Deshalb: Was die Menschen in Japan jetzt erleben müssen, stellt die Frage nach der Verantwortbarkeit der Kerntechnik neu – auch für mich ganz persönlich. Ich halte es für legitim, im Angesicht dieser unfassbaren Jahrhundertkatastrophe in Japan über die Standpunkte und Argumente in der politischen Streitfrage hier bei uns neu nachzudenken. Dazu bin ich be reit – ohne Denkverbote. Ich habe mich immer rational zur Kernenergie bekannt, weil ich ihren Nutzen gesehen habe. Aber ich bin kein Atomideologe.
Das Erdbeben in Japan mit seinen Folgen, meine Damen und Herren, bedeutet deshalb zweifellos eine Zäsur. Ein einfaches „Weiter so!“ kann es nicht geben. Gerade weil ich für die Ver längerung der Laufzeiten eingetreten bin, sehe ich für mich eine besondere Verantwortung, mich darum zu kümmern, wie wir nach der Katastrophe in Japan hier in Deutschland mit der Kernenergie umgehen und wie wir die Fragen bezüglich un serer Energieversorgung überhaupt beantworten. Darüber müssen wir offen, ehrlich und redlich diskutieren.
Hier zeigt sich sehr schnell: Wir stehen in einem Spannungs feld, in dem es keine einfachen Antworten gibt. Wer heute auf tritt und ganz genau weiß, was jetzt ganz schnell zu tun ist, der wird diesem Spannungsfeld nicht gerecht. Natürlich lie fern die Nachrichten aus Japan gute Argumente gegen die Kernkraft. Aber richtig bleibt: Ein hoch industrialisiertes Land wie Baden-Württemberg braucht Energie. 78 TWh, also 78 Milliarden kWh Strom hat Baden-Württemberg im Jahr 2009 verbraucht. 52 % der im Land erzeugten Energie stam men aus Kernenergie. Außerdem müssen wir jede sechste Ki lowattstunde, die wir verbrauchen, schon heute importieren.
Zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme gehört also: Wir kön nen unsere Energieversorgung nicht auf Knopfdruck beliebig umstellen. Wir brauchen weiterhin verlässliche und ergiebige Energiequellen, um unsere Wirtschaftskraft, unseren Wohl stand, unseren Lebensstil und unsere ganz alltäglichen Ge wohnheiten zu ermöglichen. Das wurde auch im ursprüngli chen Atomausstiegsbeschluss nicht ignoriert. Denn auch nach dem Ausstiegsfahrplan der damaligen rot-grünen Bundesre gierung würden am heutigen Tag Kernkraftwerke in BadenWürttemberg laufen. Nach der rot-grünen Regelung würden sie auch noch auf Jahre hinaus weiterlaufen. Beispielsweise
könnte Neckarwestheim II auf dieser Grundlage früheren Be rechnungen zufolge bis zum Jahr 2021, vielleicht sogar noch länger am Netz bleiben.
Hinzu kommt: Wir alle wollen unser Klima schützen. Das schnelle Ende der Kernkraft zum Preis von mittelfristig mehr klimaschädlicher fossiler Energie aus Kohle, Öl oder Gas wür de aber bedeuten, dass wir das mit der Kernkraft verbundene Risiko durch das globale Risiko einer Erderwärmung erset zen.
Abgesehen davon, dass wir die Kraftwerkskapazitäten gar nicht hätten: Wäre das der moralischere Weg? Oder ist es et wa sinnvoller, eigene Kernkraftwerke sofort abzuschalten und dafür dann den von Kernkraftwerken im Ausland erzeugten Strom, z. B. Strom aus Tschechien oder Frankreich, zu impor tieren? Wäre das die Lösung? Ich stelle diese Fragen ohne je de Polemik. Aber sie zeigen, dass wir es uns nicht zu leicht machen dürfen, wenn wir unsere energiepolitische Verantwor tung ernst nehmen.
Lassen Sie uns also ernsthaft und in aller Sachlichkeit über ei nen neuen Energiekonsens in unserer Gesellschaft sprechen. Nach allem, was in Japan geschieht und bereits geschehen ist, steht eine Frage im Mittelpunkt: Welche Konsequenzen zie hen wir in Europa, in Deutschland und in Baden-Württemberg aus den Ereignissen in den japanischen Kernkraftwerken?
