Das sind die Probleme, die anstehen. Wir werden uns damit in der zweiten Runde vielleicht noch etwas detaillierter auseinandersetzen, wenn wir die Antwort des Ministers gehört haben.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Den Titel dieser Aktuellen Debatte „Berufliche Schulen in Baden-Württemberg – integrativ, gerecht und leistungsstark“ kann man als Zielformulierung durchgehen lassen, Frau Krueger,
wenn man ihn als Anspruch für zukünftiges Regierungshandeln begreift, wenn man „integrativ, gerecht und leistungsstark“ in diesem Bereich als Zukunftsaufgabe ansieht. Darüber besteht zwischen uns sicher Konsens. Kein Konsens zwischen uns besteht aber sicher bei dem, was Ihre Analyse betrifft, wonach eigentlich alles in Butter sei und man vielleicht nur noch an einigen Stellschrauben etwas drehen müsse.
Ich weise einfach noch einmal auf die Notwendigkeit und die Bedeutung dieses Themas allgemein hin. Wir haben eine bildungspolitische Diskussion, die eigentlich immer in Segmenten funktioniert. Wir diskutieren über allgemeinbildende Schulen und Abschlüsse. Darüber können wir uns heftig streiten. Wir diskutieren über die Frage, was eigentlich an den Hochschulen ist. Dann kommt vielleicht versteckt – das interessiert in der Öffentlichkeit oft niemanden so richtig – auch der Bereich der beruflichen Schulen. Aber es wird eigentlich vergessen, dass es sich hier um ein wichtiges Bindeglied in der Bildungsbiografie von vielen jungen Menschen handelt. Wir wissen, dass allein über 50 % der Realschüler nicht in die duale Ausbildung gehen, sondern Berufsschulausbildungsgänge, vollzeitschulische Ausbildungsgänge durchlaufen.
Man muss sich natürlich anschauen, welche Schnittstellen es gibt, welche Übergänge es gibt und ob sie funktionieren. Ich muss Ihnen sagen: Wir haben keine gute Situation. Wir müssen feststellen, dass über 50 000 junge Menschen jährlich in die Berufskollegs gehen – man hat sie jetzt reformiert; dass das reformierte Berufskolleg zur Fachhochschulreife führt, ist ein guter Ansatz –, dass aber die zweijährige Ausbildung überhaupt nicht als berufliche Qualifizierung anerkannt wird. Das ist ein untragbarer Zustand. Ich weiß aus der Praxis, dass die meisten der jungen Leute, die ein Berufskolleg besucht haben, danach in die duale Ausbildung gehen, das heißt eine dreijährige Lehre machen. Das sind also fünf Jahre Qualifizierung. Das muss man sich vor dem Hintergrund der G-8-/ G-9-Diskussion oder der Bachelordiskussion, in denen kürzere Schul- und Studienzeiten gefordert werden, auf der Zunge zergehen lassen.
Hier hat man offensichtlich Zeit, und man steckt eine Menge Ressourcen hinein. Wir haben es einmal ausgerechnet. Diese Systeme kosten das Land Baden-Württemberg jährlich ca. 350 Millionen €. Das ist ein erheblicher Betrag. Diese Gelder sind natürlich für andere bildungspolitische Maßnahmen blockiert.
Wir brauchen dringend eine Reform. Wir brauchen eine bessere Durchlässigkeit. Wir brauchen bessere Übergänge. Die Reform des Berufsvorbereitungsjahrs, die Stück für Stück umgesetzt wird – vom BVJ ins BEJ, und jetzt macht man auch VAB –, ist keine gelingende Reform, weil sie der gleichen Logik folgt, dass man nämlich nach einer nicht gelingenden Einmündung in eine berufliche Ausbildung im dualen System als Alternative einfach einen schulischen Ausbildungsgang daransetzt, der vorbereiten soll, dessen Qualifikation aber – beim VAB im Besonderen – überhaupt keine Anerkennung findet. Der Praxiszug im VAB führt nicht einmal zum Hauptschulabschluss.
