen sind in der Tat realistisch, und ich bin, meine sehr verehrten Damen und Herren, auch dagegen, sie zu beschönigen. Wir brauchen eine höhere Reformgeschwindigkeit in Deutschland; dazu gibt es überhaupt keine Alternative.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Wir glauben nicht, dass wir in Deutschland mit den Arbeitskosten von Osteuropa produzieren könnten. Das ist doch überhaupt nicht die Alternative. Es ist die Frage, ob wir in den genannten Bereichen unsere Hausaufgaben machen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich halte es für nicht zulässig, dass man deutschen Unternehmern, wenn sie zur Markterschließung oder zur Sicherung von inländischen Arbeitsplätzen mit Teilen ihrer Produktion nach Osteuropa gehen, unpatriotisches Verhalten vorwirft.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP und des Abg. Kretschmann GRÜNE)

Das ist nicht gut,

(Anhaltender Beifall bei der CDU und der FDP/ DVP)

und das war im Übrigen volkswirtschaftlich Unsinn,

(Abg. Theurer FDP/DVP: Richtig!)

weil die Verflechtung der Volkswirtschaft viel weiter ist, als der Herr Bundeskanzler und der Herr Bundeswirtschaftsminister mit diesen Äußerungen zum Ausdruck gebracht haben.

Wie ist es denn in der Praxis? Der Kabelbaum für das Automobil wird schon nicht mehr in Ungarn oder in Polen produziert, weil dort die Lohnkosten bereits zu hoch sind, sondern die Kabelbaumproduktion hat sich nach Moldawien oder Rumänien verlagert. Aber es ist doch klar, dass die technologisch hochwertigen Motoren und vielleicht auch der Dieselkatalysator, wenn wir bei der Arbeitszeit etwas tun, in Feuerbach gebaut werden können. Nur dann, wenn wir, meine sehr verehrten Damen und Herren, bei den Arbeitszeiten etwas tun, sind wir mit den Hightechprodukten konkurrenzfähig. Für einfache Produkte gilt das nicht.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Deshalb haben wir nicht pauschal Unternehmen und Unternehmern zu bescheinigen, sie seien unpatriotisch, sondern müssen wir uns mit einer Verflechtung der Wirtschaft vertraut machen. Drüben wird produziert, und hier wird endmontiert. Es wird munter hin- und hergefahren. Selbstverständlich haben wir diese Entwicklung auch schon in den

(Minister Dr. Christoph Palmer)

vergangenen Jahren gehabt, aber sie wird sich beschleunigen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen die Probleme, auch die Herausforderungen offen benennen, dürfen aber auch die Chancen nicht vergessen. Ich glaube, wenn man mit einem solchen ehrlichen und realistischen Ansatz vor die Menschen tritt, dann werden sie auch verstehen, dass es zu dem Projekt der Osterweiterung keine Alternative gibt.

Lassen Sie mich einige dieser Chancen benennen und damit deutlich machen, warum ich glaube, dass wir in BadenWürttemberg für die Herausforderungen gut gerüstet sind.

Der erste Punkt: Kein Land in Europa ist so forschungsintensiv und hat einen so hohen Anteil an Hochtechnologiearbeitsplätzen wie Baden-Württemberg. Meine sehr verehrten Damen und Herren, verlagert wird jetzt unter dem Kostendruck das einfachere Produkt. Die Hochtechnologie gerät als Letztes unter Druck. Deshalb ist es ein Segen, dass die Hochtechnologiearbeitsplätze diesen hohen Anteil – 23 % der baden-württembergischen Arbeitsplätze – ausmachen. Das macht uns immuner als andere Volkswirtschaften in Europa gegenüber Arbeitsplatzverlagerungen, aber es schützt uns nicht auf Dauer, weil mittlerweile selbstverständlich ein hoher Stand bei Bildung, Wissenschaft und Forschung auch in Osteuropa, zumindest in den Kernbereichen, vorhanden ist. Nehmen Sie die Universitäten in Budapest oder in Warschau. Nehmen Sie Prag. Wer also glaubt, dass wir uns auf der Hochtechnologie ausruhen könnten, der springt zu kurz. Auch dort wird Druck entstehen. Aber wir sind zumindest für die nächsten Jahre erst einmal sicherer als andere Länder.

Ein zweiter Punkt, warum ich glaube, dass in dieser Erweiterung viele Chancen liegen: Osteuropa mit seinen attraktiven Investitionsbedingungen braucht jetzt die Produkte, die wir in Baden-Württemberg herstellen. Wir haben dort einen Nachholeffekt. Da wird jetzt investiert. Da kommen jetzt Werkzeugmaschinen, da kommt jetzt Anlagentechnik, da kommt jetzt Umwelttechnik, da kommt Systemtechnik, da kommen die „embedded systems“, die eingebetteten Systeme.