Klar ist: Wir können nach diesen Eindrücken nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Wir können nicht sagen: „Unsere Kernkraftwerke sind sicher“, ohne die Lehren aus den Vor gängen in Japan gezogen zu haben. Die Ereignisse, die in Ja pan abliefen, wurden stets für undenkbar gehalten: ein Erdbe ben ungeheurer Stärke, ein Tsunami, der Stromausfall, die Er hitzungen, Explosionen.
Auch wenn wir heute längst nicht alle Umstände kennen, ist klar: Wir müssen an die Sicherheit neue Maßstäbe anlegen. Deshalb habe ich bereits mehrere konkrete Maßnahmen an geordnet.
Erstens: Baden-Württemberg wird eng mit den Verantwortli chen auf Bundes- und europäischer Ebene zusammenarbei ten.
Speziell zu dem von der Bundeskanzlerin angekündigten Son dergipfel von Bundesumweltminister Norbert Röttgen und zu dem von EU-Energiekommissar Günther Oettinger angereg ten Treffen werden wir hochrangige Vertreter entsenden.
Energiekommissar Oettinger hat eine Prüfung der Sicherheits- und Baustandards aller Kernkraftwerke in ganz Europa ange regt. Dies begrüße ich ausdrücklich. Dies gilt übrigens aus ba den-württembergischer Sicht insbesondere auch für das Kern kraftwerk Fessenheim an der deutsch-französischen Grenze. Ich erwarte dort die gleichen Anforderungen, wie wir sie in Baden-Württemberg haben.
Denn klar ist auch: Sicherheitsdebatten dürfen nicht nur nati onal geführt werden. Sie müssen in einen europäischen Pro zess eingebunden sein. Es bringt nichts, wenn andere Länder, deren Kernkraftwerke beispielsweise unmittelbar hinter der deutschen Grenze liegen, sich nicht im gleichen Maß an der Diskussion über mehr Sicherheit beteiligen.
Zweitens: Ich habe veranlasst, dass seit gestern die Inspekto ren der Atomaufsichtsbehörde zusätzlich zu den regelmäßig stattfindenden Sicherheitskontrollen die Kraftwerke in BadenWürttemberg aufsuchen. Die Inspektoren kümmern sich vor allem um die Frage der Notstromversorgung, also um genau die Funktionen, die in Japan auf so schreckliche Art und Wei se versagt haben.
Drittens: Ich werde eine Expertenkommission einberufen, die ab sofort genau analysieren wird, was in Fukushima passiert ist. Diese soll dann so rasch wie möglich und mit allergrößter Sorgfalt prüfen, welche Konsequenzen sich aus dem Vorfall speziell für die Kernkraftwerke in Baden-Württemberg erge ben.
Der Expertenkommission gehören an: der ehemalige Vorsit zende der Reaktorsicherheitskommission Klaus-Dieter Band holz, Michael Sailer, Sprecher der Geschäftsführung des ÖkoInstituts und Vorsitzender der Entsorgungskommission, Dr. Erwin Lindauer, ehemaliger Chef der Gesellschaft für Simu lationsforschung, Professor Dr. Gottfried Grünthal vom Helm holtz-Zentrum in Potsdam und Professor Dr. Hans Dieter Fi scher von der Ruhr-Universität Bochum.
All dies sind profilierte Gutachter und Sachverständige im kerntechnischen Bereich, insbesondere für die Themen der nuklearen Sicherheit.
Sollte sich eine bisher nicht bekannte Fehlerquelle finden, werden alle – ich betone: alle – nötigen Konsequenzen sofort und vorbehaltlos gezogen. Dies schließt ein Abschalten der Kernkraftwerke ein.
Oberstes Gebot für den zeitlich eng begrenzten Betrieb von Kernkraftwerken als Brückentechnologie hin zu den erneuer baren Energien war und ist für uns immer die Sicherheit.
Das heißt im Klartext: Kernkraftwerke, die nicht den erfor derlichen Sicherheitsansprüchen genügen, werden abgeschal tet – nicht in sieben Jahren, nicht in 15 Jahren, nicht in 20 Jah ren, sondern sofort.
Sehr geehrte Damen und Herren, die Landesregierung begrüßt die von der Bundesregierung gestern angekündigte Ausset zung der Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke.
Dies habe ich der Bundeskanzlerin beim heutigen Gespräch mit den Ministerpräsidenten der Länder, die Kernkraftwerks standorte haben, noch einmal versichert.
Die Zeit des Moratoriums soll genutzt werden, um die Sicher heitslage in den deutschen Atommeilern mit Blick auf die Er kenntnisse aus Japan zu überprüfen. Alles, was Sicherheits anforderungen anbelangt, muss nochmals überprüft werden. Von diesem Moratorium direkt betroffen ist das Kernkraft werk Neckarwestheim I, das vom Netz genommen werden muss.
