Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die unterbrochene Sitzung des Landtags von Ba den-Württemberg wird fortgesetzt.
Zur Vorbereitung der Regierungsbefragung hat das Staatsmi nisterium folgende drei zentrale Themen der Kabinettssitzung am 3. Mai 2010 mitgeteilt:
Für eine einleitende Erklärung zum Thema „Schulische Bil dung von jungen Menschen mit Behinderung – Miteinander in der Vielfalt und Vielfalt im Miteinander“ darf ich der Mi nisterin für Kultus, Jugend und Sport, Frau Professorin Dr. Schick, das Wort erteilen.
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Her ren! Heute ist der Tag der Menschen mit Behinderungen. Des wegen ist es gut, wenn wir heute Gelegenheit haben, hier zu dem Konzept der Regierung zur Umsetzung der UN-Behin dertenrechtskonvention einige Fragen zu klären.
Es ist ein gutes Zeichen für Menschen mit Behinderungen, dass wir gerade in dieser Woche das Umsetzungskonzept des Kultusministeriums im Ministerrat verabschiedet haben und damit die Empfehlungen der Expertenkommission, die wir im letzten Jahr eingesetzt haben, eine hohe Akzeptanz erfahren haben.
Das Thema ist von hoher Bedeutung; das erleben wir alle in unseren Kontakten. Es ist ein Thema, das mit besonderer Sen sibilität und Behutsamkeit, aber gleichzeitig auch mit hoher Konsequenz und hohem Nachdruck angegangen werden muss.
Wir werden bei der Umsetzung der Empfehlungen des Exper tenrats die richtige Lösung für den einzelnen jungen Men schen mit Behinderung im Blick haben und für jeden Einzel nen die richtige Lösung vor Ort entwickeln.
Das Instrument hierzu wird die Bildungswegekonferenz sein, die zum nächsten Schuljahr in den Schulamtsbezirken umge setzt wird, und zwar – es erscheint mir wichtig, das noch ein mal zu betonen – von allen Staatlichen Schulämtern.
Um vertiefte Erfahrungen zu gewinnen – auch für die anste hende Schulgesetzänderung –, weisen wir ab dem nächsten Schuljahr fünf Schwerpunkterprobungsregionen aus, in denen die Situation, auch die Umsetzungssituation, mit besonderem Nachdruck beobachtet und analysiert wird. Dort werden die wesentlichen Erkenntnisse gesammelt, um die Schulgesetz änderung vorzubereiten und dabei eine Reihe von Folgefra gen zu beantworten, z. B.: Wie muss bei einer inklusiven Be schulung die Notengebung aussehen? Wie muss die Verset zungsordnung gestaltet werden? Wie müssen die Ressourcen gesteuert werden? Welche Inhalte und Vorgehensweisen brau chen wir bei der Lehreraus- und -fortbildung? Was müssen wir entwickeln, um die Schulen in privater Trägerschaft hier mit einzubeziehen? Welche Auswirkungen hat die Auswei sung von Schulbezirken in diesem Zusammenhang?
Wir werden auch durch die Ausweitung der gemeinsamen Be schulung Erkenntnisse gewinnen – nicht nur in den Erpro bungsregionen, sondern im ganzen Land –, und zwar Erkennt nisse darüber, wie sich die Rolle der Sonderschulen weiter entwickeln wird, die wir als sonderpädagogische Kompetenz
Diese Fragestellungen werden in den Erprobungsregionen schwerpunktmäßig beleuchtet. Dann wird daraus die Schul gesetzänderung vorbereitet. Gleichzeitig wird, von den Schul ämtern ausgehend, die gemeinsame Beschulung im ganzen Land ausgeweitet.
Was sind die nächsten Schritte? Wir werden nach der nun er folgten Kabinettsbefassung und -verabschiedung zunächst Auftaktveranstaltungen in allen Schwerpunktregionen und dann darüber hinaus Informationsveranstaltungen in allen Re gionen des Landes durchführen. Wir werden eine Internet plattform mit Leitfragen zur Weiterentwicklung der Schulkon zepte aufbauen und damit auch ein Ansprechpartnersystem im Land entwickeln, das kompetente Ansprechpartner ausweist, vor allem auch Pädagogen und Pädagoginnen, die bereits Er fahrung mit der gemeinsamen Beschulung von jungen Men schen mit und ohne Behinderungen haben.
