Protokoll der Sitzung vom 27.07.2006

Nun wurde von Herrn Schebesta angesprochen, dass es von mir keinerlei Begründung für die Notwendigkeit eines Systemwechsels gegeben habe. Wir werden noch genügend Gelegenheit haben, das in ausführlicher Art und Weise dort zu diskutieren, wo es hingehört, nämlich im Schulausschuss.

Für heute nur so viel: Es verbieten sich nach meiner Auffassung kurzschlüssige Reförmchen. Es verbieten sich auch Gesamtlösungen, die ausschließlich von Visionen abgeleitet werden. Auch für mich ist die Vision einer gemeinsamen Schule für alle etwas sehr Attraktives. Es ist eine ursozialdemokratische Forderung. Um aber unter den herrschenden Gegebenheiten in Baden-Württemberg zu Veränderungen zu kommen, brauchen wir zweierlei: Das eine ist eine klare Reformperspektive, und das andere sind damit zusammenhängende und dazu passende Reformschritte. Die Reformperspektive heißt für uns: Keiner wird zurückgelassen, soziale Auslese muss verhindert werden, und alle Schülerinnen und Schüler müssen begabungsgerecht gefördert werden.

Die Schritte, die wir vorschlagen, sind folgende: Verlängerung der Grundschulzeit auf sechs Jahre, anschließend ein zweigliedriges Schulsystem, bei dem Hauptschule und Realschule zusammengeführt werden, und zwar unter konsequenter und durchgehender individueller Förderung, und eine möglichst garantierte Ausbildungsreife, für die die Schulen die Verantwortung tragen.

Dazu bedarf es Ressourcen. Die notwendigen Ressourcen, um diese Ziele zu erreichen, müssen den Schulen zur Verfügung gestellt werden zur Stärkung der Kompetenzen in den zentralen Fächern, zur Stärkung des Sozialverhaltens, zur stärkeren Berufs- und Praxisorientierung. All das muss im System passieren und darf nicht in teurerer Form einfach nur nachgelagert werden. Das gilt auch und insbesondere für die Schulsozialarbeit und für weitere Unterstützungssysteme. Sie müssen fest im Schulalltag verankert werden und sind deswegen zumindest teilweise auch Landesaufgabe.

Eine Zusammenführung von Hauptschule und Realschule könnte sowohl additiv als auch integrativ erfolgen. Das machen andere Bundesländer schon längst vor. Die Praxis ist auch in unserem Bundesland schon längst auf dem Weg. Ich nenne das Beispiel Amtzell. Es wurde der Ostalbkreis – unter Beteiligung des Landrates – angesprochen. Von einer ganzen Heerschar von Rektoren wurde genau dieser Weg gegangen bzw. dieser Weg eingefordert. Behindern Sie zumindest nicht diejenigen, die sich in dieser Richtung auf den Weg machen wollen, oder noch besser: Schließen Sie sich einfach an!

(Beifall bei der SPD)

Das Wort erteile ich Frau Abg. Dr. Arnold.

Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren! Ich möchte noch zwei Aspekte ansprechen, für die die Zeit nicht gereicht hat, die aber unserer Fraktion sehr wichtig sind. Herr Kollege Schebesta hat das schon angedeutet. Ich möchte es noch etwas weiter ausführen.

Wichtig ist doch letztendlich, welche Arbeit in der Schule vor Ort geleistet werden kann. Wir haben ein Beispiel in Aalen, wo es eine Hauptschule gibt, in der sich die Schulleitung und die Lehrerschaft zusammengetan haben und die Chancen nutzen, die heute schon in den neuen Bildungsplänen für die Hauptschule enthalten sind. In dieser Hauptschule wurden die Unterrichtszyklen aufgebrochen. Es wurden Projekte eingeführt. Die Schüler werden ermuntert, sich sehr intensiv am Schulleben zu beteiligen. Und es zeigt sich: Wenn eine Hauptschule bereit ist, die Chancen zu nutzen, die durch die neuen Bildungspläne gegeben sind, dann führt das zu einem Unterricht, der auch die Hauptschule sehr attraktiv macht.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Bravo!)

Der zweite Aspekt, den ich noch ansprechen möchte: Wir halten – wir betonen es noch einmal – eine Lösung der gegebenen Probleme am ehesten für möglich, wenn wir den Schulen und den Schulträgern vor Ort eine möglichst große

Autonomie gewähren und wenn sie speziell angepasst an ihre Situation reagieren können. Wir halten es auch für sehr, sehr wichtig, dass die Netzwerke genutzt werden, die es ja jetzt schon gibt, vor allem im ländlichen Bereich, die Netzwerke zwischen dem örtlichen Handwerk und der Hauptschule, die jetzt schon sehr eng zusammenarbeiten. Wir wissen von vielen Betrieben, die sich mit den Hauptschulleitern zusammentun und ihre Ausbildungsplätze anbieten, dass diese örtlichen Netzwerke gefährdet werden, wenn wir von oben irgendeine große Regelschule überstülpen. Wir wollen diese örtlichen Netzwerke erhalten. Auch deshalb plädieren wir für eine große Autonomie der Schulen vor Ort.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP/DVP und der CDU – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Bravo!)

