Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Morgens trauern und mittags streiten, obwohl es beide Male um sensible Themen geht, ist ein schwieriger Spagat. Ich denke, so, wie wir alle heute Morgen gemeinsam versucht haben, den Belangen der Familien und den Opfern des Amoklaufs in Winnenden gerecht zu werden, so sollte auch beim Thema Inklusion die Suche nach guten Lösungen allen ein gemeinsames Anliegen sein.
Uns liegen heute zwei Dokumente vor: Das eine gibt die Ausführungen des Expertenrats vom Februar 2010 wieder – ich bedanke mich bei ihm für die sachkundige Arbeit –, und beim anderen handelt es sich um den Gesetzentwurf der Fraktion GRÜNE vom Juni 2009.
Am Vormittag des 18. Februar 2010 wurden die Ergebnisse des Expertenrats öffentlich vorgestellt, und am Nachmittag des gleichen Tages haben die Grünen ihren Altantrag aus der Schublade gezogen, ohne dass sie die Ergebnisse des Expertenrats offensichtlich schon gekannt hätten. Das zeigt, liebe Frau Rastätter, was Sie von der Arbeit des Expertenrats zu halten scheinen, nämlich nichts.
Das ist dreist. Ich finde es dreist, einfach einen alten Antrag unverändert aus der Schublade zu ziehen und sich dann noch nicht einmal die Mühe zu machen, ihn zu überarbeiten. Sie haben beim Abschreiben dieses Antrags von anderen Bundesländern auch einen Fehler gemacht.
Dieses Gesetzentwurfs. – Sie haben beim Abschreiben dieses Gesetzentwurfs einen Fehler gemacht. Sie haben nämlich eine Schule nicht erwähnt: die Schule für Kranke. Das war offensichtlich von einem anderen Bundesland abgeschrieben. Das ist noch nachholbar.
Die Intention dieser Vorgehensweise ist aber klar. Ihnen geht es nicht darum, eine gute Lösung zu finden, sondern Ihnen geht es darum, als Erstes an diesem Tag dran zu sein.
Ohne Rücksicht auf Verluste und ohne Berücksichtigung des Expertenrats haben Sie Ihren alten Gesetzentwurf hervorgeholt.
Wir haben über das Thema Inklusion schon oft gesprochen – dies ist ja nicht die erste Sitzung, in der dieses Thema behandelt wird –, und man muss hier vielleicht auch den einen oder anderen Blick in die Zukunft richten. Vielleicht wird es dann noch besser.
Sie haben aber noch immer einen Fehler in Ihrem Gesetzentwurf. Sie blenden aus, dass behinderte Kinder 24 Stunden am Tag behindert sind und dass wir im Schulgesetz nur einen begrenzten Zeitraum regeln können, nämlich den Aufenthalt in der Schule.
Bevor Rechtsänderungen vorgenommen werden, müssen wir die Schnittstellen zu den Landkreisen klären. Kinder mit Behinderungen fahren nicht mit dem Linienbus in die Schule, sondern werden zu Hause abgeholt und auch nach Hause gebracht. Kinder mit Behinderungen brauchen in der Schule neben den Lehrern oftmals auch persönliche und medizinische Assistenz. Was machen Kinder in einer Regelschule, die z. B. auf den Rollstuhl angewiesen sind, auf einer Klassenfahrt? Wie wird mit solchen Fragen umgegangen, wie ist die Eingliederungshilfe in ein neues Schulsystem eingebunden?
Wir von den Regierungsfraktionen wollen den Menschen, den Familien mit behinderten Kindern ein funktionierendes Sys tem anbieten, ein System, auf das sie sich verlassen können und bei dem nicht erst hinterher in Verordnungen geregelt werden muss, was dabei herauskommen soll.
Wenn Sie das Schulgesetz ändern wollen, müssen Sie den Familien sagen können, was auf sie zukommt. Das tun Sie nicht.
