(Abg. Reinhold Gall SPD: Ziffern 2 und 3! – Abg. Thomas Knapp SPD: Über die Ziffern 2 und 3 kön- nen wir gemeinsam abstimmen!)
Dann lasse ich über Abschnitt II Ziffer 2 und 3 des Antrags Drucksache 14/3484 abstimmen. Wer diesen beiden Ziffern zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Damit sind die Ziffern 2 und 3 mehrheitlich abgelehnt.
Antrag der Fraktion der SPD und Stellungnahme des Staatsministeriums – Äußerungen des Ministerpräsidenten zur mangelnden Ausbildungsreife von Schulabgängern in Baden-Württemberg – Drucksache 14/3486
Das Präsidium hat folgende Redezeiten festgelegt: für die Begründung fünf Minuten, für die Aussprache fünf Minuten je Fraktion.
Frau Präsidentin, Kolleginnen und Kollegen! Auch zu vorgerückter Stunde ist es sinnvoll, sich Gedanken über den Begriff „Ausbildungsreife“ zu machen, der zunehmend inflationär gebraucht wird, vor allem dann, wenn über Arbeitsmarktzahlen, über die Zahl der Ausbildungsplätze, über die Zahl der noch offenen Stellen und über die Zahl der Abgänger diskutiert wird. Oftmals wird ein Zusammenhang hergestellt nach dem Motto: Offensichtlich gibt es trotz arbeitsloser Jugendlicher noch viele offene Stellen. Das muss etwas mit der Ausbildungsreife dieser Jugendlichen zu tun haben.
Diskutiere ich über diese Frage mit dem Handwerksmeister, so kann er mir dies glaubhaft bestätigen. Der Handwerksmeis ter sagt mir allerdings, dass es gar nicht so sehr um den Schulabschluss gehe, sondern oftmals um Merkmale wie Pünktlichkeit, Ernsthaftigkeit und soziale Kompetenz, die aus seiner Sicht möglicherweise nicht gegeben sind. Das kann ich nachvollziehen.
Wenn, wie es mir von der Ausbildungsleiterin eines großen Mannheimer Industriebetriebs einmal erzählt wurde, ein Berufsschullehrer mit einer Klasse von 16 Schülern in das dortige Ausbildungszentrum kommt und von diesen 16 Schülerinnen und Schülern 14 Schüler erst kürzlich als Aussiedler aus dem Gebiet der ehemaligen UdSSR hierhergezogen sind und die deutsche Sprache so schlecht beherrschen, dass mit ihnen kein Gespräch geführt werden kann, dann betrachte ich die Frage, die sich dann stellt, nämlich wie diese Jugendlichen jemals die Ausbildungsreife erlangen und in diesem Betrieb übernommen werden könnten, ebenfalls als berechtigt.
Wenn ich im Supermarkt an der Kasse stehe und vor oder hinter mir ein paar Jugendliche stehen und sich in der typischen Jugendsprache mit der Kassiererin unterhalten, und ein Rentner, der hinter mir steht, fragt, wie diese Jugendlichen später denn jemals in einer Berufsschule bzw. in einem Ausbildungsbetrieb ihren Mann oder ihre Frau stehen sollen, dann kann ich auch das nachvollziehen.
Wenn sich aber ein Ministerpräsident oder andere Politiker öffentlich zum Thema Ausbildungsreife äußern, dann ist es wichtig, zu hinterfragen, was sie darunter verstehen und was sie damit erreichen wollen. Und schließlich: Welche Lösungen bieten sie denn an?
Ich bin sehr froh, dass der Ministerpräsident bei seiner Aussage, die Anlass für unseren Antrag war, Gott sei Dank nicht – das sage ich ausdrücklich – das gemacht hat, was ich oft erlebe, nämlich vor Ort beim Thema Ausbildungsreife den Eindruck zu erwecken, die mangelnde Ausbildungsreife sei das richtige Argument, um die Verantwortung wieder den Jugendlichen zuschieben zu können. Oft wird behauptet, trotz aller Förderung sei der Jugendliche nicht ausbildungsreif, also müsse das irgendetwas mit ihm zu tun haben. Meine Damen und Herren, wir sollten uns darauf verständigen, dass wir dieser Form der Diskussion entschieden entgegentreten müssen.
(Beifall bei der SPD – Abg. Karl Zimmermann CDU: Ach was! – Abg. Dr. Dietrich Birk CDU: Auch for- dern, nicht nur fördern!)
Jetzt kommen wir zu der völlig richtigen Zielvorgabe, dass jedes Kind die Schule ausbildungsreif verlassen muss. Das entspricht dem Programm, das der Ministerpräsident angekün digt hat.
