Protokoll der Sitzung vom 09.12.2015

diesem Plan steht auch, dass noch vieles getan werden muss, um die Inklusion wirklich zu erreichen. Wir konnten 2011 nicht einen Schalter umlegen, womit alles erledigt gewesen wäre. Das klappt weder finanztechnisch noch beim Personal oder beim barrierefreien Bauen, und schon gar nicht klappt es in unser aller Köpfe.

Deshalb finde ich es wichtig, dass wir bei den Kindern ange fangen haben. Für viele Kinder ist es selbstverständlich, dass behinderte und nicht behinderte Kinder zusammen aufwach sen, dass sie in denselben Kindergarten gehen, in dieselbe Schule gehen können, in den außerschulischen Bildungsan geboten zusammen sind und sich auch später in der Berufs ausbildung oder im Studium begegnen. Diese Maßnahmen ha ben wir deutlich ausgebaut.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Grünen)

Ich will auch noch ein paar Beispiele für Maßnahmen nennen, die wir noch nicht geschafft haben, die wir aber auf unsere Agenda gesetzt haben. Wir wollen für Menschen mit Behin derungen, die gerade nicht für eine Ausbildung infrage kom men und für die bisher nur der Weg in die Werkstatt blieb, Möglichkeiten einer Teilqualifizierung in Zusammenarbeit mit den Industrie- und Handelskammern schaffen. Wir wollen mehr Menschen mit Behinderungen als bisher von Beginn ih rer beruflichen Karriere an als Beamte im Landesdienst be schäftigen. Wir wollen Menschen mit Behinderungen den Zu gang zu Denkmälern erleichtern. Ich bin sehr froh, dass das Ministerium für Finanzen und Wirtschaft meinen Vorschlag dazu aufgegriffen hat und eine Reihe von Umsetzungsmaß nahmen erarbeiten wird.

Zum Abschluss: Lieber Herr Präsident, dieses Rednerpult und der Weg zu Ihrem Sessel und zum Sessel des Ministerpräsi denten sind natürlich nicht für Rollstuhlfahrer geeignet. Ich gehe ganz fest davon aus, dass sich dieses Thema mit dem Umzug in das renovierte Landtagsgebäude erledigen wird.

(Zuruf des Abg. Wolfgang Drexler SPD)

Vielleicht wird es noch etwas dauern, bis wir einmal eine Landtagspräsidentin haben oder bis eine Präsidentin oder auch ein Präsident mit einem Rollstuhl hereinfährt. Aber wir haben jetzt schon viele Besuchergruppen mit Rollstuhlfahrern. Die sen will ich in Zukunft auch das Angebot machen können, ganz normal am Rednerpult zu sprechen oder einmal auf dem Platz des Landtagspräsidenten oder des Ministerpräsidenten zu sein.

Baden-Württemberg ist dank grün-roter Regierung auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft. Ich freue mich darauf, wenn meine Funktion als behindertenpolitische Sprecherin ei nes Tages nicht mehr notwendig sein wird und wir alle mit großer Selbstverständlichkeit in unserer Vielfalt und indivi duellen Einzigartigkeit miteinander ohne Barrieren leben kön nen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und den Grünen)

Das Wort für die CDU-Fraktion erteile ich dem Kollegen Raab.

(Abg. Wolfgang Drexler SPD: Jetzt wird es schwer! – Abg. Walter Heiler SPD: Jetzt wird es schwer, wenn nicht gar unmöglich!)

Herr Präsident, verehrte Kollegin nen und Kollegen, meine Damen und Herren! Kaum ein Po litikfeld hat innerhalb der letzten 40 Jahre einen solchen Pa radigmenwechsel erfahren wie die Behindertenpolitik, ausge löst durch die UN-Behindertenrechtskonvention, die die Bun desrepublik im Jahr 2009 in Kraft gesetzt hat.