Man muss sich fragen: Was für eine bildungspolitische Konzeption ist das, wenn ein Teil der Jugendlichen ohne Haupt
schulabschluss die Schule verlässt und es nicht als generelles Ziel des Staates begriffen wird, dass mindestens ein allgemeinbildender Abschluss, mindestens ein Hauptschulabschluss möglich sein muss? Das muss doch ein bildungspolitisches Ziel sein.
Sie haben in den letzten Tagen ein Programm verabschiedet, witzigerweise unter dem Titel „Kinderland plus“. Darin steht auch etwas zur beruflichen Bildung. Ich denke, ein Berufsschüler wird sich nicht als Kind begreifen, erst recht nicht ein Meister oder Techniker.
Sie sagen, wir hätten im Prinzip die Durchlässigkeit gewährleistet. Aber – Kollege Kaufmann hat es gesagt – ca. ein Drittel der Realschüler in Baden-Württemberg, die auf ein berufliches Gymnasium gehen wollen, die die Eingangsvoraussetzung eines Notendurchschnitts von 3,0 erfüllen, bekommen keinen Platz im beruflichen Gymnasium. Ganz kritisch ist es in Lörrach/Waldshut – da haben wir einmal die Daten erhoben –: Die Hälfte der jungen Leute mit mittlerer Reife schaffen dort nicht den Durchstieg ins berufliche Gymnasium, weil man keine Plätze anbietet.
Ich muss Ihnen sagen: In der ganzen Diskussion über Fachkräftemangel, über Akademikermangel, über die Zukunftsfähigkeit Deutschlands und Baden-Württembergs müssen wir darauf achten, dass die Durchgängigkeit funktioniert, dass es einen bildungspolitischen Anspruch gibt, einen Platz im beruflichen Gymnasium zu bekommen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Unsere beruflichen Schulen sind in der Tat eine ganz besondere Perle unter den Schularten. Das gilt sowohl für alle zusammen als auch für jede einzelne. Ich glaube, es gibt keine berufliche Schule, die einer anderen vollkommen gleicht. Sie alle haben ihre Spezialisierungen und ihre besonderen Angebote. Diese Vielfalt ist es, die sie stark macht.
Wir haben eine Riesenvielfalt an den beruflichen Schulen, und zwar zum einen bezüglich der angebotenen Fachbereiche. Da ist von Bau- und Ausbauberufen bis hin zu Metallberufen wirklich alles vorhanden, was man sich vorstellen kann, manches davon in Form von Blockunterricht, anderes zusammengefasst an Spezialschulen. Aber es ist alles da in BadenWürttemberg. Wir haben eine Riesenvielfalt; es ist alles vorhanden, was unsere Wirtschaft braucht und abnimmt und was unsere Schüler lernen wollen.
Wir haben zum anderen aber auch bei den Lehrern eine Riesenvielfalt. Diese Lehrkräfte kommen entsprechend den An
forderungen natürlich aus ganz unterschiedlichen Bereichen und bringen ganz unterschiedliche Vorbildungen mit. Ich bin sehr froh, dass wir an den beruflichen Schulen auch eine ganze Reihe von Quereinsteigern haben, die das, wofür sie die Schülerinnen und Schüler ausbilden, selbst bereits direkt vor Ort erlebt haben und die wissen, wie es in einem Betrieb zugeht. Das ist vermutlich nicht ganz unwichtig.
Wir haben auch bei den Schülern ganz unterschiedliche Voraussetzungen. Es wurde schon angesprochen: Es gibt Schüler, die mit Ach und Krach die Hauptschule geschafft haben, und es gibt andere Schüler, die mit Spitzenergebnissen aus den Realschulen kommen und an der beruflichen Schule ihr Abitur machen wollen. Daneben gibt es die Unterscheidung zwischen Vollzeit- und Teilzeitklassen.
