Protokoll der Sitzung vom 15.12.2010

Herzlichen Dank. – Frau Präsi dentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Beginn dieser Enquetekommission und das Zustandekommen ihres Arbeitsauftrags waren ziemlich holprig. Das wissen Sie. Aber auf der Strecke – so meine ich – haben wir uns dann doch ganz gut zusammengerappelt.

Bei solchen Kommissionen besteht immer die Gefahr, von den Mehrheitsfraktionen mehr oder minder dominiert zu wer den. Das war natürlich auch bei dieser Kommission der Fall. Aber ich glaube, es ist uns immer wieder gelungen, über die relativ starren parteilichen Festlegungen hinauszuschauen. Nur deswegen ist erklärbar, dass wir die überwiegende An zahl der Handlungsempfehlungen mit allgemeiner Mehrheit haben beschließen können.

Das war nicht immer einfach. Es ist manchmal nur nach zä hem Ringen gelungen und manchmal eben auch gar nicht. Deswegen gibt es hier und dort auch Minderheitsvoten. In der aktuellen Situation, in der sich Mehrheiten zu verändern be ginnen, haben auch Minderheitsvoten eine wichtige Bedeu tung.

(Abg. Claus Schmiedel SPD: Sehr gut!)

Auf einmal sind sie nämlich nicht nur oppositioneller Zierrat, sondern sie sind Basis von zukünftigem Regierungshandeln.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen – Abg. Walter Heiler SPD: Bravo!)

Vielleicht war es da ein letzter Akt der Verzweiflung,

(Zuruf des Abg. Walter Heiler SPD – Vereinzelt Hei terkeit)

dass unsere Bitte abgelehnt wurde, in der Kurzzusammenfas sung, zumindest in einer Fußnote, doch auf das eine oder an dere Minderheitsvotum hinzuweisen. Das ist uns leider nicht geglückt. All diejenigen, die die Minderheitsvoten lesen wol len, müssen sich also durch den großen Bericht hindurchquä len. Sei’s drum! Es ist, glaube ich, ein kleiner letzter Akt der Verzweiflung.

Ich möchte nun inhaltlich, und zwar stichwortartig, entlang unserer Minderheitsvoten auf einige Punkte eingehen, ohne diese Voten natürlich in der gesamten Breite darstellen zu kön nen.

Zunächst zu etwas Grundsätzlichem. Es ist ausgesprochen schade, dass die Regierungsparteien unserem Votum mit dem Titel „Chancengleichheit von Anfang an“ nicht beitreten konn ten, obwohl von fast allen Sachverständigen erklärt und be kräftigt wurde, dass die Grundlagen für den weiteren Bil dungserfolg früh gelegt werden. Auch bei einer Fokussierung auf den Bereich der beruflichen Bildung darf man doch den Handlungsbedarf bei den Grundlagen nicht außer Acht lassen: Kindertageseinrichtungen, Sprachförderung in der frühkind lichen Bildung, Ganztagsschulen oder Gemeinschaftsschulen. Sehr schade, dass uns dies nicht im Konsens gelungen ist.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen)

Stichwort Fachkräftemangel: Meine Damen und Herren, es gibt drei Fehlentwicklungen, die diesen Fachkräftemangel verursacht haben. Frauen, Migranten und ältere Erwerbsper sonen sind viel zu wenig in den Arbeitsmarkt integriert. Die Weiterbildungsbeteiligung ist insgesamt viel zu gering. Der wichtigste Punkt aber ist: Wer heute den Mangel an Fachkräf ten beklagt, der bestätigt damit, dass in den vergangenen Jah ren zu wenig ausgebildet wurde. Die Wirtschaft ist eben seit Jahren nicht in der Lage, allen ausbildungswilligen Jugendli chen auch wirklich eine Ausbildung im dualen System zu er möglichen.

(Abg. Claus Schmiedel SPD: So sieht es aus! – Abg. Heiderose Berroth FDP/DVP: Das mildert sich doch gerade! Haben Sie das noch nicht gemerkt?)

