Protokoll der Sitzung vom 26.11.2015

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren! Wir erleben aktuell eine Zeitenwende, eine globale Krise. 60 Millionen Menschen sind auf der Flucht. Staaten im ara bischen Raum implodieren. Der IS treibt in Syrien und im Irak sowie auch anderswo schon sein Unwesen und greift jetzt auch nach Europa. Jeden Tag kommen Tausende Flüchtlinge nach Deutschland. Allein im Oktober kamen mehr Flüchtlin ge zu uns nach Baden-Württemberg als im ganzen Jahr zuvor. Das fordert uns alle enorm heraus und bringt uns immer wie der an die Grenzen der Belastbarkeit und manchmal auch da rüber hinaus.

Viele Menschen haben aufgrund dieser Situation den Ein druck, die Politik sei nicht in der Lage, die anstehenden Pro bleme zu lösen. Das muss uns sehr besorgen. Dieser Eindruck wird natürlich bestärkt, wenn immer wieder unausgegorene Vorschläge gemacht werden, die nachher nicht umgesetzt wer den, nicht umgesetzt werden können, weil sie gar nicht funk tionieren, weil sie rechtlich nicht möglich sind oder weil kein Konsens darüber hergestellt wird. Ich glaube, es ist nicht sehr verantwortlich, immer wieder neue Steine ins Wasser zu wer fen, die hohe Wellen schlagen, jedoch nicht zur Lösung des Problems beitragen. Das ist wirklich Gift für die öffentliche Stimmung.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Es ist klar: Das Delta zwischen diesen scheinradikalen Lösun gen, die da dauernd kommen, und dem, was nachher gemacht werden kann, ist oft erheblich. Das bleibt dann alles bei den rechtspopulistischen Parteien hängen.

Deswegen mein Rat: Weniger radikal klingende Schnellschüs se und weniger Scheinlösungen. Das ist, glaube ich, schon das Richtige.

(Abg. Winfried Mack CDU: Das ist doch der Ver gleich mit Bayern! Sie können sich mit Bayern ver gleichen!)

Ein bayerischer Vorschlag mit den Transitzonen war so einer; der wurde nachher eingesammelt.

(Zurufe von der CDU)

Also: Jeder muss sich Vorschläge überlegen, wie diese Krise gelöst werden kann. Jeder muss aber auch diese Vorschläge durchdenken, sie mit anderen beraten. Wir müssen sie bewer ten, und wir müssen dann Kompromisse aushandeln, einen Konsens herstellen und sie dann auch umsetzen. Das ist, glau be ich, der richtige Weg, der Vertrauen in der Bevölkerung schafft und eine Spaltung verhindert.

(Beifall bei den Grünen und der SPD – Zuruf: Reden Sie mal mit Boris Palmer!)

Die eigentliche Krise, die da dahintersteckt – das sollten wir alle uns noch einmal sehr bewusst machen –, ist eine europä ische Krise größten Ausmaßes, die sich da anbahnt. Das eu ropäische Projekt steht gerade auf dem Spiel. Europa ist in der Flüchtlingsfrage zerstritten. Von Solidarität spüren wir nicht viel, sondern auf offener Bühne wird von Überforderung ge sprochen. Viele Mitgliedsstaaten kommen noch nicht einmal ihrer Verpflichtung zur Finanzierung des UNHCR und des Welternährungsprogramms in ausreichendem Umfang nach, was dazu führt, dass in den Aufnahmelagern rund um Syrien Kinder hungern müssen und die Gesundheitsversorgung nicht gewährleistet ist.

(Zuruf: Genau!)

Bundesminister Müller hat das zu Recht gerade noch einmal angeprangert. Das ist nicht nur unmenschlich, sondern eine solche Kurzsichtigkeit ist auch völlig unbegreiflich. Denn es ist klar: Damit zwingt man ja die Leute geradezu, diese Lager zu verlassen und anderswohin aufzubrechen.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Also: Wir können diese Dinge nur im europäischen Rahmen ordnen und in beherrschbare Bahnen bringen. Ohne eine fai re Verteilung der Flüchtlinge in ganz Europa, ohne eine Si cherung der Außengrenzen, ohne das Instandsetzen der Hot spots, damit sie ihren Aufgaben auch nachkommen können, werden wir bald eben nicht nur gefordert, sondern überfordert sein.

Der Zustand Europas macht mir sehr ernsthafte Sorgen. Eu ropa steht vor einer seiner großen Bewährungsproben, einer Bewährungsprobe für seine Handlungsfähigkeit und einer für seine Werte zugleich. Wenn Europa in dieser Frage scheitert, droht ein epochaler Rückfall in nationales Klein-Klein. Die

Folgen wären dramatisch. Das wissen wir hier in Baden-Würt temberg genau, in einem Land, das vom Export lebt und mit ten in der Globalisierung steht. Ich denke, wenn der europäi sche Kontinent hier auseinanderbricht, darf niemand ernsthaft glauben, dass wir hinterher mit 28 Außenpolitiken noch ir gendetwas in der globalisierten Welt bewegen können.

(Beifall bei den Grünen und der SPD sowie der Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU)

Nur wer diese Dimension sieht und erkennt, der versteht auch den Kurs der Kanzlerin und versteht, warum sie bei ihrem Kurs auch die volle Unterstützung der Landesregierung hat. Ihre Furcht, dass Europa an dieser Frage auseinanderbrechen könnte, teilen wir, und deswegen gehen wir auf Europa zu. Ich werde im Dezember – möglicherweise auch mit anderen Kollegen – nach Europa fahren, um das auch dort vorzubrin gen.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU – Abg. Winfried Mack und Abg. Guido Wolf CDU: Wo ist denn Eu ropa?)

