Protokoll der Sitzung vom 16.12.2015

Entscheidend ist der Bedarf vor Ort, und dieser ist groß. Ich bin daher überzeugt, dass die Zahl der Ganztagsschulen in den kommenden Jahren erheblich steigen wird.

Lieber Herr Dr. Kern, Sie haben in der zweiten Runde die Möglichkeit, zum Besten zu geben, ob Sie etwas dazugelernt haben

(Lachen des Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU)

und die Unterscheidungsmerkmale von Ganztagsschule in Wahlform und Ganztagsschule in verbindlicher Form nun wie dergeben können. Ich bin gespannt. Aber kommen Sie mir nicht wieder mit Ihrem liberalen Lieblingswort „Freiheit“.

(Abg. Dr. Timm Kern FDP/DVP: Doch!)

Sie verwechseln dies oft mit Beliebigkeit.

(Abg. Wolfgang Drexler SPD: So ist es! Genau! – Abg. Dr. Stefan Fulst-Blei SPD: Sehr richtig!)

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen – Abg. Dr. Timm Kern FDP/DVP winkt ab.)

Das Wort für die Landesregie rung erteile ich Herrn Kultusminister Stoch.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Da es offen sichtlich notwendig ist, nutze ich sehr gern die Gelegenheit, heute Morgen nochmals auf die große Bedeutung der Mög lichkeit des Ausbaus von Ganztagsschulen in Baden-Würt temberg hinzuweisen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Ausbau von Ganztagsschulen ist insbesondere in Baden-Württemberg ein großes Bedürfnis. Das zeigen alle Umfragen. Bereits der „Mo nitor Familienleben 2011“ zeigte, dass rund zwei Drittel der Eltern in Deutschland große Probleme bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sehen. Deswegen können verschiede ne bildungspolitische Entscheidungen gerade unserer Landes regierung sehr gut in diesen Kontext eingeordnet werden.

Wir haben es in den vergangenen Jahren geschafft, BadenWürttemberg mit Blick auf die Quantität, aber insbesondere auch auf die Qualität der frühkindlichen Bildung vom Ende der Tabelle in Deutschland an die Spitze zu setzen. Das ist ein Verdienst dieser Landesregierung, meine sehr geehrten Da men und Herren.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Wir alle müssen etwas dafür tun, dass sich junge Familien in Baden-Württemberg in Zukunft nicht zwischen Beruf und Fa milie entscheiden müssen. Wir müssen alles dafür tun, dass Menschen, die gut ausgebildet sind, ihren Beruf ausüben kön nen und gleichzeitig qualitativ hochwertige Betreuungs- und Bildungsangebote für ihre Kinder vorhanden sind. Die Lan desregierung und die Regierungsfraktionen haben im früh kindlichen Bereich dafür die entscheidenden Wegmarken ge setzt.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Dass CDU und FDP/DVP aber immer noch nicht verstanden haben, dass sich dies nicht nur auf den frühkindlichen, son dern auch auf den schulischen Bereich beziehen muss, er schüttert mich nachhaltig. Denn Ganztagsschule bedeutet, dass Schülerinnen und Schüler gemäß einem pädagogisch durchdachten Konzept Lernphasen und andere Phasen im Sin ne eines rhythmisierten Schulalltags erleben und somit die Qualität und damit die Förderung der Schülerinnen und Schü ler an der Spitze der Begründungen für gute Ganztagsschulen in Baden-Württemberg stehen muss.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen und der SPD)

Weder Kollege Kern noch Kollege Wacker haben die Frage der pädagogischen Qualität von Ganztagsschulen in einem Nebensatz oder auch nur in einer Silbe erwähnt. Insofern er schüttert es mich, dass Sie offensichtlich verkennen, welche Chancen in einer guten Ganztagspädagogik für Baden-Würt temberg liegen, meine sehr geehrten Damen und Herren.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen und der SPD)

Machen Sie sich doch einmal die Mühe, mit Bildungswissen schaftlern zu sprechen. Sie werden keinen einzigen finden, der Ihr Konzept einer möglichst maximalen Flexibilität im Be reich der Ganztagsbetreuung – Sie sprechen in Ihrem Konzept nämlich gar nicht von Ganztagsschule – aus bildungswissen schaftlicher Sicht unterstützt.

