Protokoll der Sitzung vom 05.11.2009

Punkt 10 der Tagesordnung ist damit erledigt.

Ich rufe Punkt 11 der Tagesordnung auf:

Große Anfrage der Fraktion der CDU und Antwort der Landesregierung – Situation demenziell Erkrankter in Baden-Württemberg – Drucksache 14/3280

Das Präsidium hat folgende Redezeiten festgelegt: für die Besprechung fünf Minuten je Fraktion, für das Schlusswort fünf Minuten.

Für die Fraktion der CDU erteile ich Herrn Abg. Hoffmann das Wort.

Verehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ganz am Ende eines Debattentags, fast schon am Rande der Vergessenheit – das passt gut zum Thema Demenz – diskutieren wir heute über ein Thema, das aus Schamgründen weit hinten rangiert, obwohl die Betroffenheit groß ist.

In Deutschland sind derzeit 6,8 % der über 65-Jährigen an Demenz erkrankt. Bundesweit sind es etwa 1,1 Millionen Betroffene. Es ist davon auszugehen, dass es in Baden-Württemberg rund 135 000 Erkrankte gibt. Im Jahr 2020 werden es 197 000 Erkrankte sein. Im Jahr 2030 – so sagen es uns die Statistiker voraus – werden es über 240 000 Betroffene sein.

Schon heute ist es so – wir haben auch gelernte Altenpflegerinnen unter uns –, dass über 50 % der Einweisungen in ein Pflegeheim erfolgen, weil eine Demenzerkrankung vorliegt. In vielen Pflegeheimen sind über 80 % der dort Gepflegten an Demenz erkrankt.

Ich will die Kollegen nicht strapazieren; denn wir haben einen langen Plenartag hinter uns. Außerdem haben wir unter Punkt 2 und unter Punkt 10 der Tagesordnung schon viel über Gesundheitspolitik gesprochen.

Die Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion der CDU hat den Istzustand gut beschrieben. Vielen Dank an das Sozialministerium für die Beantwortung der Fragen. Wenn man den Istzustand betrachtet, dann kann man es fast als Skandal bezeichnen, was im Rahmen der Gesundheits

berichterstattung des Bundes im Jahr 2005 zum Thema Altersdemenz herausgefunden worden ist. Den Bund trifft keine Schuld, aber er hat den Bericht verfasst. Ich nenne einige Daten aus diesem Bericht.

Nach diesem Bericht erfolgt die Diagnose für 40 bis 60 % der Betroffenen zu spät. Das heißt, die Menschen haben eine Erkrankung, und es wird nicht rechtzeitig festgestellt, dass sie daran leiden. Die Studie zeigt außerdem auf, dass der Übergang vom Hausarzt zum Facharzt nicht optimal läuft. Bundesweit werden nur 28 % der Demenzkranken von einem Facharzt weiterbehandelt und erfahren eine solche hoch qualifizierte Behandlung.

Zwar sind Demenzerkrankungen nicht heilbar, zumindest heute noch nicht. Sie sind aber positiv beeinflussbar. Eine frühzeitige Behandlung bringt dem Betroffenen Lebensqualität und sorgt auch bei den Angehörigen für ein Stück Lebensqualität.

Rein volkswirtschaftlich betrachtet, ist Folgendes ganz interessant: Wenn man sich anschaut, was eine gute Diagnostik und eine gute Therapie bringen können, dann kommt man relativ schnell dahinter, dass bei dieser Erkrankung etwas im Gesundheitswesen in Deutschland nicht stimmt. Wir haben Arzneimittelrichtgrößen der Kassenärztlichen Vereinigung. Danach steht den Patienten pro Quartal – für die Verordnung von Medikamenten – ein Betrag von rund 150 € zur Verfügung. Ich rede von allgemeinen Patienten. Ein Demenzpatient kostet pro Quartal aber zwischen 165 € und 419 €. Das klingt viel, weil die Kosten für diese Patienten höher sind als der Wert, der im Durchschnitt für alle Patienten zur Verfügung steht. Aber wir können, glaube ich, leicht ausrechnen, was wir sparen könnten, wenn wir den Eintritt der Pflegebedürftigkeit nur um einen einzigen Monat verzögern könnten, wenn wir mit einer richtigen Diagnose und einer richtigen Therapie an das Thema herangehen könnten.