Meine Damen und Herren, es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Die Aktuelle Debatte unter Tagesordnungspunkt 1 ist damit beendet.

Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:

Aktuelle Debatte – Auswirkungen der geplanten Gesundheitsreform auf das Land Baden-Württemberg – beantragt von der Fraktion der FDP/DVP

Es gelten die üblichen Redezeiten von jeweils fünf Minuten für die einleitenden Erklärungen und jeweils fünf Minuten für die Redner in der zweiten Runde.

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Dr. Noll.

Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn man eine Aktuelle Debatte beantragt, sollte man immer prüfen, ob es sich bei dem entsprechenden Thema nur um ein Nachplappern irgendwelcher Bundestagsdebatten handelt oder ob die Angelegenheit tatsächlich konkrete Auswirkungen für uns hier im Land hat.

Ad 1: Die geplante Gesundheitsreform ist im Parlament auf Bundesebene überhaupt nicht debattiert worden. Gerade das ist ja die Krux, dass dabei nur ganz wenige, die sich mehr oder weniger mögen, in mehr oder weniger schönen Nächten Dinge festzurren, die der parlamentarischen Kontrolle überhaupt nicht unterstellt werden. Deswegen behaupte ich: Wir müssen jetzt wirklich versuchen, auch in diesem Haus eine ganz große Koalition zu schmieden. Wir müssen verhindern, dass es dazu kommt, dass Fachlichkeit überhaupt keine Rolle mehr spielt, und die Frage stellen, wie wir unter Wahrung des Gesichts die Zusammenfügung zweier Konzepte aufbrechen können, die wie Feuer und Wasser sind und zwangsläufig keiner vernünftigen Lösung zugeführt werden können.

Zum Zweiten: Es kann nicht angehen, zu versuchen, alle Fachleute, die sich zum Thema zu Wort melden, mit einem Maulkorb zu versehen. Bei allem Verständnis dafür, dass man vorsichtig mit Versichertengeldern umzugehen hat, sollte diese Debatte doch auch dazu genutzt werden, diesen Leuten ein Sprachrohr zu geben.

(Der Redner hält ein Dokument in die Höhe.)

Was ich hier zeige, ist nicht das Manuskript meiner Rede, sondern das sind die Stellungnahmen aller Betroffenen – von der Ärzte- und Zahnärzteschaft über die Krankenhäuser bis zu den Spitzenverbänden der gesetzlichen Krankenkassen –, die sich alle einheitlich gegen die zentralen Eckpunkte dieser geplanten Gesundheitsreform wenden.

Deswegen lassen Sie uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, hier im Landtag von Baden-Württemberg gemeinsam – und ich spüre doch, dass es auch in den Regierungsfraktionen der Koalition in Berlin grummelt – versuchen, diese Eckpunkte noch einmal mit gesammeltem Sach- und Fachverstand zu überprüfen, um zu einer Änderung zu kommen.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Das soll das Ziel dieser Debatte sein.

Wir haben uns im Koalitionsvertrag ja mit den Kollegen der CDU darauf verständigt, dass wir bei allen Bundesratsangelegenheiten streng dem Interesse des Landes gemäß entscheiden wollen. Deswegen will ich heute einmal anhand einiger weniger Punkte über grundsätzliche Fragen hinaus einfach klar machen, wo Landesinteressen massiv gefährdet sind und beschädigt werden können, wenn diese Gesundheitsreform so umgesetzt wird.

Lassen Sie mich mit dem verniedlichend „Gesundheitsfonds“ genannten Modell, das ja das zentrale Element, der Stein der Weisen innerhalb dieser Eckpunkte zu sein scheint, beginnen. Wenn wir das letzte Stückchen Freiheit, das es im Gesundheitswesen überhaupt noch gibt, indem die Krankenkassen über ihre Selbstverwaltung berechtigt sind, Haushalte aufzustellen und im Rahmen gesetzlicher Vorgaben Beitragssätze festzulegen, dadurch abschaffen, dass wir erklärtermaßen von Staats wegen – künftig wird der Bundestag das bestimmen – einen einheitlichen Beitragssatz für alle Krankenkassen in der Bundesrepublik Deutschland festlegen, dann muss doch dem Letzten klar werden, dass wir auf dem Zieleinlauf zur sozialistischen Einheitskasse und Staatsmedizin sind.

(Beifall bei der FDP/DVP – Oh-Rufe von der SPD – Lachen bei den Grünen)

Es ist doch ein Treppenwitz, dass man unter dem Motto „Mehr Freiheit wagen“ gerade in einem sehr sensiblen Bereich das letzte Stückchen Freiheit beseitigt.