Nur etwa die Hälfte der ausbildungsberechtigten Betriebe in Baden-Württemberg bilden tatsächlich aus. Allein 2010 blie ben knapp 11 000 Jugendliche in Baden-Württemberg ohne Ausbildungsplatz. Sie befinden sich in sogenannten Warte schleifen, ohne dass damit ihre beruflichen Perspektiven merklich verbessert werden. Dieses sogenannte Übergangs system hat weder System noch schafft es tatsächlich Übergän ge.

Die SPD will ein Grundrecht auf Ausbildung sichern. Wir wollen ein System, das keinen zurücklässt, und setzen auf fol gendes Szenario: für alle, die dies können und wollen, Ein mündung in eine adäquate duale Ausbildung; für Jugendliche mit einem punktuellen Förderbedarf eine spezifische Hilfe, die die duale Ausbildung begleitet, die sogenannte assistierte Ausbildung; und für Jugendliche, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht in diesen beiden Wegen landen, eine sub sidiäre, betriebsnahe, vollschulische berufsqualifizierende Ausbildung, die mit einer Kammerprüfung abschließt. Für die jenigen, die noch nicht ausbildungsfähig sind, muss es För dermaßnahmen geben, die allerdings nach einer individuali

sierten Kompetenzanalyse viel stärker am dualen System ori entiert und vor allem mit anrechenbaren Elementen bereichert sein müssen.

(Abg. Andreas Hoffmann CDU: Klatscht da keiner?)

Ich komme nun zum nächsten Stichwort: Jugendwohnen. Lan desfachklassen machen eine auswärtige Unterbringung von Jugendlichen oft zwingend notwendig. Hier haben sich CDU und FDP/DVP um eine wirkliche Lösung gedrückt. Natürlich, Herr Teufel, müssen Berufsbilder reduziert werden, damit die Anzahl dieser Klassen nicht weiter anwächst. Aber es macht überhaupt keinen Sinn, das Jugendwohnen einfach dem Leis tungsbereich des SGB VIII zuzuschieben und damit den Kom munen aufs Auge zu drücken.

(Beifall bei der SPD)

Wir wollen ein Finanzierungsmodell ähnlich wie in Bayern haben. Bayern erhebt von den Berufsschülern nur einen Ei genanteil pro Tag von 5 €,

(Abg. Stefan Teufel CDU: 5,10 €!)

5,10 € –, und alles andere wird bezuschusst. Berufsschüler in Baden-Württemberg bekommen lediglich einen Zuschuss von 6 €. Bei einem Tagessatz von derzeit 29 € müssen sie dann etwa 23 € pro Tag für das Jugendwohnheim aus eigener Ta sche berappen. So sichert man duale Ausbildung gerade im ländlichen Raum nicht.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Siegfried Lehmann GRÜNE)

Zur Unterrichtsversorgung: Anders als die Mehrheit sprechen wir beim strukturellen Unterrichtsdefizit nicht von einem Pro blem, das möglichst in drei bis fünf Jahren zu lösen sei. Nein, wir wollen bereits in der nächsten Legislaturperiode das struk turelle Unterrichtsdefizit vollständig und die Überstundenbug welle schrittweise analog eines Stufenplans abbauen.

(Zuruf der Abg. Heiderose Berroth FDP/DVP)

Schließlich zum Bereich der Weiterbildung. Hier zunächst ei ne Vorbemerkung: Alles, was in diesem Bericht zur allgemei nen Weiterbildung steht, wäre nicht beschlossen worden, hät te sich die SPD nicht massiv für die Erweiterung des Arbeits auftrags eingesetzt.

Ich freue mich über die Anerkennung der Notwendigkeit ei ner verlässlichen institutionellen Grundförderung der Weiter bildung durch das Land auf der Grundlage des geltenden Wei terbildungsgesetzes. Allerdings ist es auch dieses Mal nicht gelungen, bei der Grundförderung die Anhebung des Förder volumens des Landes von derzeit 5,8 % auf den Bundesdurch schnitt von 13,6 % zu verankern. Das muss stufenweise, aber zügig geschehen. Das einzufordern ist leider unserem Min derheitsvotum vorbehalten geblieben. Schade!