Ich möchte betonen: Die Landesregierung hat immer das Prin zip der kontinuierlichen Verbesserung der Kernkraftwerke verfolgt. So wurden in der Anlage Neckarwestheim I in den Jahren von 2008 bis 2010 ca. 150 Änderungsverfahren durch geführt, und das Sicherheitsniveau wurde auf dem hohen Stand gehalten bzw. weiter verbessert.
Auch das Energiekonzept der Bundesregierung sieht die kon tinuierliche Verbesserung der Kernkraftwerke vor. Deshalb ist zu Beginn dieses Jahres eine Änderung des Atomgesetzes in Kraft getreten, die auch eine Sorgepflicht des Betreibers be inhaltet.
Der Betreiber wird verpflichtet, die Sicherheitsreserven von Kernkraftwerken zu erhöhen und eine möglichst hohe Sicher heit zu gewährleisten. Es ist nun Aufgabe des Betreibers, dar zulegen, wie er dieser Sorgepflicht nachkommt.
Die EnBW wurde vom Umwelt- und Verkehrsministerium aufgefordert, diese Konkretisierung auch für die Anlage Ne ckarwestheim I vorzunehmen. Die Aufsichtsbehörde des Lan des stand deswegen in ständigem Kontakt mit dem Betreiber EnBW. In den Gesprächen ging es mehrfach um die Anforde rungen für die Nachrüstung.
Eine aktuelle und umfangreiche Anforderungsliste hat das Mi nisterium für Umwelt, Naturschutz und Verkehr Baden-Würt temberg zur Berücksichtigung vorgelegt und aufgegeben. Auf dieser Grundlage und nach den Ereignissen in Japan und der dann folgenden Diskussionen hat der Vorstandsvorsitzende der EnBW AG, Hans-Peter Villis, der Landesregierung heute Morgen telefonisch mitgeteilt, dass ein wirtschaftlicher Be trieb von Neckarwestheim I auf Basis dieser Vorgaben nicht möglich ist. Unter diesen Bedingungen wird der Vorstand der EnBW den zuständigen Gremien des Unternehmens empfeh len, die Anlage GKN I nicht wieder ans Netz zu nehmen und dauerhaft abzuschalten.
Diese Entscheidung hat der Vorstandsvorsitzende der EnBW in diesen Minuten der Öffentlichkeit bekannt gegeben. Ne ckarwestheim I wird abgeschaltet – dauerhaft – und stillge legt.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Abg. Wolfgang Drexler SPD zur CDU: Warum klatscht denn ihr? – Unruhe)
Des Weiteren wird die Landesregierung in Kooperation mit der Bundesregierung auf Basis von § 19 Abs. 3 des Atomge setzes die EnBW AG anweisen, das KKW Philippsburg 1 zum Zweck einer umfassenden Sicherheitsüberprüfung im Still stand unverzüglich vom Netz zu nehmen.
Meine Damen und Herren, gerade vor dem Hintergrund der Vorgänge in Japan hat sich – auch dies will ich betonen – der Kauf von 45,01 % Aktienanteil an der EnBW durch das Land ein weiteres Mal als energiepolitisch richtig erwiesen.
Hätten wir Ende letzten Jahres nicht gehandelt, hätte die EnBW weiterhin die EdF als Anteilseigner. Wir alle wissen, dass wir dann nicht in der Lage gewesen wären, bestimmte Entscheidungen zu treffen, weil die französische Seite das Thema Kernkraft gänzlich anders sieht, als wir es in Deutsch land und in Baden-Württemberg sehen. Wir agieren auf Au genhöhe; wir sind nicht Bittsteller, meine Damen und Herren.
Beim Streit um die Laufzeitverlängerung ist es nie um das Ob eines Ausstiegs, sondern immer nur um das Wann und das Wie gegangen.
Dass das Ende der friedlichen Nutzung der Kernenergie kommt, ist politischer Konsens aller Parteien in der Bundes republik. Dass das neue Energiezeitalter ein Zeitalter regene rativer Energieträger wird, ist allgemein anerkannt. Diesen Weg hat die Landesregierung entschieden eingeschlagen.
Nach einem Ländervergleich der Agentur für Erneuerbare Energien ist Baden-Württemberg beim Ausbau umweltfreund licher Energiegewinnung in der Spitzengruppe.