Ich habe kürzlich einen sehr interessanten Vortrag des Neuro biologen Professor Bauer aus Freiburg gehört, der davon ge sprochen hat, dass wir uns nicht wundern müssten, dass, wenn Kinder morgens in komprimierter Form in den Schulfächern kognitive Wissensvermittlung erfahren und am Nachmittag Betreuung stattfindet, in dieser Form des „hydraulischen Ler nens“, wie er es nennt – nämlich mit hohem Druck etwas in Kinder hineinzupressen –, die Chancen einer guten Ganztags pädagogik schlicht und einfach ignoriert werden.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen)

Herr Kollege Wacker, ich darf Sie konkret auf das Thema Frei heit ansprechen. Ich möchte jeden Pädagogen und die Eltern an die Zeit vor 2011 erinnern. Welche Freiheiten haben Sie denn gewährt?

(Abg. Georg Wacker CDU: Aber Sie regieren jetzt!)

Schulen haben sich aus dem staatlichen Schulsystem verab schiedet, um innovative pädagogische Konzepte als Privat schule umzusetzen. Schulen hatten nur die Möglichkeit, ihren Standort zu schließen, weil es keine regionale Schulentwick lung gab, weil keine Suche nach lokalen und regionalen Kom promissen für eine gute Bildungslandschaft in Baden-Würt temberg möglich war. Ihre Freiheit ist eine verheerende Frei heit für die Bildungslandschaft in Baden-Württemberg, mei ne sehr geehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen – Abg. Georg Wacker CDU: Sie stehen jetzt in der Verantwortung!)

An Ihrer Stelle würde ich nicht Herrn Rees vom Landeseltern beirat Baden-Württemberg zitieren. Herr Rees hat nämlich in der Tat gesagt, dass das Elternrecht ein sehr hoch einzuschät zendes Recht ist und wir das bei Fragen nach Bildung und schulischem Kontext immer im Auge haben müssen.

Herr Rees hat als Vertreter des Landeselternbeirats in der An hörung zum neuen Schulgesetz deutlich gemacht – das ist die Position des Landeselternbeirats –, dass aus pädagogischer Sicht eigentlich nur die verbindliche Form der Ganztagsschu le im Schulgesetz festgeschrieben werden kann. Betreiben Sie an dieser Stelle also bitte keine Geschichtsklitterung.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen – Zuruf des Abg. Georg Wacker CDU)

Das, was Sie angesprochen haben – Herr Kollege Käppeler hat darauf hingewiesen –, ist sowohl schulorganisatorisch als auch pädagogisch gesehen Nonsens. Denn das, was Sie be schreiben, ist ein Konzept der Ganztagsbetreuung.

Blicken wir einmal in die Zeit vor 2011 zurück. Weil Sie nicht in der Lage waren, die Ganztagsschule im Schulgesetz fest zuschreiben, haben viele Kommunen in Baden-Württemberg aus der Not heraus mit viel Geld Hortangebote an ihren Schu len eingerichtet. Bei einem Hort handelt es sich unzweifelhaft um eine Ganztagsbetreuung, die auch in hoher Qualität statt fand.

Der entscheidende Unterschied ist aber – Frau Kollegin Bo ser hat darauf hingewiesen –, dass Ganztagsschulen einen an

deren pädagogischen Anspruch haben als eine Ganztagsbe treuung. Wenn wir in Baden-Württemberg die Schülerinnen und Schüler gut auf ihre Zukunft vorbereiten wollen, dann sollten wir jede Chance nutzen. Deshalb ist nach Ansicht al ler Bildungswissenschaftler eine gute Ganztagspädagogik ei ne entscheidende Wegmarke und ein entscheidender Schlüs sel, um mehr Qualität und damit eine bessere Förderung für die Schülerinnen und Schüler in Baden-Württemberg verwirk lichen zu können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Abg. An dreas Schwarz GRÜNE)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, deswegen geht die von Ihnen vorgelegte Antragstellung meines Erachtens fehl. Wenn die Qualität wirklich im Zentrum des Bildungssystems in Baden-Württemberg stehen soll, dann ist Ihr Antrag mei ner Meinung nach sogar kontraproduktiv.

