Protokoll der Sitzung vom 10.06.2010

Bei den Bildungszielen werden wir heute Folgendes erleben: Wir haben zwei parallel laufende Entwicklungen. Zunächst

einmal sind die Bildungsziele jetzt im Fünfpunktekatalog in Europa enthalten. Die Ziele sind akzeptiert, auch wenn Deutschland etwas widerspenstig war oder sich gewehrt hat und der Herr Minister jetzt sagt: „Ich habe durchgesetzt, dass man nicht kontrolliert werden kann.“

Aber gleichzeitig findet heute ein Bildungsgipfel zwischen Bund und Ländern statt. Die Frau Bundeskanzlerin – CDU – hat bereits im Vorfeld gesagt: „Mich interessieren die Men schen und nicht Zuständigkeiten zwischen Bund und Län dern.“ Ich bin gespannt, was von unserem Land nun zur Bun deskanzlerin gesagt wird. Tatsächlich wird in jedem Fall ganz klar sein, dass gemeinsame Bildungsziele auf dem Kontinent eine Rolle spielen. Denn wir sind der Meinung, dass es Qua lifikationsrahmen gibt, die homogen sein müssen. Es wird ein fach passieren, Kolleginnen und Kollegen. Auch bei der Ge bäudeenergieeffizienz, bei der Bodenschutzrichtlinie usw. wird das Messen an den besseren Praktiken einfach der Nor malfall sein.

Man kann nicht einfach sagen: Ich wehre legalistisch etwas ab. Man muss sich darauf einlassen. Man verlässt natürlich die Welt der Gewissheit, der klar abgegrenzten Zuständigkei ten und begibt sich in eine Welt der Verabredungen und in ei ne Welt der Überzeugungen. Aber das wird so sein müssen, wenn man im Sinne von Michael Otto und hoffentlich vielen anderen, die so agieren, einen starken Raum Europa in dieser Welt herstellen will. Das ist unsere Aufgabe, auch wenn der Lissabon-Vertrag und all das, was verabredet worden ist, Eu ropa als eine supranationale Instanz sieht und nicht als einen Bundesstaat.

Ich glaube, dass wir jetzt einfach einiges machen müssen. Das Erste ist, dass wir als Baden-Württemberger im Wirtschafts- und Sozialraum, im Natur- und Zivilisationsraum Europa da für werben müssen, dass wir mehr gemeinsame Standards brauchen. Es geht nicht um die Welt der Gesetze; es geht um die Welt der Standards. Diese muss man anstreben, und dafür braucht man ein aktives Baden-Württemberg.

Ich glaube, dass wir eine Regierung brauchen, die den Land tag in allen gesetzlichen Kernaufgaben, die er als Landtag hat, auch wirklich aktiv einbezieht, und zwar nicht nur über eine Unterrichtung en passant. Dieser Landtag muss tatsächlich – das habe ich auch von Kolleginnen und Kollegen der CDU gehört – rechtzeitig bei den eigenen Kernaufgaben – Bildung, Sicherheit dieses Landes – wirklich europäisch mitdiskutie ren und nicht nur nachvollziehen, was die Exekutive vorgibt. Das ist auch ein wichtiger Punkt.

(Abg. Dr. Klaus Schüle CDU: Sehr gut!)

Der dritte wichtige Punkt ist, dass die Regierung tatsächlich in den Gremien dieses Landtags präsent ist, dass wir in der Lage sind, miteinander zu sprechen, und dass wir dies recht zeitig tun. Dafür wollen wir eine Art Frühwarnsystem zur In formationsübermittlung einsetzen. Wir wollen dann, wenn es notwendig ist, auch die Subsidiaritätskontrolle wirksam wer den lassen. Das setzt aber eine Gesprächssituation voraus und kann nicht nach dem Muster geschehen: „Wir folgen euch, weil ihr der Meinung seid, dem Land Baden-Württemberg ge schieht etwas Unrechtes; irgendetwas bricht über uns herein.“ Dafür muss man miteinander sprechen und sich politisch aus einandersetzen. Das vermisse ich derzeit.

