Protokoll der Sitzung vom 24.05.2007

Die Leistungsstandserhebungen, die durchgeführt worden sind, betreffen einen bestimmten Zeitpunkt. Wir haben zu wenig Bildungsforschung über die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler, über den Kompetenzzuwachs z. B. in einem gegliederten Schulsystem und demgegenüber in der Struktur, wie Sie sie wollen. Wir stellen uns auch solchen Vergleichen und sind guten Mutes, dass bei solchen Untersuchungen das gegliederte Schulsystem seine Stärke belegen wird.

Im Interesse der Kinder verschließen wir auch nicht die Augen vor notwendigen Veränderungen. Denn natürlich zeigen die Ausbildungssituation und die Situation der Hauptschulabgänger, dass eine berufliche Perspektive nicht gesichert ist, weil die beruflichen Ausbildungsplätze und die entsprechenden Arbeitsplätze nicht im erforderlichen Umfang zur Verfügung stehen. Das würde sich jedoch auch durch einen Wechsel des Schulsystems nicht ändern. Wenn wir den Kindern da besser gerecht werden wollen, müssen wir die Basiskompetenzen weiter stärken und einen noch früheren und noch intensiveren Kontakt mit der Berufswelt herbeiführen. Der Minister hat auch angekündigt, dass wir dies im Rahmen unserer Überlegungen machen wollen.

Das ist genau das, wozu die Industrie- und Handelskammer die Bildungspolitik im Land auffordert. Sie fordert nicht, die Struktur des Schulsystems zu diskutieren, sondern fordert, auf eine inhaltliche Stärkung hinzuwirken.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP – Abg. Renate Rastätter GRÜNE: Das stimmt gar nicht!)

Wir werden dies tun, und wir haben das auch in der Koalitionsvereinbarung festgelegt. Der Minister hat das bereits im März gesagt. Wir haben das auch in den Beschlüssen zur Verwendung der Steuermehreinnahmen 2007 und 2008 festgelegt. Wir werden diese Stärkung in Angriff nehmen. Damit können dann die Schülerinnen und Schüler die vorhandenen Anschlüsse, ob beruflich oder schulisch, nutzen.

Sie sprechen von einem selektiven Schulsystem. Gestern haben Sie, Frau Rastätter, von einem „hoch selektiven“ Schulsystem gesprochen. Ich bin gespannt, wann es „höchst selektiv“ heißt. Sie unterschlagen damit, dass die Übergänge auf weiterführende Schulen nicht die Weichen dafür stellen, wie die Bildungsbiografie eines Schülers abläuft. Sie erwecken den Eindruck, dass mit zehn Jahren festgelegt werde, wo jemand in einer schulischen Entwicklung und einer beruflichen Entwicklung lande.

(Zuruf des Abg. Jörg Döpper CDU)

Das wird unserem Bildungssystem in Baden-Württemberg nicht gerecht.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP – Zurufe von der CDU: So ist es!)

Sie können von der Hauptschule zu einem mittleren Bildungsabschluss kommen.

(Zuruf des Abg. Alfred Winkler SPD)

Gestern fragten Sie in der Debatte über die Realschule: Warum nicht von vornherein die Hauptschüler zum mittleren Bildungsabschluss führen? Ich kann Ihnen sagen, warum nicht: Werden wir den Kindern gerechter, wenn wir von ihnen allen gleich den Weg zum mittleren Bildungsabschluss verlangen?

(Zuruf der Abg. Christine Rudolf SPD)

In allen anderen Bundesländern gibt es prozentual mehr Schulabgänger ohne Abschluss. Das sagen die Statistiken.

(Abg. Christine Rudolf SPD: Schule ist ein Ange- bot!)

Wir hatten im Jahr 2006 in Baden-Württemberg einen Anteil von 6,3 % an Schulabgängern ohne Abschluss, und wir lagen beim letzten deutschlandweiten Vergleich im Jahr 2005 prozentual bei der besten Zahl.

(Abg. Ursula Haußmann SPD: Wir haben 8 000 Schü- lerinnen und Schüler ohne Abschluss!)

Jetzt können Sie doch nicht fragen: Wer behauptet das? Das ist Statistik!

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Abg. Wolf- gang Drexler SPD: Hilft das denn den Schülern? Die wollen einen Ausbildungsplatz!)

Ist es also gerechter, zu sagen „Wir führen sie alle zum mittleren Bildungsabschluss“, und am Schluss gehen mehr ohne Abschluss ab?

(Abg. Carla Bregenzer SPD: Darum geht es nicht! – Zuruf der Abg. Christine Rudolf SPD)

Es muss auch darum gehen, darzustellen, dass es auch den Weg nach dem Realschulabschluss zu den beruflichen Gymnasien gibt. Übrigens: Auch auf der Realschule gibt es Lehrerinnen und Lehrer und Rektorinnen und Rektoren, die aus der Praxis kommen.

(Abg. Ursula Haußmann SPD: So jung und schon so verbohrt!)

Nur von den Hauptschulrektoren und den Hauptschullehrern zu behaupten, dass ihnen die Kinder am Herzen liegen, bei den Wortmeldungen aus Realschulen und Gymnasien aber zu sagen, die hätten nur ein Interesse an ihrer Schulart, ist ein bisschen einfach.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Abg. Karl- Wilhelm Röhm CDU: Bravo! So ist es! – Zuruf der Abg. Ursula Haußmann SPD)

Meine Damen und Herren, Sie erwecken auch den Eindruck, als ob es bei einem Wechsel des Schulsystems zu einem Erhalt von Standorten komme. Sie erwecken den Eindruck, dass unsere Politik zu Schulschließungen führe und Ihre Politik – so Herr Zeller in der letzten Debatte – eine Garantie für die „Schule im Dorf“ wäre. Diese Gleichung geht nicht auf.