Die Zeit des Aufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg musste ge wissermaßen bei null beginnen. Die Menschen mit Behinde rungen kamen erst nach und nach in das Bewusstsein der Öf fentlichkeit. Bürgerinitiativen wie die Lebenshilfe-Vereine nahmen sich einer Bandbreite von Einrichtungen an. Themen waren Arbeiten, Wohnen, Betreuen. Es wurde bürgerschaftli ches Engagement organisiert, und die Finanzierung musste si chergestellt werden. Eine Vielzahl von Werkstätten und Wohn heimen entstanden dezentral im ganzen Land Baden-Würt temberg.

Hinzu kamen elf sogenannte Komplexeinrichtungen im Land, die allein 30 % der Menschen mit Behinderungen 24 Stunden am Tag und 365 Tage im Jahr hervorragend betreuen.

Wir gehen von dem alleinigen Prinzip der Fürsorge ab, hin zur Mitbestimmung, Teilhabe sowie zu einem Wunsch- und Wahlrecht. All dies umzusetzen ist eine schwierige Aufgabe. Um ein solch komplexes System durch ein neues, dezentra les Angebot zu ersetzen, benötigt man Jahre. Vor allem muss darauf geachtet werden, dass es viele Menschen gibt, die seit Jahrzehnten in ihrer gewohnten Umgebung leben und diese auch nicht verlassen wollen.

Geringere Bewohnerzahlen reduzieren die Einnahmen. Gleich zeitig müssen die Infrastruktureinrichtungen vorgehalten wer den. Dies führt in manchen Einrichtungen zu sehr schwieri gen finanziellen Voraussetzungen.

Gleichzeitig werden parallel dazu neue, dezentrale Strukturen aufgebaut. Dies führt in einigen Fällen dazu, dass die Träger in finanzielle Schwierigkeiten kommen. Daher brauchen die Komplexträger Beratung und politische Führung – nicht nur durch eine Behörde, sondern vor allem durch die Landesre gierung.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU sowie der Abg. Jochen Haußmann und Niko Reith FDP/DVP)

Fragen der Bauleitplanung, der Kommunalentwicklung und vor allem Fragen der finanziellen Hilfen müssen beantwortet werden. Das Land muss aufzeigen, ob es bereit ist, den von den Komplexträgern vorgegebenen Betrag von 1 Milliarde € an Investitionskosten bis zum Jahr 2030 bzw. 2035 bereitzu stellen oder ob sich die Landesregierung dabei eventuell der Landeskreditbank Baden-Württemberg – Förderbank bedie nen möchte. Die Träger brauchen schon jetzt Antworten. Denn die Banken schauen auf die Sicherung der Finanzierung und machen neues Engagement von der Werthaltigkeit der Inves titionen insgesamt abhängig. Die Träger erwarten dies schon im Interesse der Menschen mit Behinderungen.

In diesem Jahr lobte sich die Landesregierung ob der 9,7 Mil lionen € Fördergelder, die zum Teil aus der Ausgleichsabga

be stammen, also keine originären Landesmittel sind. 2013 hatte es noch der hartnäckigen Forderung der CDU-Abgeord neten im Sozialausschuss bedurft, dass die 9,5 Millionen € für elf Vorhaben überhaupt ausbezahlt wurden.

(Abg. Manfred Lucha GRÜNE: Ach!)

Ja, das stimmt so, Herr Lucha.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Das Land hat damals seine eigenen Förderempfehlungen aus gesetzt und die Träger in Schwierigkeiten kommen lassen.

(Abg. Helmut Walter Rüeck CDU: Unglaublich!)

Fragen Sie die LAG; die wird es Ihnen zum x-ten Mal bestä tigen.

Zur Inklusion in der Bildungspolitik hat die CDU gleichbe rechtigte Wege, nämlich Inklusion an Regelschulen und den Fortbestand der Sonderschulen, im Interesse der Kinder und der Eltern für richtig gehalten und gefordert – im Gegensatz zu den Grünen, die die Sonderschulen damals abschaffen wollten.

(Abg. Jutta Schiller CDU: Genau! – Abg. Edith Sitz mann GRÜNE: So ein Quatsch!)