Wir sind im Moment dabei, ein Fortbildungskonzept zu ent wickeln und dann sehr schnell in die Handlung umzusetzen, bei dem vor allem auch Lehrer und Lehrerinnen hospitieren werden, sich Erfahrungen anschauen werden, die wir im Land mit der gemeinsamen Beschulung junger Menschen mit und ohne Behinderungen bereits haben.
Ich darf noch einmal darauf hinweisen, dass Baden-Württem berg hier von einem der höchsten Niveaus in ganz Deutsch land aus startet. Knapp 30 % der jungen Menschen mit fest gestelltem sonderpädagogischem Förderbedarf sind bereits heute in das allgemeine Schulsystem eingegliedert. Das ist ei ne der höchsten Quoten in Deutschland. Wir haben gleichzei tig – ich glaube, es ist auch wichtig, die Qualität noch einmal zu betonen – die deutschlandweit niedrigste Quote von jun gen Menschen mit Behinderungen, die ohne Schulabschluss eine allgemeine Schule oder eine Sonderschule verlassen. Das heißt, wir sind heute das erfolgreichste Land bei der Beschu lung von jungen Menschen mit und ohne Behinderungen.
Der Weg, den wir einschlagen, ist von Konsequenz und gleich zeitig von Verständnis und Behutsamkeit gekennzeichnet. Die allgemeinen Schulen, die in diesem Zusammenhang noch kei ne Erfahrungen haben, müssen sich dem Thema annähern. Es gibt aber den klaren Auftrag an alle Schulämter im Land, in itiierend und unterstützend tätig zu werden – nicht abwartend, sondern initiativ –, damit wir flächendeckend zu einer noch höheren Quote der gemeinsamen Beschulung kommen und inklusive Lösungen zum Normal- und Standardfall werden.
Wir werden gleichzeitig ein Monitoring aufbauen und damit auch überprüfen können, wie unsere Regelungen uns dem Ziel näherbringen und wie wir sie dann unterwegs noch weiter an passen können.
Deswegen und zusammenfassend sage ich: Wir beschreiten nun den Weg zur vorgeprüften und definierten Änderung des Schulgesetzes.
Frau Ministerin, herzli chen Dank für Ihre Ausführungen. Wir sind unsererseits sehr froh, dass Sie diesen Weg so forsch und mit festen Vorhaben beschreiten.
Sie haben die Aufgabe der Schwerpunktschulämter herausge stellt. Ich möchte gern folgende Frage stellen: Welche Mög lichkeiten sehen Sie darüber hinaus, junge Familien, die sich schon jetzt auf den Weg machen wollen, außerhalb dieser Schwerpunktschulämter zu unterstützen?
Frau Abgeordnete, wir haben alle Staatlichen Schul ämter bereits darüber informiert, dass wir von ihnen eine In itiativhaltung erwarten. Der große Unterschied zur jetzigen Situation wird sicherlich sein, dass mit Beginn des nächsten Schuljahrs flächendeckend alle Schulämter die Aufgabe ha ben, hier von sich aus Lösungen zu erarbeiten, und vor allem Eltern nicht in der Rolle sein sollten, auf eigene Faust und auf eigene Verantwortung Kooperationspartner suchen zu müs sen. Dies ist ab sofort Aufgabe aller Staatlichen Schulämter, sodass wir den Eltern eine nachhaltige Unterstützung bieten können. So gewährleisten wir, dass im Ergebnis auch in den Nichterprobungsregionen für die Eltern und die behinderten Kinder ab sofort ein deutlicher Wechsel und Fortschritt zu er leben sein wird.
dass wir jetzt in allen Schulamtsbezirken beginnen sollten. Die „Beobachtungsschulämter“ oder die „Versuchsschuläm ter“ sind ja gehalten, entsprechende Vorgaben zu machen. Für uns gibt es dabei eine ganz maßgebliche Bedingung, nämlich dass wir Schulen haben, die von ihrer Ausstattung her integ rationsfähig sind, die aber auch integrationswillig sind. Das heißt, die behinderten Kinder müssen an diesen Schulen will kommen sein. Wir dürfen nicht im ersten Schritt Schulen ver pflichten. Jede Schule muss irgendwann integrationsfähig sein, aber im ersten Schritt ist es, glaube ich, wichtig, dass man die entsprechenden Maßnahmen auch auf Integrations willigkeit bezieht.