Unsere Schlüsselkompetenz, dass wir die verschiedenen Technologien zusammendenken, wird in den nächsten zehn Jahren für die Umwandlung der osteuropäischen Wirtschaft, für die Investition in die osteuropäische Wirtschaft benötigt. Gerade deshalb ist es wichtig, dass die Angebotspalette und die Angebotsstruktur der kleinen und mittelständischen Unternehmen in der baden-württembergischen Wirtschaft und Industrie wie der Schlüssel zum Schloss auf die Nachfragestrukturen der Übergangs- und der Investitionsgesellschaften Osteuropas passen. Darin liegen die Chancen für unsere Unternehmen. Deshalb sind sie in Osteuropa auch unterwegs, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Das kann man ja nicht nur projektieren und prognostizieren, sondern man kann auch auf Zahlen verweisen. Kein Land in Deutschland und in Europa ist so exportintensiv wie BadenWürttemberg. Wir haben in den Jahren 1999 bis 2003 ein

Wachstum der Experte nach Osteuropa um 45 % gehabt. In Westeuropa wächst im Augenblick ganz wenig. Anders sieht es auf den asiatischen und den amerikanischen Märkten aus. Aber das Wachstum, das in Europa im Export stattfindet, ist ein Wachstum, das in den vergangenen vier Jahren im Export nach Osteuropa stattgefunden hat.

Neben diesen wirtschaftlichen Aspekten, die man angesichts der Lage in Deutschland natürlich in den Mittelpunkt einer Betrachtung stellen muss, darf man doch nicht vergessen, dass es auch große Chancen in der Kultur, in der Sprache, in der Begegnung, im Tourismus, im Zusammenkommen der Menschen in Europa für unser Land, für Deutschland, aber auch insbesondere für Baden-Württemberg gibt.

Damit wir nicht nur eine wirtschaftspolitische Debatte führen, lassen Sie mich an dieser Stelle einen Aspekt auch einmal hervorkehren: Meine sehr verehrten Damen und Herren, an vielen Orten der Welt wird nicht mehr Deutsch als erste Fremdsprache gesprochen.

(Beifall des Abg. Kleinmann FDP/DVP)

Das gibt es nicht mehr. Deutsch ist nicht mehr die Lingua franca. Wo dieses Land noch Chancen in der kulturellen und in der sprachlichen Begegnung hat, ist Osteuropa. Jeder in Westeuropa sieht das so. Jeder westeuropäische Politiker sagt: „Ist doch klar, die Osterweiterung ist euer Projekt, denn ihr seid in der Mittellage Europas, ihr werdet davon profitieren.“ Die ersten Schulen und Hochschulen, in denen Deutsch Unterrichtssprache ist, entstehen – das ist nach 1945 ja ein Wunder – wieder neu in Osteuropa. Ich kann an alle, die Verantwortung tragen, nur appellieren, die Gelder, die die Goethe-Institute für Sprachförderung ausgeben, nicht in der Welt zu verläppern,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der FDP/ DVP)

sondern einen Schwerpunkt, eine Konzentration auf Osteuropa vorzunehmen und eben auch die Chancen in der kulturellen Zusammenarbeit, die für unser Land in dieser Erweiterung liegen, zu sehen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will heute ankündigen, dass wir uns jetzt nicht zurücklehnen und sagen, die Erweiterung zum 1. Mai sei erfolgt, jetzt sei die Hausaufgabe getan, jetzt werde alles von selbst laufen. Nein, wir müssen Mittel- und Osteuropa vonseiten der Landesregierung und des Parlaments noch viele Jahre lang im Fokus unseres Einsatzes haben. Es geht jetzt erst los.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Richtig!)

Die Angleichung der Lebensverhältnisse wird 10, 15, 20 Jahre brauchen. Wer dort oder hier glaubt, das gehe auf Knopfdruck, der irrt sich. Wir müssen den Schwerpunkt Mittel- und Osteuropa im Auge behalten. Deshalb will ich betonen, dass wir im Staatsministerium gerade an einer Gesamtkonzeption für die Erschließung Osteuropas, für die Intensivierung der Kontakte zwischen Baden-Württemberg und Osteuropa in wirtschaftlicher, in kultureller, in sprachlicher Hinsicht arbeiten. Ich kann zum Beispiel nicht verstehen, dass wir bis zum heutigen Tag an keiner baden-würt

(Minister Dr. Christoph Palmer)

tembergischen Hochschule einen interdisziplinären Schwerpunkt Osteuropa haben.