Was mich noch viel mehr erschreckt hat – darüber haben wir hier auch schon diskutiert –, ist die Tatsache, dass bei vielen älteren Patienten gar nicht richtig geschaut wird. Wenn sie Ausfallerscheinungen haben, heißt es meist: Das ist Alzheimer, das ist Demenz. Es wird nicht weiter untersucht. Es ist davon auszugehen, dass ein größerer Teil der Patienten überhaupt nicht Alzheimer hat, sondern eine andere Stoffwechsel erkrankung,

(Abg. Helmut Walter Rüeck CDU: So ist es!)

die nicht nur beeinflussbar, sondern die zum Teil auch heilbar wäre – also eine nicht erkannte Stoffwechselerkrankung im Bereich dieser Medizin. Die größte Katastrophe, die einem passieren kann, ist, glaube ich: Man wird als Demenzpatient geführt, obwohl man an einer völlig anderen Erkrankung leidet, und die wird anschließend überhaupt nicht therapiert.

Was hilft? Es hilft eine bessere Fortbildung der Ärzte, und es hilft vielleicht auch, wenn endlich einmal klargemacht wird, dass die vermeintlichen Einsparungen, die man sich erhofft, wenn bei den Demenzpatienten eine Therapie, eine Diagnostik nicht erfolgt – sie wehren sich nicht dagegen –, am anderen Ende einen Milliardenbetrag an Kosten auslösen und natürlich ganz viel Leid für die Patienten selbst und für deren Angehörige auslösen.

Man darf schon einmal die Frage stellen, ob sich eine Gesellschaft hier humanitär einwandfrei und auch christlich einwandfrei verhält, wenn sie die Persönlichkeit von Patienten durch eine unzureichende medizinische Versorgung missachtet. Nichts anderes ist das. Das ist nichts anderes als eine Missachtung der Persönlichkeit der Patienten, und ich glaube nicht, dass wir uns damit begnügen sollten, immer wieder einmal darüber zu diskutieren.

Wir haben inzwischen auch einiges getan. Ich will einfach einmal sagen, was es gibt und wo wir stehen.

Wir haben in Baden-Württemberg hervorragende Forschungseinrichtungen. Ich darf an unseren lieben Kollegen Professor Beyreuther erinnern, der in der letzten Legislaturperiode als Staatsrat tätig war. Er führt in Heidelberg eines der renommiertesten Alzheimerforschungsinstitute. Dort gibt es immer wieder Hinweise, dass man wieder einige Schritte weiter ist, aber von einer ordentlichen Bekämpfung, von einer Behandlung dieser Erkrankung oder gar einer Vermeidung sind wir weit weg.

Wir haben ein neues Heimrecht auf den Weg gegeben, das es nun zumindest gebäudlich und personell ermöglicht, die Dementen, die in einem Pflegeheim sind, nach deren Bedürfnissen unterzubringen und zu versorgen.

(Beifall des Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP)

Danke schön.

Wir haben in Baden-Württemberg – das darf man auch einmal erwähnen – eine hervorragende Alzheimer Gesellschaft, eine Selbsthilfevereinigung, die eine prima Arbeit leistet.

(Beifall der Abg. Dr. Ulrich Noll und Hagen Kluck FDP/DVP sowie Katrin Altpeter SPD)

Ich will an dieser Stelle wirklich Danke schön sagen, dass hier Gutes gemacht wird. Wir werden demnächst 50 Pflegestützpunkte in Baden-Württemberg haben, bei denen die Angehörigen und die Betroffenen selbst Beratung erfahren und dann hoffentlich auch die Information über eine gute Therapie und eine gute Pflege erhalten.

Wir haben im Bereich der Demenz ein starkes Ehrenamt. Viele Menschen kümmern sich um Demenzkranke, entweder im Rahmen der Nachbarschaftshilfe oder durch sonstige Aktivitäten. Auch ihnen gilt Dank.

Vorhin war eine Gruppe von 50 Ehrenamtlichen hier im Landtag – nicht speziell zu diesem Thema, aber auch zu diesem Thema –, Menschen, die sich jeden Tag mit solchen Menschen beschäftigen und uns ein ganzes Stück Arbeit abnehmen, die wir aus Mitteln der Gesundheitspolitik bzw. aus Steuermitteln gar nicht bezahlen könnten.

Die CDU hat vorgeschlagen – das haben Sie auch gelesen –, ein „Zehn-Punkte-Aktionsprogramm Demenz“ ins Leben zu rufen. Einige dieser Punkte gibt es bereits; das ist also keine völlige Neuerfindung. Einige habe ich auch genannt.