(Abg. Ursula Haußmann SPD: Darf der in der Aktu- ellen Debatte ablesen?)

Ich habe hier Stichworte. Darf ich da nicht draufschauen?

(Abg. Wolfgang Drexler SPD: Ständig hier ablesen! – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Mach weiter! Lass dich nicht ablenken!)

Wir stehen in der Regierungsverantwortung. Deshalb müssen wir die Konsequenzen bedenken.

(Abg. Wolfgang Drexler SPD: Jetzt liest er wieder ab! Schon wieder liest er ab!)

Ihr Modell würde zu einer Zentralisierung führen. Ich erinnere hierzu an mein Zitat aus der letzten Debatte zum Thema Hauptschule von dem Bildungsforscher Rösner, der bei einer Veranstaltung des VBE die Verbundschule aus Haupt- und Realschule mit mindestens vier Zügen als pädagogisch wertvoll beschrieben hat. Die Regionalschule in Rheinland-Pfalz ist auch kein Ersatz für die Schule im ländlichen Raum, für die Schule vor Ort,

(Abg. Ursula Haußmann SPD: Jetzt liest er schon wieder ab! – Abg. Wolfgang Drexler SPD: Er liest wieder ab!)

sondern sie führt zu einer Zentralisierung und beschleunigt den ganzen Prozess.

(Abg. Norbert Zeller SPD: Eine Behauptung! – Zu- ruf der Abg. Christine Rudolf SPD)

Deshalb wollen wir aus inhaltlichen Gründen und wegen der Struktur im ländlichen Raum sowie auch, weil wir richtige Vorschläge für die Stärkung haben, an unserer Politik der Stärkung der Hauptschule festhalten.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Abg. Vol- ker Schebesta CDU geht zur SPD-Fraktion und zeigt seine Notizzettel. – Abg. Volker Schebesta CDU zur SPD: So ist das doch erlaubt, oder? – Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Abg. Marianne Wonnay SPD: Falsche Ansprechpartner!)

Das Wort erteile ich Frau Abg. Rastätter.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kultusminister Rau, Sie sind mit dem Versprechen angetreten, mit allen Beteiligten und Betroffenen im Bildungssystem

(Abg. Dieter Hillebrand CDU: Mit allen Menschen guten Willens!)

in einen offenen Dialog einzutreten. Sie haben, wie Kollege Zeller schon gesagt hat, auch darum gebeten, Ihnen die ungeschminkte Schulwirklichkeit zu schildern.

Die 100 Schulleiter und Schulleiterinnen aus dem Oberschwäbischen haben diese Chance genutzt. Sie haben in einem offenen Brief eindringlich geschildert, dass sie aufgrund ihrer jahrzehntelangen Erfahrungen einen Paradigmenwechsel in der Schulstruktur in Baden-Württemberg für dringend not

wendig halten. Sie haben Ihnen eindrücklich geschildert, dass wir von einem Bildungssystem wegkommen müssen, das die Kinder bereits im Alter von zehn Jahren sozial trennt und in unterschiedliche Schularten sortiert. Sie haben eindrücklich geschildert, dass der Bildungsauftrag dadurch bereits in der Grundschule zerstört wird, weil der Druck bereits in der Grundschule irrsinnig wird, nämlich mit dem Blick auf die Selektion von Kindern bereits im zehnten Lebensjahr.

Diese 100 Schulleiter und Schulleiterinnen hätten verdient, dass Sie sich unverzüglich mit ihnen zusammengesetzt, ihre Argumente aufgegriffen und mit ihnen eine ehrliche und offene Diskussion darüber geführt hätten, was wir machen können, damit wir dieses sozial ungerechte Schulsystem in Baden-Württemberg verbessern können.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, auch wenn Sie es nicht wahrhaben wollen: Es gibt längst einen Konsens in unserer Gesellschaft – Sie sehen das an der beispiellosen Welle an Solidarität, Respekt und Unterstützung, die diese Schulleiterinnen und Schulleiter erfahren haben –, dass wir wegkommen müssen von einem Schulsystem, das sozial selektiert, von einem Schulsys tem, das seine Wurzeln im Ständestaat des 19. Jahrhunderts hat, einem Schulsystem, das Kinder beschämt, das Angst auslöst, das Selektionsdruck ausübt.

(Abg. Veronika Netzhammer CDU: Angst lösen die Lehrer aus, nicht das System!)

Ein solches Schulsystem ist doch nicht vereinbar mit den Prinzipien wertkonservativer Politik. Das möchte ich gerade an Ihre Adresse sagen, die Sie sich gern als die konservativen Bewahrer in Baden-Württemberg präsentieren wollen.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Meine Damen und Herren, es ist ja auch kein Zufall, dass jetzt der Kern dieser Kritik aus dem Oberschwäbischen kommt, nämlich genau aus dem Kernland der konservativen Politik, von denen, die Sie als Ihre Unterstützung sehen. Es sind genau die CDU-Bürgermeister, die solche wertkonservativen Prinzipien ernst nehmen, die sagen: Wir brauchen Schulen, in denen alle Kinder wertgeschätzt werden, in die alle Schüler auch gern gehen. Das kann mit der Hauptschule nicht mehr erreicht werden. Die Kinder wollen dort nicht mehr hingehen; die Hauptschule hat bei den Eltern keine Akzeptanz.

Wenn wir wohnortnahe Schulen wollen, dann brauchen wir Standorte mit integrativen Modellen, mit moderner Pädagogik, mit der Perspektive, dass dort alle einen mittleren Bildungsabschluss erreichen können –