Protokoll der Sitzung vom 14.07.2004

Eines ist klar: Je mehr Mitglieder die Europäische Union hat, umso einfacher, verständlicher und transparenter müssen im Grunde genommen ihre Verfahren sein und umso einfacher und transparenter müssen ihre Institutionen aufgebaut sein und agieren können.

(Beifall der Abg. Beate Fauser und Theurer FDP/ DVP)

Ziel des Verfassungsprozesses musste es sein, die Handlungsfähigkeit der auf 25 Staaten erweiterten Europäischen Union zu erhalten und, wenn möglich, zu stärken.

Meine Damen und Herren, es war auch wichtig, Europa ein Gesicht zu geben. Die Verfassung schafft das Amt eines länger amtierenden Vorsitzenden des Europäischen Rates wie auch das neue Amt des europäischen Außenministers. Beides trägt entscheidend dazu bei, dass das künftige Europa seine Kräfte besser bündeln kann und besser steuerbar wird und überhaupt für den Bürger noch besser wahrnehmbar wird. Mit dem Amt des europäischen Außenministers wird also Europa ein Gesicht gegeben und endlich eine Antwort auf die berühmte Frage Henry Kissingers nach der „Telefonnummer Europas“ gegeben. Die Antwort „Kein Anschluss unter dieser Nummer“ wird es künftig nicht mehr geben.

Zur verbesserten Handlungsfähigkeit der erweiterten Europäischen Union gehört vor allem ein effizientes und transparentes Rechtsetzungsverfahren. An dieser Frage war ja die Regierungskonferenz in ihrem ersten Durchgang im Dezember vergangenen Jahres gescheitert.

Entscheidend ist, dass sich das Prinzip der doppelten Mehrheit schlussendlich durchgesetzt hat. Das ist ein großer Erfolg, gerade auch für Deutschland.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Denn nur die doppelte Mehrheit der Staaten und der Bevölkerung trägt dem Gedanken der Union als Union der Staaten und Bürger Rechnung.

Die Regierungskonferenz hat das Staatenquorum gegenüber dem Konventsentwurf um 5 Prozentpunkte auf 55 % und das Bevölkerungsquorum ebenfalls um 5 Prozentpunkte auf 65 % erhöht. Damit kommen künftig Entscheidungen im Ministerrat dann zustande, wenn 55 % der Staaten, die

(Ministerpräsident Teufel)

gleichzeitig 65 % der EU-Bevölkerung vertreten, zustimmen. Meine Damen und Herren, gegenüber den komplizierten Regelungen des Nizza-Vertrags ist das für die Handlungsfähigkeit der EU ein Quantensprung. Auch die Sperrminorität von vier Mitgliedsstaaten, die vor allem den Interessen der kleinen Staaten Rechnung tragen soll, kann diesen Erfolg nur bedingt trüben. Ich will aber nicht verhehlen, dass ich die Lösung des Konvents, die dieses Sperrquorum nicht vorsah, und auch die von ihm vorgesehenen etwas niedrigeren Quoren für besser gehalten hätte.

Mit der Frage des Abstimmungsmodus im Ministerrat hängt auch die Frage der Ausweitung der Entscheidungen, die mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden können, eng zusammen. Ihr Gegenmodell, das Prinzip der Einstimmigkeit, bedeutet in einer Union von 25 und mehr Mitgliedern Stagnation und Handlungsunfähigkeit. Dies ist überwunden.

Meine Damen und Herren, erhalten bleibt auch die vom Konventsentwurf vorgesehene Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament auf Vorschlag des Europäischen Rates. Ich halte das in Anbetracht des historischen Tiefstands der europaweiten Wahlbeteiligung von 44,2 % bei den letzten Europawahlen im Juni für ein wichtiges Signal an die europäischen Wähler.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Eine wichtige Frage, die im Konvent und in der Regierungskonferenz gleichermaßen umstritten war, betraf die Größe und die Zusammensetzung der Kommission. Ich habe hier immer die Auffassung vertreten, dass nur eine kleine Kommission effektiv arbeitet. Der Konvent hatte für die Zeit ab 2009 eine Kommission von 15 Kommissaren mit Stimmrecht und weiteren so genannten „delegierten“ Kommissaren ohne Stimmrecht aus den übrigen Mitgliedsstaaten vorgesehen. Diese Lösung war in der Regierungskonferenz nicht konsensfähig.

Die Regierungskonferenz hat sich deswegen auf eine Kommission von 18 Kommissaren geeinigt, aber erst für die Zeit ab 2014. Die Vertretung eines Mitgliedsstaats in der Kommission erfolgt auf der Grundlage gleichberechtigter Rotation der Mitgliedsstaaten. Das bedeutet, dass Deutschland eines Tages nicht mehr in jedem Kommissionskollegium vertreten sein wird. Das ist der Preis, den wir für eine echte Verkleinerung der Kommission zahlen müssen.