Flexibilität ist in der Regelung des Schulgesetzes, die wir für die Ganztagsschule entwickelt haben, sehr wohl verwirklicht. Es besteht die Möglichkeit, die Ganztagsschule in verbindli cher oder in Wahlform an einer Schule einzuführen, und zwar nach der Entscheidung der Schule. Frau Kollegin Boser hat darauf hingewiesen. Wir haben die Rechte der Eltern inner halb der Schulkonferenz gestärkt, um ihnen ein Mitsprache recht zu sichern. Da dies vielleicht noch nicht an allen Stel len in gleichem Maß erkannt wird, sollten wir den Eltern klar sagen, dass die Ganztagsschule nicht nur ein Instrument zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist, sondern auch eine wichtige Innovation für ihre Kinder ist.

Deswegen sollten wir nicht nur der Flexibilität huldigen, wenn diese gleichzeitig auf Kosten der pädagogischen Qualität von Schulen geht. Vielmehr sollten wir deutlich machen, dass wir an unseren Schulen Ganztagspädagogik brauchen, und zwar nicht nur für die Schüler, die zu Hause vielleicht keine so gu te Förderung erhalten, sondern für alle Schüler, um sie ihrer Leistungsfähigkeit gemäß fördern zu können.

Es wird Sie vielleicht verwundern – mich verwundert es aber nicht –, dass es Studien gibt, die zeigen, dass in Familien, in denen die Kinder eine Ganztagsschule besuchen, der Famili enfrieden und das Einvernehmen innerhalb der Familie von den Kindern sehr viel positiver bewertet werden, weil z. B. die Hausaufgaben, die für viele Eltern ein leidiges Thema dar stellen, in der Ganztagsschule erledigt werden, wenn sie gut gemacht ist und wenn dort die Möglichkeit zur individuellen Förderung besteht.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, deswegen ist die Ganztagsschule in Baden-Württemberg mit einem Mindest maß an Verbindlichkeit, die Rhythmisierung ermöglicht, ein wichtiger Baustein für mehr Bildungsgerechtigkeit in BadenWürttemberg und vor allem für eine bessere Förderung der Schülerinnen und Schüler in Baden-Württemberg und damit für unsere Zukunft.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Das Wort für die FDP/DVP-Frak tion erhält Kollege Dr. Kern.

Herr Präsident, liebe Kol leginnen und Kollegen! Ich finde das bemerkenswert. Zusam menfassend sagen Grüne, SPD und der Kultusminister an die Adresse der Eltern, die sich flexible Angebote wünschen, die eine offene Ganztagsschule haben wollen: „Ihr seid zu dumm, zu erkennen, was, pädagogisch gesehen, Qualität hat.“ Es ist doch unglaublich, was diese Koalition, an die Eltern in Ba den-Württemberg gerichtet, sagt.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU – Zuruf des Abg. Dr. Kai Schmidt-Eisenlohr GRÜNE)

Warum gibt es denn in immer mehr Städten Baden-Württem bergs Elterninitiativen, die sich die offene Ganztagsschule wünschen? Sie glauben, dass nur Sie wüssten, was Qualität in der Pädagogik ist. Ich finde es unglaublich, was diese Koali tion in diesem Bereich macht.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU – Abg. Dr. Stefan Fulst-Blei SPD: Wir bezie hen uns auf Forschungsergebnisse! Worauf beziehen Sie sich denn? Warum ignorieren Sie Forschungser gebnisse?)

Herr Käppeler, mit einem Satz haben Sie recht: Ginge es nach der FDP/DVP, dann gäbe es völlige Wahlfreiheit. Richtig. Das gebietet auch der Respekt gegenüber den Eltern in diesem Land, die wissen, was gut für ihre Kinder ist.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Sehr gut!)

Wenn die Pflichtganztagsschule tatsächlich das Nonplusultra in der Pädagogik wäre, dann überlassen Sie doch den Verant wortlichen vor Ort die Entscheidung, sich für dieses oder für ein anderes Modell zu entscheiden.

(Abg. Sandra Boser GRÜNE: Machen wir doch! – Abg. Dr. Stefan Fulst-Blei SPD: Sie verstehen gar nichts, Herr Kern!)