Viertens brauchen wir so etwas wie eine europäische Öffent lichkeitsarbeit in diesem Land Baden-Württemberg. Ich sehe sie im Augenblick zu wenig. Ich sehe im Westdeutschen Rundfunk das „Europamagazin“, das dort jede Woche oder alle 14 Tage ausgestrahlt wird. Der SWR hat keine Programm schiene für etwas Derartiges. Ich würde mich freuen, wenn wir in der Lage wären, vorhandenen Ressentiments – „wir zahlen denen ja bloß“ – durch eine gute europäische Öffent lichkeitsarbeit auch bei uns den Boden zu entziehen und statt dessen eine proeuropäische Haltung zu schaffen.

Ich glaube, das muss uns beim Thema Subsidiarität beschäf tigen – nicht ein Einigeln, ein Verschanzen in Positionen. Das ist als Ausgangspunkt für eine eigene europapolitische Hal tung notwendig.

Lassen Sie mich zum Schluss noch eines sagen – der Begriff Subsidiarität steht ja nicht zusammenhanglos in der Welt –: Aus der katholischen Soziallehre ist klar, dass zur Subsidiari tät neben der Personalität immer auch die Solidarität gehört. Das sind die drei Punkte, die Trias, die eine Rolle spielen, die sich gegenseitig bedingen. Ich wünsche mir, dass wir in der Lage sind, neben der europäischen Subsidiarität dort, wo es wirksam ist, insbesondere im Blick auf unsere Kommunen, die europäische Solidarität auch zu leben. Diese ist nicht ge meint als eine Solidarität nach dem Motto „Wir geben etwas“, sondern als ein gemeinsames Denken, ein gemeinsames Dis kutieren. Wenn nicht der Landtag von Baden-Württemberg, mitten im Herzen von Europa, wer dann ist eigentlich aufge rufen, diese Grundhaltung zu haben?

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und den Grünen – Abg. Karl Zimmermann CDU: Sie hätten einen guten Italiener abgegeben!)

Das Wort erhält Herr Abg. Dr. Noll.

Herr Präsident, verehrte Kol leginnen und Kollegen! Wenn man den Antrag der Fraktion GRÜNE gelesen hat und wenn man die Reden, vor allem die von Herrn Walter, gehört hat, könnte man zu dem Eindruck gelangen, dass Subsidiarität und glühender Kampf für Euro pa ein Widerspruch sei. Dem ist nicht so.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Was hat denn im Wesentlichen überhaupt erst zu der Verdros senheit der Bürgerinnen und Bürger beim Thema Europa ge führt? Diese Verdrossenheit kommt daher, dass sich Europa eben nicht auf seine Kernbereiche beschränkt und dass Euro pa im Bewusstsein der Bürger diesen Mehrwert – Frieden, Wohlstand, Sicherheit – jetzt eben nicht garantiert, sondern dass man sich an viel zu vielen Stellen verzettelt hat, weil man sich in allen möglichen Politikbereichen bis in die kleinsten Details eingemischt hat.

(Beifall bei der FDP/DVP und des Abg. Karl Zim mermann CDU – Widerspruch bei der SPD)

Deswegen sage ich: Wer Subsidiarität einfordert, so wie wir es tun – dazu stehe ich –, der ist kein Antieuropäer, sondern er ist gerade jemand, der ein starkes Europa will. Jemand wie er sagt den Menschen: Jawohl, wir stehen hinter diesem Eu

ropa; Europa bedeutet für uns alle die Zukunft. Aber wir ste hen nicht für ein bürokratisches Monster, das uns ständig mit neuen Vorschriften verwirrt.

(Beifall bei der FDP/DVP – Abg. Hagen Kluck FDP/ DVP: So ist es!)

Subsidiarität ist der Schlüsselbegriff. Dieses Prinzip wird doch im Grunde von niemandem bestritten.