(Abg. Marianne Wonnay SPD: Echauffieren Sie sich doch nicht so! Das ist ganz ungesund!)

Es hat sich gezeigt, dass wir durch planwirtschaftliche Kollektivregelungen die Probleme nicht in den Griff bekommen haben. Wir müssen auf diesem Weg umkehren und denen wieder mehr Verantwortlichkeit geben, um die es geht: dem Arzt, seinen Patienten, den Versicherungsunternehmen, ihren Versicherten. Denen müssen wir wieder mehr Gestaltungsmöglichkeiten geben. Wenn wir den Krankenkassen zum Beispiel die Chance nehmen, einen niedrigeren Beitragssatz festzulegen, wenn sie gut wirtschaften, wo soll denn dann noch Wettbewerb existieren?

(Beifall bei der FDP/DVP und des Abg. Oswald Metzger GRÜNE)

Wenn die Krankenkassen gezwungen sind, auch das letzte bisschen Gestaltungsfreiheit im Leistungsvertragsrecht zugunsten einer zentralen Regelung abzugeben, dann sind gerade wir in Baden-Württemberg massivst betroffen. Denn wir haben doch zusammen mit den Ärzten, mit den Zahnärzten, mit den Krankenkassen für bestimmte Bereiche Sonderregelungen getroffen, auch im Leistungsbereich. Das alles wird nicht mehr möglich sein, wenn diese Gesundheitsreform tatsächlich Realität wird. Das wird die Qualität unseres Gesundheitswesens für alle Beteiligten – für unsere Patienten, für diejenigen, die im Gesundheitswesen arbeiten, und für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Krankenversicherungen – massiv beeinträchtigen.

Der nächste wichtige Punkt: Dieser Gesundheitsfonds wird ja immer so dargestellt: Das ist ein Fonds, da fließt Geld hinein, das vermehrt sich, und irgendwann holt man es wieder heraus.

(Heiterkeit)

Nichts von alledem! Da fließt Geld hinein wie in ein Fass ohne Boden, gemindert durch eine Menge Bürokratie.

(Beifall bei der FDP/DVP – Abg. Dr. Stefan Schef- fold CDU: Na ja, Bürokratie?)

Letztendlich werden die Krankenkassen nur noch zu Budgetverwaltern dieses Fonds genannten Einheitsbreis, der da geschaffen werden soll.

Lassen Sie mich das Thema Bürokratie noch einmal aufgreifen. Die durch die Bürokratie entstehenden Kosten sind keine Phantasiezahlen, sondern nachgewiesen von Krankenkassen. Die BKK hat mir direkt ausgerechnet, dass dieser Fonds mindestens doppelt so viel Bürokratiekosten verursachen wird, Geld, das letztendlich den Versicherten in diesem Land fehlen wird. Wir sind uns doch einig, dass es eines der Grundübel im Gesundheitswesen ist, dass wir immer mehr Geld in Bürokratie statt in die Versorgung der Menschen stecken.

(Beifall bei der FDP/DVP – Abg. Winfried Kretschmann GRÜNE meldet sich zu einer Zwi- schenfrage.)

Leider muss ich die weiteren Detailargumente auf die zweite Runde verschieben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP/DVP – Abg. Michael Theurer FDP/DVP: Sehr richtig!)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Hoffmann.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Ulrich Noll, das ist fürwahr ein Thema, das das Land Baden-Württemberg berührt. Ich bin dankbar, dass wir versuchen wollen, keine Stellvertreterdiskussion zu führen.

(Abg. Winfried Kretschmann GRÜNE: Ich meine, es droht immerhin der Sozialismus für Baden- Württemberg! Und Sie sind schuld! – Vereinzelt Heiterkeit)

Danke schön. Darf ich weitersprechen, Herr Kretschmann? – Aus der Sicht der CDU geht die Reform zwar in die richtige Richtung, aber sie ist noch nicht nachhaltig und noch nicht plausibel genug. Wir sind auch nicht völlig zufrieden mit den Eckpunkten. Ich glaube, da spreche ich im Namen aller, auch unserer Kollegen in Berlin und bei der SPD.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Abg. Dr. Ul- rich Noll FDP/DVP: Das ist doch gut!)

Große Koalitionen sind große Chancen, aber nur dann, wenn es viele Gemeinsamkeiten gibt. Es gibt bei keinem anderen Themenfeld so viele und so sehr unterschiedliche Vorstellungen wie bei der Gesundheitspolitik. Ich glaube, unter diesem Zeichen steht auch der Kompromiss, der gefunden worden ist. Aus der Sicht der CDU gilt das Wort von Machiavelli: „Wer sich mit einem halben Sieg begnügt, handelt allzeit klug. Denn immer verliert, wer einen Sieg bis zur Vernichtung des Gegners anstrebt.“ So etwa darf man sich die Formulierung der Eckpunkte vorstellen.