Anspruch unseres Antrags war es, einmal zu schauen, was der erste Mann des Landes unter dem Begriff „Ausbildungsreife“ versteht. Was bietet er denn an, um festzustellen, wie ausbildungsreif die Jugendlichen sind? Wie will er denn das Ziel erreichen, alle Jugendlichen zur Ausbildungsreife zu führen?
Die Stellungnahme des Staatsministeriums, bei der ich vermute, dass Sie sich fachliche Unterstützung vom Kultusminis terium besorgt haben bzw. dass Sie diese mit dem Kultusministerium abgestimmt haben, fasse ich einmal so zusammen: Es wird deutlich, dass Sie im Moment weder fachlich noch strukturell, noch finanziell in der Lage sind und auch nicht die Voraussetzungen geschaffen haben, um das Ziel zu erreichen, alle Jugendlichen ausbildungsreif zu machen. Ich will das anhand von drei Punkten begründen.
Der erste Punkt bezieht sich auf die Definition der Ausbildungsreife. Am Beispiel des Handwerksmeisters habe ich dar
gestellt, dass es sicherlich zum einen um den Schulabschluss geht, daneben aber auch um soziale Kompetenzen, um das persönliche Auftreten, um die innere Einstellung zum Beruf, um die Entscheidung für einen Beruf und um die Frage, welche Bedeutung dem Beruf beigemessen wird. Das bezieht sich also auf all das, was wir unter berufskundlicher Vorbereitung verstehen.
In der Stellungnahme des Staatsministeriums wird Ausbildungsreife aber ausschließlich als Schulabschluss definiert. Wir erhalten sehr viele Angaben, die sich nur auf Schulabschlüsse und Schulabbrüche beziehen. Es wird aber kein Wort darüber verloren, wie man versuchen will, soziale Kompetenzen und weitere Inhalte der berufskundlichen Vorbereitung zu erfassen, um danach die Aussage treffen zu können: Wir haben es geschafft; unsere Jugendlichen sind ausbildungsreif.
Ein weiteres Indiz, das Sie nennen, ist die Zahl der Ausbildungsverträge, die geschlossen werden. Wenn diese Zahlen einander gegenübergestellt werden, dann merken Sie, dass es das allein auch nicht sein kann. Sie selbst geben oftmals zu, dass es, auch wenn Ausbildungsplätze vorhanden sind, Jugendliche gibt, die noch keinen Ausbildungsplatz haben und die in diesem Bereich offensichtlich nicht landen. An dieser Stelle geben Sie also zu, dass Ausbildungsreife etwas mehr ist als ein Schulabschluss und die Möglichkeit, sich auf einen Ausbildungsplatz zu bewerben.
Daher erwarten wir noch immer und weiterhin eine Diskussion über die Definition der Ausbildungsreife in ihrem umfassenden Anspruch; denn nur dann, wenn wir uns darauf geeinigt haben, können wir feststellen, ob dieses Ziel erreicht worden ist.
Zum Zweiten haben wir nachgefragt, was schulspezifisch angeboten wird, um die Ausbildungsreife zu erreichen. Dazu stellen Sie uns Ihre verschiedenen Angebote aus dem Bereich der Hauptschulen, des beruflichen Schulwesens, der Gymnasien und der Realschulen dar. Sie reduzieren das auf die Frage, ob Abschlüsse erreicht werden. Das akzeptiere ich jetzt einfach einmal so.
Aber auch da machen Sie geltend, dass beispielsweise im Hauptschulbereich die weitere Differenzierung in unterschiedliche Züge, die Weiterentwicklung des BVJ in BEJ und weitere Entwicklungsformen eine angemessene Antwort darauf seien, dass trotz 20 Jahren Hauptschulreform und aller möglichen anderen Maßnahmen aus genau diesem Bereich oft Jugendliche kommen, die trotz unserer Anstrengungen nicht ausbildungsreif sind, wenn sie die Schule verlassen.
Hier stelle ich fest, dass das wieder die alte Denkweise ist: Ich muss aus den Gruppen, die ich habe und die ich an ein bestimmtes Ziel führen will, noch mehr Einzelgruppen bilden. Ich muss noch weiter segmentieren, ich muss differenzieren, ich muss selektieren.
Dabei wird verkannt, dass wir, wenn es darum geht, einzelne Schüler trotz abweichender Empfehlungen zu weiterführenden Schulabschlüssen zu bringen, dann die größten Erfolge
sehen, wenn wir beispielsweise die Ergebnisse einer integrierten Gesamtschule oder anderer weiterführender Schulformen betrachten, die ihr Heil eben nicht darin sehen, die Schüler nach einem nicht ausreichenden Schulabschluss
dass im Gymnasium oft Schüler sind, die das Gymnasium nicht schaffen und schließlich völlig ohne Schulabschluss dastehen. Wir haben, Herr Röhm, manchmal die Frage besprochen: Was machen wir mit einem Schüler, der die neunte Klasse zweimal nicht schafft und das Gymnasium verlassen muss? Da gibt es dann clevere Rektoren. Ich nenne jetzt keine Namen.