Jetzt ist Herr Hofelich auf die katholische Soziallehre, aus der das subsidiäre Prinzip kommt, eingegangen. Ich gehe noch ein Stück weiter zurück als Sie. Woher stammt denn das Wort „subsidium“ respektive „subsidia“? Das war ein militärischer Begriff der Römer. Er bedeutete, dass das Imperium, wenn Soldaten vor Ort mit irgendeinem Problem nicht fertig gewor den sind, Hilfstruppen schicken konnte, um des Problems Herr zu werden. Das nämlich heißt „subsidia“.

Jetzt möchte ich die Hilfstruppen auf die heutige Zeit bezie hen: Gegen internationale Finanzspekulationen brauchen wir Hilfe. Aber Hilfe, die uns aufgedrängt wird, die uns bei der Lösung unserer Probleme nur behindert, wollen wir natürlich nicht haben.

(Beifall bei der FDP/DVP – Abg. Hagen Kluck FDP/ DVP: So ist es!)

Es ist natürlich völlig legitim, dass in den Debatten in diesem Haus auch unterschiedliche Schwerpunkte gesehen werden. Es sind verschiedene Bereiche genannt worden.

(Zuruf des Abg. Hagen Kluck FDP/DVP)

Mir liegt natürlich der Sozialbereich, der Gesundheitsbereich näher. Auch dabei ist klar, dass man in einem zusammenwach senden Europa z. B. beim Verbraucherschutz Standards haben muss,

(Abg. Peter Hofelich SPD: Standards!)

damit man sicher sein kann. Oder denken Sie an Organtrans plantationen. Das funktioniert doch nur, wenn wir einheitli che Standards haben, durch die gewährleistet ist, dass, wenn das Organ etwa von einem Spender aus Frankreich kommt, bei der Entnahme und allem anderen wirklich Sicherheit herrscht. Auch da gibt es im Grunde genommen einen Mehr wert.

Aber wir wollen doch nicht, dass die Gesundheitssysteme letztlich harmonisiert werden, sodass alle nach dem gleichen Modell funktionieren. Das geht schon aus historischen Grün den nicht. Ich glaube, darin sind wir uns einig.

Beim Thema Daseinsvorsorge wird es ganz offenkundig, auch in den Debatten hier im Landtag. In manchen Ländern wer den bestimmte Aufgaben, die bei uns staatliche Aufgaben sind, ganz selbstverständlich von Privaten übernommen. Mögli cherweise wird man sich da im Laufe der Jahrzehnte anglei chen.

Manchmal, vor allem in grenznahen Bereichen, gibt es auch Verwerfungen. Ich denke z. B. an Krankentransporte, an Ret tungsdienste. Da haben wir historisch bedingt eine andere Si tuation als die Franzosen. Aber man kann daran sehen, dass es natürlich auch anders funktionieren kann.

Ich glaube, man sollte schon dazu stehen, dass man von Bei spielen anderer Länder im Dialog lernen kann. Herr Hofelich, da haben Sie völlig recht. Aber das geht nicht, indem man es anderen aufoktroyiert, sondern indem man im positiven Sinn voneinander lernt. Dazu gehört auch das Thema Subsidiari tät.

Die Möglichkeiten, die die Mitgliedsstaaten aufgrund des Lis sabon-Vertrags haben, begrüßen wir alle. Die Mitgliedsstaa ten haben damit eine stärkere Stellung insofern, als ihre Re gierungen eine Subsidiaritätsrüge aussprechen bzw. Klage er heben und diese jeweils androhen können. Das hat natürlich auch einen präventiven Effekt. All diejenigen, die sich mög licherweise etwas ausdenken, was man noch regeln könnte, wissen jetzt, dass dies auf Widerstand – auch auf rechtlich be gründbaren Widerstand – stoßen kann. Daher sehe ich dies nicht als Widerspruch, sondern durchaus als eine Möglichkeit der Mitgestaltung.