Als Zwischenergebnis halte ich fest: In Sachen Handlungsfähigkeit erreicht die Europäische Verfassung das Klassenziel, die europäische Zukunft wirkungsvoll zu gestalten. Aber wir wissen alle: Eine Verfassung ist immer nur so stark wie der Wille zu ihrer Anwendung.

Zweite Frage: Sind wir auf dem Weg zu einem bürgernahen, subsidiaritätsgerechteren Europa mit einer klareren Kompetenzordnung?

Ich beginne mit der Bürgernähe: Europa bedarf nach der Erweiterung mehr denn je der Verwurzelung beim Bürger, wenn es dauerhafte Akzeptanz finden will.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Das wird umso besser gelingen, je mehr es von den Bürgern her gedacht wird und je mehr es von den untersten Ebenen her gedacht wird, von den Ebenen, die den Bürgern am nächsten sind, nämlich den Gemeinden und den Regionen. Ziel muss ein nach dem Subsidiaritätsprinzip von unten nach oben aufgebautes Europa sein.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Herzstück des Verfassungsvertrags, meine Damen und Herren, ist ohne Zweifel die Grundrechtecharta. Durch ihre Aufnahme in das Verfassungsdokument werden die Grundrechte und Grundfreiheiten des Bürgers rechtsverbindlich festgeschrieben. Die Verankerung der Grundrechtecharta ist zugleich ein Auftrag, eine Mahnung an die Europäische Union. Sie muss noch viel deutlicher „leben“, dass der Bürger im Mittelpunkt des Einigungsprozesses steht. Zu häufig nimmt der Bürger Europa ganz anders wahr: zentralistisch, uniform, bürgerfern, als ein Europa der Bürokraten und Experten, als ein Europa der hektischen Betriebsamkeit mit immer detailverliebteren Regelungen. Ich kann verstehen, dass sich der Bürger schwer tut, sich mit einem solchen Europa zu identifizieren. Auch mir fällt dies schwer.

(Beifall bei der CDU und der Abg. Beate Fauser FDP/DVP)

Der Verfassungstext nimmt dieses Defizit ins Visier und bemüht sich um Abhilfe. Bereits in seinem ersten Artikel wird deswegen die Union als Union der Staaten und Bürger gekennzeichnet.

Auch die Werte und Ziele der Union stellen den Bürger in den Mittelpunkt: Demokratie, Achtung der Menschenwürde, Wahrung der Menschenrechte, Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Rechtsstaatlichkeit, Gerechtigkeit, Pluralismus, Toleranz und Nichtdiskriminierung sowie Subsidiarität werden als auf den Bürger bezogene Grundlagen der Union benannt.

Meine Damen und Herren, ein wichtiger Schritt für mehr Bürgernähe ist für mich aber vor allem das Frühwarnsystem zur Subsidiaritätskontrolle. Bisher gab es überhaupt keine Subsidiaritätskontrolle. Nach dem Verfassungsentwurf kontrollieren alle nationalen Parlamente die Kompetenzen der Europäischen Union mit.

Das Frühwarnsystem zur Subsidiaritätskontrolle gibt den nationalen Parlamenten das Recht, Einspruch gegen Rechtsetzungsvorschläge der Kommission zu erheben, die gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoßen. Dieses Recht hat bei uns auch der Bundesrat. Hilft die Kommission dem gerügten Subsidiaritätsverstoß nicht ab, kann zudem zum Beispiel der Bundesrat vor dem Europäischen Gerichtshof klagen. Zugleich eröffnet die Verfassung den Weg, über eine innerstaatliche Regelung in Deutschland auch jedem einzelnen deutschen Land das Klagerecht zu geben.

In Gegenwart des Präsidenten des Ausschusses der Regionen der EU, Peter Straub, weise ich nochmals besonders gern darauf hin, dass auch der Ausschuss der Regionen ein selbstständiges Klagerecht gegen Subsidiaritätsverstöße erhält.

(Ministerpräsident Teufel)

Meine Damen und Herren, Frühwarnsystem und Klagerecht sind für mich zentrale Errungenschaften des Verfassungstextes.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Sie eröffnen den Weg zu einem subsidiaritätsgerechten Europa. Aber diesen Weg muss die Europäische Union auch gehen. Der Konventsvorschlag ist so überzeugend, dass er in der Regierungskonferenz von keiner Seite infrage gestellt wurde. Nach meiner Kenntnis ist er nicht einmal mehr diskutiert worden.