Er macht die Schulfremdenprüfung. Das schlagen Sie ihm vor. Sie haben sich jetzt geoutet; insofern kann ich Sie nun auch persönlich ansprechen.
Er macht die Schulfremdenprüfung. Zu ihr müssen Sie den Schüler aber anmelden, obwohl Sie das eigentlich gar nicht dürften. Insofern merken Sie: Es ist nicht so, dass etwa auch das Gymnasium oder die Realschule in jedem Fall so organisiert sind, dass ein Schulabschluss auch dann noch innerhalb des Systems möglich ist, wenn derjenige das Ziel, das er ursprünglich anvisiert hat, nicht erreicht. Vielmehr haben wir genau da an den Übergängen erhebliche Probleme. Wir sollten, wenn wir den Schulabschluss als Ausbildungsreife definieren, dort dringend nachbessern, damit der Betreffende natürlicherweise auch auf dem Gymnasium das Angebot erhält, den Hauptschulabschluss zu machen, wenn er aus bestimmten Gründen nicht länger auf dem Gymnasium bleiben darf.
Wir alle wissen auch, dass Berufsorientierung und -vorbereitung durch entsprechende Praktika offensichtlich nicht ausreichen. Denn wenn ich sehe, wie in den Schulen meiner Kinder nach Möglichkeiten für ein BOGY-Praktikum gesucht wird, wenn ich sehe, mit welcher zum Teil lückenhaften Information – insbesondere, was das Handwerk angeht – solche Stellen gesucht werden,
(Abg. Heiderose Berroth FDP/DVP: Wo ist denn die mangelnde Information? Vor allem bei den Leh- rern!)
dann kann ich noch nicht feststellen, dass diese Maßnahme ausreichen wird, um eine solche Berufsorientierung zu ermöglichen.
Ich komme zum dritten Punkt, den ich ansprechen möchte. Das ist der frühkindliche Bereich. Denn wir alle sind uns völlig einig – das sprechen Sie auch an –, dass es eine durchlaufende Verantwortung vom frühkindlichen Bereich bis zum Übergang von der Schule in eine Ausbildung gibt. Sie unterstreichen das Thema Orientierungsplan, das Thema Bildungshaus, das Projekt „Schulreifes Kind“ und das Thema Sprachförderung. Wir alle wissen: Je früher wir hier ansetzen, desto mehr können wir – noch dazu mit weniger Mitteln – an Qualität erzeugen.
Wenn ich mir diese vier Bereiche anschaue, stelle ich mir die Frage: Wie wollen Sie hier die Basis legen, um Ausbildungsreife zu erreichen, wenn im Grunde die Bedeutung der Eltern und der Elternarbeit in dieser Woche gerade wieder aus dem Orientierungsplan gestrichen wurde? Denn genau das ist nicht mehr verbindlich vorgesehen.
Sie lassen auf Ihrem Landesparteitag zu, dass man die Meinung äußert, Eltern von vornherein dadurch erziehen zu können, dass man ihnen das Kindergeld wegnimmt und andere Maßnahmen ergreift, statt dass jemand von Ihnen aufsteht und sagt: „Solange wir die frühkindliche Bildung nicht dem Ziel zugeführt haben, das wir uns vorstellen, kann man mit den Eltern sicher nicht so umgehen.“
Wie wollen Sie Ihren Anspruch erfüllen, wenn man den Orientierungsplan nur halbherzig umsetzt und auf die Dokumentation verzichtet, die Voraussetzung einer guten Übergabe auch an die Grundschule ist? Wie soll das denn sonst funktionieren? Wie will man denn dann Elternarbeit organisieren? Wie wollen Sie den Übergang von der Kindertagesstätte in die Schule flächendeckend regeln, wenn Sie nur auf das Projekt „Schulreifes Kind“ hinweisen? Es gibt noch zwei, drei andere Projekte, die alle in der Fläche noch gar nicht umgesetzt werden.
Gott sei Dank wird das Thema „Sprachförderung in der Kindertagesstätte“ in den nächsten Landeshaushalt endlich aufgenommen werden, und die finanzielle Bezuschussung kann hoffentlich auch ohne ein kompliziertes Antragsverfahren durchgeführt werden.
(Zurufe von der CDU, u. a. Abg. Karl-Wilhelm Röhm: Sagen Sie als Arzt noch ein paar Sätze zu den Eltern! Das würde mich interessieren! Sie sind doch Arzt! – Abg. Heiderose Berroth FDP/DVP: Wir haben das Versprechen gehalten, Herr Kollege!)