Ich sehe aber durchaus auch, dass sich die CDU bei der Pro grammförderung bewegt hat, die über die Grundförderung hi nausgeht. Herr Teufel hat es genannt. Damit sollen insbeson dere die Zielgruppen der An- und Ungelernten, der Geringqua lifizierten, der Migrantinnen und Migranten, der funktionalen Analphabeten und der Personen ohne Schulabschluss ange sprochen werden.

Auch die Systematisierung von Eltern- und Familienbildung gehört meines Erachtens hierher. Diese Ziele sind wichtig. Sie sind nicht einfach aus Bordmitteln zu erledigen, sondern sie benötigen eine zusätzliche Finanzierung.

Arbeitgeberpräsident Hundt hat heute kommentiert, dass die Enquetekommission mit ihren Empfehlungen zur Förderung der Weiterbildung Marktmechanismen anerkannt und deren Berücksichtigung eingefordert habe. Darauf sage ich hier, und zwar zum wiederholten Mal: Für uns ist Weiterbildung ein öf fentliches Gut. Eine schleichende Privatisierung in diesem Be reich sehen wir mit Sorge. Es gibt eben Weiterbildungsberei che, die gerade nicht marktfähig sind und deswegen einer be sonderen Landesförderung bedürfen.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen – Zuruf des Abg. Hagen Kluck FDP/DVP – Gegen ruf der Abg. Ursula Haußmann SPD)

Für uns, für mich ist es vollkommen selbstverständlich, dass damit auch Qualitätsmanagementverfahren zu verknüpfen sind.

Meine Damen, meine Herren, mir hat, wie Sie wissen, der Ti tel „Fit fürs Leben in der Wissensgesellschaft“ nie gefallen, weil er ein ökonomisches Bildungsverständnis transportiert. Manches in diesem Bericht der Enquetekommission hätten wir uns auch deutlich prägnanter, deutlich konkreter und vor allem deutlich verbindlicher gewünscht.

Auch meinen wir, dass ein Zeithorizont bis zum Jahr 2030 von den konkreten Herausforderungen der nächsten oder, sagen wir, der nächsten und der übernächsten Legislaturperiode zu stark ablenkt.

Alles in allem aber freuen wir uns auf die Umsetzung der Handlungsempfehlungen. Diese Freude bezieht sich ausdrück lich auch auf die Minderheitsvoten, die ab April des nächsten Jahres keine mehr sein werden.

(Beifall bei der SPD – Abg. Claus Schmiedel SPD: Bravo! Klare Ansage! – Abg. Dr. Klaus Schüle CDU: Macht uns doch keine Angst! – Gegenruf der Abg. Ursula Haußmann SPD: Brauchst du ein Taschen tuch?)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Lehmann für die Fraktion GRÜNE.

Frau Präsidentin, sehr ge ehrte Damen und Herren! Ich möchte Ihnen keine Angst ma chen.

(Abg. Dr. Klaus Schüle CDU: Danke!)

Von mir auch eine Vorbemerkung, weil die, glaube ich, schon notwendig ist: Wir haben fast ein Jahr lang diese Enquetekom mission gehabt. Wie Sie jetzt auch schon gehört haben, gibt es einen gewissen Grundkonsens, der sich auch in den Mel dungen der Verbände, von außen, zu den Ergebnissen der En quetekommission niederschlägt, nämlich den Grundkonsens, dass die Richtung stimmt. Ich denke, das haben wir in der En quetekommission, auch mit den uns beratenden Sachverstän digen, einvernehmlich erreicht. Wir haben eine Grundorien tierung geschaffen, von der wir sagen können: Die Richtung stimmt.

Es ist, glaube ich, für eine Weiterentwicklung im Bereich der beruflichen Bildung und der Weiterbildung wichtig, dass wir, nachdem wir in der Enquetekommission ein Jahr zusammen gearbeitet haben, zumindest schon einmal keine zwei Rich tungen in der Grundorientierung haben. Das ist – das möchte ich vorweg einmal sagen – ein ganz wichtiges Gut für die The men, über die wir uns natürlich trefflich streiten werden, Frau Krueger, wenn es darum geht, in welcher Geschwindigkeit wir vorgehen, wie tief wir in ein solches Thema einsteigen und wie wir es bewerten. Das möchte ich einfach voranstel len.