Ich werde nach Brüssel fahren, um das vorzubringen. – Ich glaube, das ist ganz entscheidend.

Alles andere, was derzeit so auf dem Markt gestreut wird, wo mit versucht wird, zu suggerieren, wir könnten diese Fragen rein national durch irgendwelche radikalen Scheinlösungen lösen, wird diese Fragen nicht lösen. Wir können sie wirklich nur europäisch lösen, sonst setzen wir Europa aufs Spiel.

(Beifall bei den Grünen und der SPD sowie der Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU)

Wir brauchen eine humane und zugleich zupackende und pragmatische Politik in dieser Frage, eine Politik ohne Angst vor dieser Herausforderung, ohne Angst vor den notwendigen Schritten, die wir gehen müssen, und auch eine Politik, die den Menschen keine Angst macht, die ihre Sorgen allerdings durchaus ernst nimmt.

Ich war am Montag bei der Trauerfeier zu Ehren von Helmut Schmidt, unserem geschätzten Altbundeskanzler. Ich glaube, man kann von ihm einiges zur Lösung dieser Krise lernen. In der Krise braucht man eine klare Haltung, einen klaren Kom pass.

(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Das ist rich tig!)

Den hatte Helmut Schmidt.

(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Der schon!)

„In der Krise beweist sich der Charakter“, das war seine Aus sage dazu.

Wir sollten einen kühlen Kopf bewahren und die Krise Schritt für Schritt lösen und nicht wie ein aufgeregter Hühnerhaufen herumflattern.

(Abg. Andreas Schwarz GRÜNE: So ist es!)

In dieser globalen Krise sind die Akteure nicht einfach, wie manche meinen, Deutschland oder gar die Länder. Die zent

rale Größe, auf die es dabei ankommt, ist Europa. Ich denke, das ist etwas, was wir von Altbundeskanzler Helmut Schmidt übernehmen können: die Sicht der Dinge in solchen Krisen.

Es ist natürlich klar, dass Deutschland dabei eine besondere Verantwortung zukommt. Bei dem, was wir in Deutschland, dem größten und stärksten Land in der Mitte des Kontinents, tun – in einer Situation, in der wir im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten gerade nicht von großen Wirtschaftspro blemen geplagt sind –, kommt uns eine große Verantwortung zu, denn es strahlt auf die anderen aus.

Deshalb muss alles, was wir auf Bundesebene entwickeln, eu ropafähig und europatauglich sein. Daher halte ich eine ein seitig von Deutschland festgelegte Obergrenze für unrealis tisch und falsch. Es wäre nur mit der Abschottung Deutsch lands, mit Mauern, Zäunen und militärisch gesicherten Gren zen lösbar. Das ist letztlich genau das Gegenteil dessen, was wir brauchen, um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern. Derartige nationale Lösungen bergen die Gefahr, das Projekt schlicht zu sprengen.

Ich möchte noch einmal sagen: Die Stabilisierung der Flücht lingslager im Libanon, in Jordanien und in der Türkei ist die allerdringendste Aufgabe, die die Europäische Union im Mo ment hat. Wenn wir diese Lager stabilisieren, besteht die gro ße Aussicht, dass viele Bürgerkriegsflüchtlinge dort bleiben und sich nicht weiter auf den Weg machen.

Es ist klar, dass diese Staaten damit überfordert sind, wenn wir einmal daran denken, dass z. B. im Libanon 25 % der Be völkerung Flüchtlinge sind. Also müssen wir sie mit allen Kräften und auch mit viel Geld unterstützen.

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Ja!)

Das ist einfach ein Gebot der Stunde und der praktischen Ver nunft.

(Beifall bei den Grünen und der SPD sowie der Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU)

Im Zusammenhang damit müssen wir natürlich auch mehr für die Sicherung und die Kontrolle der Außengrenzen tun

(Abg. Matthias Pröfrock CDU: Jetzt wird es span nend!)

und die sogenannten Hotspots in den Zustand versetzen, dass sie die Aufgaben auch wahrnehmen können.

(Zuruf von der CDU: Aha!)

Es darf nicht nur Geld sein, sondern wir müssen sie auch in jeder anderen Hinsicht unterstützen; denn wir haben ja gute Erfahrungen darin, wie man so etwas macht.

(Zuruf des Abg. Karl Zimmermann CDU)

Wenn wir dies tun und uns zugleich mit den Nachbarstaaten, den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union über Kontin gente verständigen, dann halte ich das für einen sinnvollen Weg.

(Zuruf des Abg. Matthias Pröfrock CDU)

Nur so kommen wir einer gerechten Verteilung der Flüchtlin ge in Europa und einer Begrenzung der Flüchtlingszahlen in Deutschland wirklich näher.

Ich denke, wir sollten deshalb diesen Weg beschreiten, und ich sehe auch, dass alle demokratischen Kräfte gerade diesen Weg diskutieren. So können wir die Aufnahme von Flüchtlin gen besser steuern und mehr Ordnung in die Verfahren be kommen. Die Flüchtlinge müssten sich nicht mehr kriminel len Schleppern anvertrauen und sich nicht länger mit ihren Fa milien auf eine gefährliche Flucht begeben, und wir könnten das Schengener Abkommen und die offenen Grenzen inner halb der EU und damit die Grundfeste Europas und des euro päischen Geistes bewahren. Aber wenn jedes Land wieder sei ne eigenen Grenzen schützen will und Zäune errichtet und mehr, dann ist die Rückabwicklung Europas eingeleitet.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)