Ich sage Ihnen, was wir wollen, welche Schlüsse wir aus den Vorschlägen des Expertenrats ziehen. Der Expertenrat hat uns geraten – genau das werden wir auch tun –, ein umfassendes Elternwahlrecht einzuführen, ein Elternwahlrecht, das sehr nah an den Empfehlungen des Expertenrats ist und das ein möglichst wohnortnahes Angebot für die Kinder darstellt – entweder in einer Regelschule oder in einer Sonderschule. Wir wollen die Sonderschulen nicht auflösen, sondern wir wollen die Sonderschulen zu Kompetenzzentren ausbauen und den Eltern das Angebot machen, auf Augenhöhe zwischen zwei Angeboten wählen zu können. Wir halten das für den richtigen Weg.
Die Entscheidung – das hat auch der Expertenrat gesagt – muss sich danach richten, was für das behinderte Kind und für seine Eltern maßgeblich ist. Wir wollen auch, dass die Eltern ohne Kampf mit Ämtern und ohne Hürden in der Verwaltung und in der Bürokratie
Frau Rastätter, es gibt nun einen Punkt, an dem wir uns elementar unterscheiden. In vielen Punkten sind wir uns sicherlich einig; das will ich ausdrücklich sagen. In folgendem Punkt aber unterscheiden wir uns ganz extrem: Sie fordern in Ihrem Gesetzentwurf, dass die Sonderschulen F und E aufgelöst werden sollen.
Das heißt, Sie wollen diese Schulen abschaffen. Dann gibt es dort kein Wahlrecht mehr, sondern generell nur noch die Möglichkeit, eine Regelschule zu besuchen. Wir denken nicht, dass dies eine sinnvolle Lösung ist. Warum vertrauen Sie denn den Eltern bei diesem Punkt nicht?
Wenn wir heute doch F- und E-Schulen haben, die besucht werden, und wenn die Eltern ein Wahlrecht haben, das wirklich gleichwertig sein muss, dann kann man sich doch darauf verlassen, dass die Eltern die richtige Entscheidung treffen.
Wenn uns – das kann passieren – alle Eltern davonlaufen, alle sagen: „Wir wollen aus der F-Schule und aus der E-Schule in eine Regelschule“, dann können wir doch in Gottes Namen nach einer gewissen Zeit noch immer entscheiden, was wir tun. Aber warum am Anfang das Wahlrecht einschränken und die Qualität, die diese Schulen haben, im Grunde auf dem Altar opfern, ohne dass wir wissen, wie der Weg in die Zukunft geht? Wir wollen auf Sicht fahren und nicht im Nebel.
Es gibt einen Punkt, bei dem wir vom Expertenrat abweichen. Der Expertenrat schlägt Modellregionen vor. Wir haben in Baden-Württemberg in den letzten Jahrzehnten wahrlich genug Modelle ausprobiert, was in diesem Fall ein Glück ist, weil wir auf diese Modelle zurückgreifen können.
Wir denken, dass wir in nächster Zeit mit der Umsetzung der Vorschläge des Expertenrats beginnen können. Wir haben die Möglichkeit, vielleicht noch in diesem Jahr – das wäre der Wunsch der CDU-Fraktion – die entsprechenden Signale an die Eltern, an die Schulamtsbezirke, an die Sonderschulen zu geben, um die Systeme umzusetzen und ein Wahlrecht einzuräumen.
Wir haben vor – wir wollen das auch so machen –, einem Rat zu folgen. Der Expertenrat hat uns geraten, in Pilotregionen die Schulversuche bzw. deren Umsetzung zu begleiten, weil es um die Anbindung zur Eingliederungshilfe, zum Landratsamt geht. Das wollen wir tun.
Jetzt will ich aber eines ganz deutlich sagen: Wir wollen auch, dass Regionen, die von Beginn an so weit sind, die Inklusion im Rahmen eines Wahlrechts umzusetzen, nicht warten müssen. Die Regionen, die auf der Höhe der Zeit sind, können mit
oder ohne Pilotversuch in die Umsetzung gehen und können sich an dieser Sache beteiligen. Wir wollen Qualität vor Geschwindigkeit, wir wollen aber nicht diejenigen bremsen, die schon sehr weit sind.