Dass den nationalen Parlamenten durch die Europäische Verfassung unmittelbare Rechte verliehen werden, ist ein echter Systembruch, aber ein durchaus positiver.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Die Verfassung verleiht den nationalen Parlamenten auch ein Vetorecht bei spezifischen Vertragserweiterungen. Wenn der Europäische Rat mit der Frage befasst ist, ob man in einem bestimmten Bereich – sagen wir in der Steuerpolitik – von der Einstimmigkeit künftig zur qualifizierten Mehrheit übergehen soll, haben die nationalen Parlamente künftig ein eigenständiges Vetorecht: Jedes nationale Parlament kann diesen Übergang zur qualifizierten Mehrheit aus eigenem Recht durch sein Veto verhindern.

Ganz wichtig ist auch, dass wir eine klare Kompetenzordnung bekommen, wie es sie bisher nicht gab. Die Kategorisierung der Kompetenzen der Europäischen Union in drei Kategorien – in ausschließliche Zuständigkeiten der EU, in geteilte Zuständigkeiten und in nur unterstützende Zuständigkeiten –, die ich in meiner Regierungserklärung vor einem Jahr dargestellt habe, ist zudem ein wichtiger Beitrag für ein subsidiaritätsgerechteres Europa. Hier wird in Fortentwicklung der bisherigen Verträge eindeutig festgeschrieben, was die Union regeln darf und was die Mitgliedsstaaten regeln dürfen. Ich gehe davon aus, dass die Abgrenzungsprobleme dadurch zurückgehen. Ganz wichtig ist mir, dass erstmals eindeutig festgelegt wurde, dass Zielbestimmungen für sich allein ein Tätigwerden der Europäischen Union nicht rechtfertigen können.

Meine Damen und Herren, jeder europäische Vertrag und auch diese Verfassung hat zahlreiche allgemeine Zielbestimmungen. Bisher hat die EU immer dann, wenn sie keine konkreten Kompetenzen hatte, diese allgemeinen Zielformulierungen als Grundlage dafür genommen, Kompetenzen an sich zu ziehen. Es ist ausdrücklich festgelegt – dafür habe ich mich außerordentlich eingesetzt –, dass dies künftig nicht mehr möglich ist. Handeln darf die EU nur, wenn es dafür eine ausdrückliche Ermächtigung in der Verfassung gibt.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Auch im Bereich der Daseinsvorsorge, für die der Konvent eine neue Einzelermächtigung geschaffen hat, ist es gelungen, deutlicher auf die nationalen Zuständigkeiten hinzuweisen.

Aber – wie könnte es bei europäischen Kompromissen anders sein? – es ist richtig, dass es in einigen wenigen Berei

chen durch die Regierungskonferenz auch zu Kompetenzausweitungen gekommen ist. Besonders unnötig erscheint mir das im Gesundheitsbereich,

(Beifall der Abg. Beate Fauser, Dr. Noll und Theu- rer FDP/DVP)

wo die Union nun beispielsweise Unterstützungsmaßnahmen gegen Alkohol- und Tabakmissbrauch ergreifen kann.

Insgesamt darf man aber nicht übersehen: Wer die Ausdehnung der EU-Kompetenzen durch Konvent und Regierungskonferenz insgesamt für zu umfänglich hält, der muss sich sagen lassen, dass der Konvent die Kompetenzen aller geltenden europäischen Verträge übernehmen musste. Er darf sich allerdings auch sagen lassen, dass der Kompetenzbestand der Europäischen Union nun auf lange Zeit unangetastet bleiben wird, denn jedwede weitere Kompetenzausweitung ist ratifikationsbedürftig, erfordert also entweder Einstimmigkeit im Europäischen Rat oder die Ratifikation durch 25 Mitgliedsstaaten. Das muss man klar sehen.

Völlig unbegreiflich ist mir die Haltung der Bundesregierung zum Stabilitätspakt.

(Abg. Theurer FDP/DVP: Sehr richtig!)

Sie hat alles getan, um den Stabilitätspakt und die Stellung der Kommission im Defizitverfahren zu unterminieren. Ich weiß nicht, wo wir heute stünden, wenn hier die Niederländer nicht Schlimmeres verhindert hätten.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP – Abg. Theurer FDP/DVP: Ja! – Abg. Dr. Noll FDP/DVP: Sehr richtig!)

Meine Damen und Herren, hier geht es nicht um Randfragen. Gerade in der Beziehung zum Bürger und hinsichtlich der Akzeptanz Europas durch die Bürger ist dies keine Randfrage. Die Deutschen hatten mit der D-Mark die stabilste Währung der Welt. Sie haben sie nur ganz ungern aufgegeben und nur gegen die ausdrückliche Zusage, dass mit dem Stabilitätspakt gewährleistet sei, dass der Euro so stabil sei wie die D-Mark. Einzelne Mitgliedsstaaten sollten nicht durch ihre Haushaltspolitik die Stabilität der gemeinsamen Währung unterminieren können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der FDP/ DVP)