Zu meiner Frage: Wir haben zwei unterschiedliche Personen kreise. Zum einen haben wir heute Kinder in Sonderschulen, bei denen sicher schon viel zum Thema „Integration an Re gelschulen“ gemacht worden ist. Haben diese Kinder auch die Möglichkeit, im nächsten Schuljahr in eine Regelschule zu wechseln?
Zum anderen geht es um die Eltern, die ein behindertes Kind haben, das neu in die Schule kommt. Kann ihnen tatsächlich – wir hätten das gern – ab dem kommenden Schuljahr ein An gebot in einer Regelschule gemacht werden?
Herr Abgeordneter, es ist Aufgabe der Staatlichen Schulämter, mithilfe der Bildungswegekonferenz an dem run den Tisch passgenaue Lösungen für beide von Ihnen ange sprochenen Personenkreise zu erarbeiten. Das heißt, sowohl Kinder mit Behinderungen mit einem festgestellten sonder pädagogischen Förderbedarf, die neu eingeschult werden, als auch Kinder, die bereits an einer Sonderschule sind, können, wenn die Eltern – und hoffentlich auch die Kinder – es wün schen, diese Frage selbstverständlich in Zusammenarbeit mit dem Staatlichen Schulamt neu aufrollen.
Es gibt hier keine Stichtagsregelungen, es gibt keine Normie rungen, es gibt keine vorgeschriebenen Modellvarianten. Aus unserer Sicht gibt es ausschließlich eine Orientierung am Ein zelfall, und es gibt die Orientierung am elterlichen Erzie hungsplan.
Frau Ministerin, Sie haben im We sentlichen die Ergebnisse und die Vorschläge der Experten kommission übernommen, und Sie führen jetzt Modellversu che ein. Ich bin etwas überrascht über ein Schreiben des Staat lichen Schulamts Konstanz, in dem die Schulen dringend da rum gebeten werden, auf Eigeninitiativen mit Eltern, Kolle gien oder Schulträgern zu verzichten. Das ist für mich ein Wi derspruch zu dem, was Sie eben dargestellt haben.
Wir waren uns im Schulausschuss darüber einig, dass wir kei ne Testversuche, keine Testläufe, keine Schulversuche brau chen. Es gibt genügend Erfahrungen, Erkenntnisse, Modelle und Studien. Ich habe Ihnen hier welche mitgebracht. Ich empfehle sie Ihnen gern zur Lektüre. Es gibt haufenweise Er gebnisse. Jetzt muss es darum gehen, diese Ergebnisse end lich umzusetzen.
Das, was Sie machen, ist ein Hinausschieben um weitere zwei bis drei Jahre. Wir wollen, dass das Schulgesetz jetzt geändert wird, und zwar noch in dieser Legislaturperiode, weil die El tern im Hinblick auf das Elternwahlrecht unserer Meinung nach auch einen Rechtsanspruch haben und Sicherheit benö tigen.
Ich kann Ihnen Beispiele von Eltern nennen, die eine wahre Odyssee durchlaufen, wenn sie ihr Kind an eine Regelschule schicken wollen. Das jüngste Beispiel: Lassen Sie sich ein mal aus Kressbronn erzählen, was dortige Eltern alles mitma chen.
Sie sprechen laufend von „passgenau“. Meine Frage ist: Was heißt denn „passgenau“? Das ist letztendlich nichts anderes als eine Einzelfallentscheidung. Damit werden die Eltern wie derum zu Bittstellern.
Die zweite wichtige Frage in diesem Zusammenhang ist: Wenn Sie jede Gelegenheit nutzen, um zu betonen, dass 30 % der Kinder schon jetzt gemeinsam unterrichtet werden, müs sen Sie auch wissen, dass dies immer unter der Maßgabe des zielgleichen Unterrichts stattfindet. Zieldifferenter Unterricht findet eben nicht satt. Aber zieldifferenter Unterricht ist ge nau das, was dringend notwendig ist. Sind Sie bereit, zieldif
ferenten Unterricht auch in dieser Vorphase zuzulassen? Was sagen Sie eigentlich den Eltern, die jetzt erklären, dass sie nicht zu lange warten wollen und ihr Kind im nächsten Schul jahr inklusiv unterrichtet haben wollen?