Das Prinzip „Kein Abschluss ohne Anschluss“ – alle meine Vorredner haben das zu Recht bereits erwähnt – wird am allerbesten in den beruflichen Schulen umgesetzt. Die beruflichen Gymnasien stellen seit den Neunzigerjahren regelmäßig immerhin mindestens 30 % der Abiturienten; hinzu kommen die Absolventen mit Fachhochschulreife, sodass insgesamt die Quote von 50 % erreicht wird, die die Kollegin Krue ger eben nannte.
Ich habe jetzt einmal wieder in die Statistik geschaut und festgestellt: Wir haben bei den beruflichen Gymnasien – diese Zahl gilt wohlgemerkt für Baden-Württemberg insgesamt – eine Klassenstärke von durchschnittlich über 29 Schülern. Die Klassen dort sind also alle „hackevoll“. Man sollte diese Zahl einmal mit der durchschnittlichen Klassenstärke an allgemeinbildenden Gymnasien vergleichen. Dort liegt der Durchschnitt, meine ich, doch ein ganzes Stück niedriger. Wir müssen schauen, dass wir das Angebot der beruflichen Schulen ausweiten, weil das für viele Schülerinnen und Schüler nun einmal die einzige Möglichkeit ist, zum Abitur zu kommen. Das sind diejenigen, die die Theorie oft wirklich schon überhatten, die jedoch, wenn sie an einem beruflichen Gymnasium vor ganz anderen Herausforderungen stehen, plötzlich zu voller Form auflaufen.
Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe einen Sohn, der an einem beruflichen Gymnasium sein Abitur gemacht hat und der inzwischen als Diplomingenieur bei Porsche tätig ist. Er hat am beruflichen Gymnasium die Kurve wieder genommen, weil das eine andere Schulart war.
Ein weiteres besonderes Merkmal der beruflichen Schulen ist ihre starke Einbindung in Wirtschaft und Gesellschaft. Es ist die Schulart, die am meisten Kontakt mit Wirtschaft und Gesellschaft hat.
Ich will meine Ausführungen aber nun nicht in eine ultimative Lobhudelei ausarten lassen. Wer ab und zu im WDR die Sendung „Zimmer frei“ anschaut, der weiß, was ich meine: Es ist nicht immer unproblematisch, wenn über jemanden ausnahmslos Gutes geredet wird. Natürlich gibt es auch an beruflichen Schulen eine ganze Reihe von Punkten, die nicht un
bedingt positiv sind. Dies gilt z. B. für die Frage, welche Vorkenntnisse mitgebracht werden müssen. Wir werden morgen noch über das Thema Ausbildungsreife reden. Das Problem, dass am Ende einer Schullaufbahn, besonders an Hauptschulen, als Ergebnis nicht immer das herauskommt, was man sich für eine Berufsausbildung wünschen würde, macht natürlich auch und besonders den beruflichen Schulen und den dort tätigen Lehrern zu schaffen.
Das nächste Problem ist, dass die Schüler dort in einem Alter sind, bei dem ihre Eltern nicht unbedingt meinen, dass sie sich an der Schule noch mit engagieren müssten. Elternengagement ist aber für jede Schule wichtig, und es wäre auch an beruflichen Schulen wichtig. Das ist jedoch auch ein Defizit, das man leider beklagen muss.
Das Problem des Unterrichtsausfalls wurde schon angesprochen. Dieses Problem tritt auf, weil schlicht und ergreifend nach wie vor nicht alle Stellen zu besetzen sind. Das ist bereits seit vielen Jahren ein Riesenproblem. Wir arbeiten massiv an einer Lösung. Bereits zwischen 1996 und 2001, als ich für meine Fraktion schon einmal für diese Thematik zuständig war, haben wir uns sehr bemüht, Verbesserungen herbeizuführen. Aber der Markt gibt es nicht her. Hinzu kommt natürlich, dass die Wirtschaft über viele Jahre hinweg nicht mehr genügend Ausbildungsplätze im dualen System bereitgestellt hat, sodass der vollzeitschulische Bereich entsprechend stark ausgeweitet werden musste. Dieser Bereich benötigt aber naturgemäß mehr Lehrkräfte als der Teilzeitbereich.