Lassen Sie mich abschließend genau das, was Sie jetzt auch wieder ein wenig skeptisch benannt haben, anführen. Ich ha be es als großen Erfolg empfunden, dass unserem Kollegen, Herrn Professor Reinhart,

(Abg. Sabine Fohler SPD: Minister Reinhart!)

bei einem wirklich zentralen Punkt, nämlich bei der Definiti on der Kernziele der Strategie Europa 2020, etwas Wichtiges gelungen ist: Bei der Frage nach der Akademikerquote hat er es geschafft, dass wir endlich mitgestalten und in Europa ein mal klarmachen, dass unsere duale Ausbildung durchaus mit dem, was in anderen Ländern über ein Studium erreicht wird, vergleichbar ist.

(Beifall bei der FDP/DVP – Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP: So ist es!)

Es ist in der Tat so – da darf ich Herrn Professor Reinhart zi tieren –: „Der Techniker bei Bosch, der Meister oder die hoch qualifizierte Krankenschwester, deren Ausbildung in anderen EU-Staaten über ein Studium läuft“, sind durchaus auf diese Quote anrechenbar. Dass wir jetzt erreicht haben, dass Euro pa das so sieht und wir nicht etwa noch Sanktionen zu erwar ten haben, weil wir keine vergleichbaren Studienmöglichkei ten bzw. -abschlüsse haben, das halte ich für einen großen Er folg.

(Abg. Jürgen Walter GRÜNE: Da sind wir uns einig!)

Sehen Sie. Da ist das Thema Subsidiarität – wir müssen auf passen, dass nicht alles über einen Kamm geschoren wird; wir müssen unsere spezielle Sicht einbringen – sehr erfolgreich umgesetzt worden.

Deswegen glaube ich, dass wir eigentlich gemeinsam, liebe Kollegen Hofelich, Walter und Blenke, stolz darauf sein kön nen, dass wir im Europaausschuss auch im Einklang mit der Regierung – übrigens mit der ganzen Mann- und Frauschaft, mit der Professor Reinhart arbeitet – meist zu den gleichen Ergebnissen und Bewertungen kommen. Wir sollten diese Themen – da haben Sie recht, Herr Hofelich – in der Öffent lichkeit vielleicht noch ein bisschen stärker vermitteln.

(Zuruf der Abg. Sabine Fohler SPD)

Seien wir doch froh, dass es an diesem einen Punkt einmal ge lungen ist, und machen wir weiter so.

(Abg. Wolfgang Stehmer SPD: Das reicht nicht!)

Dann habe ich keine Sorge, dass das glühende Kämpfen für die Fortentwicklung Europas kein Widerspruch zur Forderung nach Subsidiarität ist und wir Riesenfortschritte machen kön nen.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU – Abg. Hagen Kluck FDP/DVP: Jawohl! – Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Sehr gut! – Abg. Dr. Klaus Schüle CDU: Brillante Rede!)

Für die Landesregierung erteile ich dem Minister für Bundes-, Europa- und internationale Ange legenheiten Professor Dr. Reinhart das Wort.

(Abg. Peter Hofelich SPD: Jetzt ist es richtig einge führt! – Abg. Hagen Kluck FDP/DVP: Jetzt lacht er wieder!)

Minister für Bundes-, Europa- und internationale Ange legenheiten Dr. Wolfgang Reinhart: Herr Präsident, verehr te Kolleginnen und Kollegen! Zunächst herzlichen Dank für die übereinstimmenden Bekenntnisse zu Europa. Ich kann dem nur beipflichten. Ich denke, sowohl der Europaausschuss dieses Hauses als auch die Landesregierung sind allesamt überzeugte Europäer. Deshalb geht es eigentlich immer nur um die Frage, wie wir dieses Europa weiter gestalten wollen. Wohin wollen wir gehen, und – vor allem – wie weit können wir gehen, in welchem Tempo, und wie können wir die Bür ger mitnehmen?