Wir wollen die Wahlmöglichkeit, um jedem Kind die best mögliche Förderung zukommen zu lassen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU sowie der Abg. Jochen Haußmann und Niko Reith FDP/DVP)

Wir wollen, dass die Außenklassen als gleichwertiges Ange bot der Inklusion weiterhin angeboten werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Ein weiteres Thema ist der Übergang von der Schule in den Beruf. Es gibt Fälle, in denen Kinder mit Behinderung ihre allgemeine Schulausbildung absolvieren, einen Abschluss er reichen, aber keine Stelle auf dem Arbeitsmarkt und keinen Ausbildungsplatz bekommen. In diesem Bereich müssen wir mit noch mehr Nachdruck ansetzen. Denn es geht um den ein zelnen Menschen und nicht um die Systeme, meine Damen und Herren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Die „Badische Zeitung“ titelte vor zwei Tagen: „Der Südwes ten ist nur Mittelmaß“. Das ist leider richtig. Das Land kommt seiner Verpflichtung als Arbeitgeber, schwerbehinderte Men schen zu beschäftigen, mit einem Anteil von 5,17 % nur knapp nach. 2010 waren es noch 5,21 %.

(Abg. Claus Schmiedel SPD: Oi! Jetzt haut es mich aber um! So ein großer Unterschied!)

Man kann hier nicht von Fortschritt sprechen. – Lieber Herr Schmiedel, da brauchen Sie sich nicht aufzublasen. Da hat diese Regierung fünf Jahre lang nichts erreicht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und des Abg. Jo chen Haußmann FDP/DVP – Abg. Walter Heiler SPD: Hör doch auf!)

Das Kultusministerium und das Wissenschaftsministerium bleiben mit einem Anteil von 4,76 % bzw. 3,88 % deutlich un ter der Fünfprozenthürde.

Noch schlechter sieht es bei den Neueinstellungen aus. Denn 2013 – neuere Zahlen haben wir noch nicht bekommen – wa ren nur 1,28 % von 24 076 neu eingestellten Personen schwer behindert. Das ist eine verheerende Zahl.

Den Worten sollten endlich Taten folgen – so stellen wir uns erfolgreiche Inklusion vor. Die Menschen mit Behinderungen brauchen nicht noch mehr Gremien, runde Tische, Beauftrag te, sondern mehr tatsächliche, messbare Entscheidungen im Einzelfall.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und des Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP)

Beim Liga-Gespräch vor wenigen Tagen – einige wenige Mit glieder des Sozialausschusses waren bei dem Gespräch anwe send – ging es darum – man höre –, dass der Ministerpräsi dent einen Solidarpakt mit der Liga verweigert hat. Meine Da men und Herren, das, was im Sport möglich ist, muss auch bei den Wohlfahrtsverbänden möglich sein – und es ist mög lich, wenn man will.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und des Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP)

Das bevorstehende Ende der Legislaturperiode ist deutlich er kennbar an der Anzahl und vor allem der Seitenfülle der Hoch glanzbroschüren zur Selbstdarstellung. Jeder Euro, der statt dessen in konkrete Projekte gesteckt worden wäre, hätte der Inklusion gutgetan.

Im März 2015 verabschiedete der UN-Ausschuss für die Rech te von Menschen mit Behinderungen den Ersten Staatenbe richt Deutschland. Die Aufzählung positiver Aspekte benötig te sechs Zeilen, die der negativen achteinhalb Seiten. Das ist leider die Realität. Bei einem Gespräch mit der CDU-Land tagsfraktion bezeichnete die Delegationsleiterin, Staatssekre tärin Lösekrug-Möller (SPD), die Veröffentlichung des Staa tenberichts als „schwarzen Tag für unser Land“.

(Zuruf der Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU)

Was heute und vor allem für die kommende Legislaturperio de angesagt ist, kann nur eine wesentlich größere Anstrengung der Landesregierung sein. Nochmaliges Blamieren vor den UN muss mit konkretem Handeln verhindert werden, meine Damen und Herren. Bei der Inklusion belegt das Land keinen Spitzenplatz.

(Abg. Claus Schmiedel SPD: Das habt ihr jahrelang verschlafen!)