Die Lücke zwischen der Zahl der Lehrstellen und der Zahl der Bewerber schließt sich allerdings inzwischen. Im letzten Jahr war zum ersten Mal die Zahl der bei den Arbeitsämtern gemeldeten Stellenangebote fast identisch mit der Zahl der dort gemeldeten Bewerber. 2006 gab es noch einen Überhang von ca. 30 000 Personen. Die Situation wird sich also ändern, und einiges andere wird sich auch ändern. Deshalb haben wir auch eine Enquete eingesetzt, die sich mit diesem Thema befasst.
Ich will mich aber schon jetzt bei allen bedanken, die trotz dieser beschriebenen Schwierigkeiten durch besonderen Einsatz an den Berufsschulen, an den beruflichen Schulen die Arbeit doch einigermaßen erträglich und gewinnbringend für Schülerinnen und Schüler und für uns alle machen.
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die berufliche Bildung in Baden-Württemberg ist ein Exportschlager unseres Landes. Konzeption und Qualität haben sich weltweit herumgesprochen, und wir haben jeden Monat Besuch von zwei, drei ausländischen Delegationen, die sich bei uns um eine Kooperation bemühen.
So etwas würde sicherlich nicht zustande kommen, wenn sich die berufliche Bildung hier in einem Jammertal befände, wie es uns Herr Kaufmann in schöner Regelmäßigkeit vormachen will.
Unsere Berufsschulen sind leistungsstark. Sie dienen der Integration und der sozialen Gerechtigkeit. Sie stehen in enger Kooperation mit der Wirtschaft. Sie leisten ungeheuer viel, was die Ausbildung von Fachkräften angeht – das hat bei Ihren Ausführungen fast gar keine Rolle gespielt –; sie sind am Puls der wirtschaftlichen Entwicklung, und deswegen sind sie innovativ. All das zusammengenommen führt dazu, dass man sich rings um den Globus für das interessiert, was bei uns entstanden ist, dafür, wie wir es machen, wie die Lehrkräfte bei uns ausgebildet und fortgebildet werden. Deswegen nutzen wir diese Möglichkeit der internationalen Vernetzung, weil auch die Internationalisierung ein wesentliches Ziel von beruflicher Bildung sein muss.
Dynamik und Innovation in der Wirtschaft beeinflussen die beruflichen Schulen unmittelbar. Sie verschaffen ihnen damit auch ein hohes Maß an Flexibilität. Berufliche Schulen müssen sich ständig auf Neues einstellen. In den letzten zwölf Jahren wurden rund 300 Ausbildungsberufe neu geordnet; etwa 70 neue Ausbildungsberufe sind entstanden und in diesem Zeitraum geordnet worden. All das ist in den Schulen eingeführt worden. Dem musste durch angemessenen Fachunterricht entsprochen werden, der von Lehrkräften gehalten wurde, die in diesen Berufen oft selbst keine Erfahrungen hatten, die sich also durch Fortbildung ganz schnell auf einen aktuellen Stand bringen mussten, um als Lehrkraft die notwendige Leistung zu erbringen.
Diese hohe Flexibilität der beruflichen Schulen erkenne ich ausdrücklich an. Sie ist eben deshalb möglich, weil die Steuerung der beruflichen Schulen bei uns auf einem sehr modernen Stand ist. Es ist also falsch, zu sagen, die Flexibilität sei trotz der Steuerung vorhanden.
Wir haben mit dem Konzept „Operativ Eigenständige Schule“ in den letzten zehn Jahren dafür gesorgt, dass die beruflichen Schulen in der Lage sind, sich regelmäßig den neuen Herausforderungen zu stellen, und wir bieten den Lehrerinnen und Lehrern der beruflichen Schulen so viel Fortbildung an, dass jede Lehrerin, jeder Lehrer jedes Jahr an einer Fortbildung teilnehmen kann, wenn es erforderlich ist.