Gestern waren Vertreter der Stadt Freiburg bei uns, die sich entsprechend geäußert haben. Ich bin relativ sicher, dass auch der Landkreis, aus dem ich komme, in der Lage wäre, eine entsprechende Umsetzung vorzunehmen. Sie wissen, dass wir mit der Gebhardschule Erfahrungen im Bereich der Inklusion haben.
Also: Wir wollen umsetzen, wir wollen schnell umsetzen, und wir wollen den Eltern einen sehr konkreten Zeitplan geben – noch in diesem Jahr, bis zu den Sommerferien –, wie es in dieser Angelegenheit weitergeht.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, Herr Hoffmann, um uns ausführlich über den Expertenrat zu unterhalten. Das müssen wir in der Tat auch noch machen.
Ich denke, wir sollten uns sehr ernsthaft mit diesem Thema beschäftigen und nicht mit irgendwelchen Unterstellungen arbeiten, was die Motive angeht. Inklusion, meine Damen und Herren, ist vor allem deswegen Thema geworden, weil Artikel 24 der UN-Konvention dies eindeutig als völkerrechtsverbindlich festgelegt hat. Auch die Bundesrepublik Deutschland hat dieser UN-Konvention zugestimmt. Es geht darum, dass aus dieser UN-Konvention – das sagen auch die Fachleute, u. a. der Völkerrechtler Professor Dr. Riedel – ein Rechtsanspruch, ein unmittelbarer individueller Rechtsanspruch auf inklusive Bildung abzuleiten ist. Da geht es nicht um das, was der Expertenrat angesprochen hat und was auch Sie, Herr Hoffmann, angesprochen haben, nämlich ein eingeschränktes Elternwahlrecht vorzuschlagen. Das ist der Unterschied. Es geht um ein uneingeschränktes Elternwahlrecht. Schule hat sich auf die Kinder einzustellen und nicht die Kinder auf die Schule. Das ist der große Unterschied.
Deswegen ist es notwendig, dass wir möglichst schnell zu einer gesetzlichen Regelung kommen. Wir haben schon vorgetragen, was unsere Position ist, worauf es uns ankommt, und in einem erneuten Antrag legen wir Wert darauf, dass noch in dieser Legislaturperiode das Schulgesetz geändert wird. Wir möchten jetzt nicht, wie der Expertenrat vorgeschlagen hat – da stimmen wir mit Ihnen überein –, noch weitere Modellversuche. Wir hatten in der Zeit der Großen Koalition von 1992 bis 1996 Modellversuche, wir haben verschiedene Modellversuche in Form von ISEPs in Außenklassen. Wir wissen also Bescheid. Außerdem hilft es manchmal auch, wenn man über den Tellerrand des eigenen Landes hinausschaut. Wir brauchen also keine weiteren Modellversuche. Wir müssen endlich zur Tat schreiten; darum geht es.
Dieses uneingeschränkte Elternwahlrecht ist das, was wir wollen. Ich frage mich auch – das geht in Richtung Kultusverwaltung, geht aber auch in Richtung der Skeptiker –: Wenn denn alle so sicher sind, dass die Sonderschulen weiterhin von den Eltern gewünscht werden, wie Sie das sagen, warum sollen wir dann nicht ein uneingeschränktes Elternwahlrecht einführen? Sie brauchen doch gar keine Sorge zu haben, dass das Sonderschulwesen am Ende nicht mehr vorhanden sein könn te.
Wir stimmen dem Gesetzentwurf in der Intention zu. Allerdings – Frau Rastätter, das hatte ich Ihnen auch schon im Schulausschuss gesagt – findet § 84 nicht unsere Zustimmung. Unsere Zustimmung bedeutet also in diesem Fall eine modifizierte Zustimmung, weil wir in der Tat der Meinung sind, dass wir insgesamt das Sonderschulangebot erhalten sollten, weil Eltern erst dann tatsächlich ein Wahlrecht haben, wenn sie zwischen einer Regelschule und einer entsprechenden Sonderschule wählen können.