(Beifall des Abg. Kleinmann FDP/DVP)

Ich glaube, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen alle miteinander die jetzige Erweiterung als Zwischenetappe betrachten. Aber wir müssen Osteuropa auch in den kommenden Jahren mit großer Aufmerksamkeit im Auge behalten und dafür gemeinsam arbeiten.

(Beifall bei der CDU)

Lassen Sie mich, meine sehr verehrten Damen und Herren, noch ganz realistisch und ohne Übertreibung sagen: Die Schere zwischen Arbeitskosten und Produktionsbedingungen hier und dort wird sich in den kommenden Jahren schließen. Diese Entwicklung haben wir auch in Südeuropa – in Spanien, Portugal und Griechenland – beobachten können. Wer jetzt also mit den letzten Sorgen an die Entwicklung herangeht, sollte sich auch dies bewusst machen.

Bleibt der letzte Punkt, der hier in der Debatte auch angesprochen wurde und auf den ich gerne noch eingehe: Das ist die Frage nach den Grenzen der Erweiterung. Ich empfehle, meine sehr verehrten Damen und Herren, jetzt ein bisschen Ruhe einkehren zu lassen. Wir werden – ich habe es gerade gesagt – unglaublich beschäftigt sein, die Integration von West und Ost dieses Gesamteuropas in den kommenden Jahren zu bewältigen. Vieles ist zu tun.

Dann steht die nächste Erweiterungsrunde vor der Tür. Ich weiß nicht, ob das schon 2007 der Fall sein kann. Die Rumänen fallen in der Entwicklung leider Jahr für Jahr, Monat für Monat deutlich zurück, während die Bulgaren eher aufholen. Ich will auch darauf hinweisen, dass die Kommission vor zwei Wochen – wofür wir immer eingetreten sind – Kroatien die Einladung zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen ausgesprochen hat. Wir müssen uns realistischerweise darauf einstellen, dass die nächste Erweiterungsrunde mit diesen drei Ländern stattfindet – mit auch nicht geringen Problemen, insbesondere wenn ich an die Größe und die wirtschaftliche Situation Rumäniens und Bulgariens denke.

Wer in dieser Situation der Türkei falsche Versprechungen macht, der dient nicht den Menschen in der Türkei und auch nicht den Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, sondern der streut den Menschen Sand in die Augen. Es wird über einen sehr langen Zeitraum keine Perspektive für einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union geben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der FDP/ DVP)

Ich plädiere dafür, das ehrlich zu sagen. Die Franzosen haben eine Kurskorrektur ihrer nationalen Politik vorgenommen. Das Bruttoeinkommen in der Türkei beträgt 23 % des europäischen Durchschnitts, nicht des deutschen Durchschnitts. Inklusive der osteuropäischen Länder, die jetzt den Durchschnitt herabsetzen, liegt das Pro-Kopf-Einkommen in der Türkei bei 23 % des europäischen Durchschnitts.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir hätten ein Land in der EU, das uns durch die Dimension der Probleme dann endgültig in eine Freihandelszone zurückführen und

uns Abschied nehmen lassen würde von dem Ziel, von der gemeinsamen Überzeugung eines politisch handlungsfähigen und integrierten Europas, einer Europäischen Union, die in vielen Bereichen über das rein Wirtschaftliche hinaus zusammenarbeitet.

(Beifall der Abg. Dr. Inge Gräßle CDU)

Deshalb kann ich nur sagen: Das einzig Realistische, was wir in den kommenden Jahren in Europa diskutieren können, ist eine privilegierte Partnerschaft – ohne Schaum vor dem Mund, mit Respekt vor der Türkei, einer großen Nation mit einer großen Kultur, mit einer großen geopolitischen und geostrategischen Bedeutung, auch mit Respekt den Menschen gegenüber, aber eben mit dem realistischen Ansatz, dass es auf lange Zeit nur ein besonderes Verhältnis zwischen der Europäischen Union und der Türkei geben kann.

(Beifall bei der CDU und der Abg. Beate Fauser FDP/DVP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, erlauben Sie mir abschließend, Herr Birzele, noch auf Ihre Zwischenfrage einzugehen. Was Sie über 1963 und Walter Hallstein gesagt haben, ist alles richtig. Aber: Walter Hallstein, das war 1963,

(Abg. Birzele SPD: Kinkel, Genscher!)

und bei der Inaussichtstellung der Erweiterung der Europäischen Union um die Türkei war die EWG eine Freihandelszone, eine Zollunion, aber nicht eine Europäische Union, die politisch zusammenarbeitet und die Missverhältnisse im Wirtschaftlichen durch Direkttransfers ausgleicht.