Die Landesregierung kann im Umgang mit Alzheimer und Demenz einige Erfolge vorweisen. Ich will aber das Sozialminis terium Baden-Württemberg – der Herr Staatssekretär wird uns

ja nachher antworten – doch noch einmal herzlich ermuntern, diesen eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Das ist eine Krankheit, die bedeutet, dass man das Gedächtnis verliert. Wir woll ten mit unserer Anfrage dafür sorgen, dass dieses Thema nun nicht in Vergessenheit gerät, sondern immer wieder diskutiert wird. Damit helfen wir den Leuten am meisten.

Die Menschen haben Angst vor dieser Krankheit – auch in Baden-Württemberg –, auch die Angehörigen haben Angst, weil sie sich nicht aus der Situation der Isolation heraustrauen. Es ist noch immer ein Schamgefühl damit verbunden, einen demenzkranken Angehörigen zu Hause zu haben. Das ist der falsche Weg. Wir müssen in der Medizin mehr machen, wir müssen in der Prophylaxe mehr machen, und wir müssen uns sicherlich auch noch einmal überlegen, wie wir in den Kommunen optimale Bedingungen für diese Menschen schaffen. Diese Menschen gibt es schon heute, und ihre Zahl wird sich in den nächsten Jahren verdoppeln. Dies ist eine Aufgabe, die unsere Aufmerksamkeit verdienen würde, und zwar nicht nicht erst unter Tagesordnungspunkt 11.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU)

Das Wort erteile ich Frau Abg. Altpeter für die Fraktion der SPD.

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, meine sehr geehrten Damen und Her ren! Ich kann fast nahtlos an das anschließen, was Kollege Hoffmann zuletzt gesagt hat. Die Situation der an Demenz erkrankten Menschen in unserem Land hat mehr verdient, als unter Tagesordnungspunkt 11 so wenig prominent behandelt zu werden.

Angesichts der Zahlen – er hat sie genannt; ich möchte sie nicht wiederholen –, angesichts der für 2020, 2030 erwarteten Zahl von rund 241 000 Erkrankten allein in unserem Land, können wir das Thema Demenz nicht mehr länger an den Rand der Gesellschaft rücken, nicht mehr länger nur in die Pflegeheime packen. Dort gibt es zugegebenermaßen zwar eine gute Versorgung, aber wir müssen davon ausgehen, dass in Zukunft mit dem Älterwerden der Menschen, auch mit dem medizinischen Fortschritt

(Abg. Dieter Kleinmann FDP/DVP: Trotz!)

das Thema Demenz sehr viel mehr in die Mitte unserer Gesellschaft rücken wird und wir uns mit diesem Thema ganz anders auseinanderzusetzen haben, als dies in der Vergangenheit geschehen ist.

(Beifall der Abg. Peter Hofelich SPD und Dieter Kleinmann FDP/DVP)

Eine Vorstellung von der Situation in den Pflegeheimen kann man sich am ehesten anhand eines praktischen Beispiels machen. Als ich vor 25 Jahren eine Altenpflegeausbildung gemacht habe, hatten wir in einer Wohngruppe mit 25 Bewohnern vielleicht einen oder zwei Bewohner, die dement waren. Heute stellt sich die Situation völlig umgekehrt dar. Wenn Sie heute in den Pflegeheimen zwei von 25 Bewohnern finden, die keine kognitiven Einschränkungen haben, dann ist das eher

(Abg. Dieter Kleinmann FDP/DVP: Die Ausnah- me!)

die Ausnahme.

Dies bedeutet auch eine zunehmende Belastung für Personen, die in den Pflegeheimen, aber natürlich auch zu Hause – die Angehörigen – mit der Pflege von an Demenz Erkrankten betraut sind. Dem müssen wir in der Zukunft verstärkt Rechnung tragen.

Es wird schon einiges getan im Bereich der Weiterbildung für Pflegepersonen, auch für Ärzte. Aber hier gibt es noch erheblichen Bedarf, dem wir angesichts dessen, dass das Thema Demenz tatsächlich in die Mitte der Gesellschaft rückt, gerecht werden müssen.

Ich möchte mich – das erscheint bei einer Vertreterin der Opposition zunächst vielleicht ungewöhnlich – beim Sozialministerium für die ausführliche Beantwortung der Großen Anfrage der CDU bedanken.

(Abg. Dr. Hans-Peter Wetzel FDP/DVP: So ein Lob ist gefährlich!)

Sie gibt uns allen unabhängig von Parteigrenzen einen guten Überblick über die Angebote, die es im Land bereits gibt.

(Abg. Dr. Hans-Peter Wetzel FDP/DVP: Sehr löb- lich!)

Sie zeigt auch oft zwischen den Zeilen Wege auf, die noch gegangen werden können.