Die Aufgabe, die wir uns gestellt haben, war mächtig. Denn wir hatten im Prinzip – Herr Bayer hat das auch angeführt – natürlich immer die Schnittstellen zum allgemeinbildenden Schulsystem, die Schnittstellen zur Weiterbildung, die Schnitt stellen zur Bundesagentur für Arbeit und natürlich auch die Schnittstellen zur Hochschule. Dabei standen wir immer vor der Frage: Wie weit gehen wir eigentlich in diese Bereiche? Wir haben sehr ausgiebig darüber diskutiert, inwiefern wir die Übergänge besonders thematisieren. Wir hätten uns ge wünscht, dass ein eigenes Kapitel „Übergänge“ geschaffen worden wäre, in dem wir diese Problematik wirklich genau hätten beleuchten können. Denn wir standen immer vor der Frage: Wie grenzen wir die Berufsschule vom dualen System, von beruflicher Weiterbildung, allgemeiner Weiterbildung ab? Das war ein Problem. Ich glaube, es wäre kein so großes Pro blem gewesen, wenn wir uns diese Übergänge ganz präzise als großes Kapitel gewählt hätten. Das hätten wir gern gehabt.

Denn, Frau Krueger – dabei unterscheiden wir uns in der Ana lyse –, wir sind der Ansicht, dass die Übergänge weitgehend nicht funktionieren. Das belegen die Zahlen eindeutig. Im Jahr 2009 hatten wir 76 000 neue Ausbildungsverhältnisse. Im Jahr 1984 wurden 108 000 Ausbildungsverhältnisse neu abge schlossen. Das muss man sich einmal überlegen. Da ist eini ges passiert.

Im Jahr 2009 befanden sich in Baden-Württemberg 60 000 Jugendliche im sogenannten Übergangssystem – ich will das Reizwort „Warteschleife“ nicht nennen –, in Maßnahmen, in Ausbildungsgängen, die nicht zur beruflichen Qualifizierung führen.

Im Jahr 2009 gab es in Baden-Württemberg über 26 000 Alt bewerber. Das sind Jugendliche, die sich schon einmal um Ausbildungsplätze beworben hatten, dann aber in dieses Über gangssystem hineinmussten. Diese wollen auch nach einem Jahr – oder nach welcher Zeit auch immer – weiterhin in die duale Ausbildung.

Frau Krueger, Sie haben erwähnt, dass 55 % der Jugendlichen eine duale Ausbildung machen wollen. In der Schweiz begin nen fast 70 % der jungen Leute eine duale Ausbildung, eine moderne, reformierte duale Ausbildung, die berufsbegleitend auch die Fachhochschulreife beinhaltet. 12 % der jungen Leu te in der Schweiz, die die duale Ausbildung beginnen, machen berufsbegleitend die Berufsmatura, die Fachhochschulreife, und die Hälfte davon beginnt direkt danach auch ein Studium.

Diesen Anspruch sollten auch wir in Baden-Württemberg ha ben. Wir haben um dieses Thema gerungen. Wir haben – das muss ich sagen – auch positive Signale bekommen, wie heu te vom Arbeitgeberverband, der es besonders hervorgehoben

und gewürdigt hat, dass wir den berufsbegleitenden Erwerb der Fachhochschulreife hier hineingeschrieben haben.

Uns geht das nicht weit genug. Wir hätten wirklich gern, dass die duale Ausbildung dadurch gleichwertig mit einer höheren Ausbildung wird, dass wir den jungen Leuten den ausbil dungsbegleitenden Erwerb der Fachhochschulreife über einen zweiten Berufsschultag ermöglichen. Wir waren sehr eng zu sammen. Aber wir hätten uns dabei mehr Verbindlichkeit ge wünscht.

Ich glaube, die Fachkräftelücke, die wir in den nächsten Jah ren bekommen, werden wir nur dann schließen, wenn wir die Ressourcen, die wir in diesem Bereich einsetzen, optimal nut zen. Im Übergangssystem Baden-Württembergs geben wir – wir haben es einmal überschlägig berechnet – jährlich 280 Millionen € aus. Gemessen am gesamten Landesetat – wir be raten ja über den Nachtragshaushalt – sind 280 Millionen € ein Wort.