Herr Präsident, meine Damen und Herren! Der Beitrag eben hat mich auf der einen Seite verwundert, auf der anderen Seite – wegen der vergan genen bildungspolitischen Debatten, die wir geführt haben – auch wiederum nicht.
Ich möchte an die gestrige Debatte anknüpfen. Sie haben ei ne Große Anfrage zur Realschule eingebracht. In der Begrün dung steht – ich zitiere –:
Die „mittlere Reife“ ist das „Ticket“ für einen erfolgrei chen direkten Übergang in eine duale Ausbildung...
Sie wissen wahrscheinlich auch, wie dieser Übergang aus sieht: In Baden-Württemberg wechseln ein Drittel der Real schüler direkt nach dem Erreichen der mittleren Reife in das Berufskolleg. Sie wissen auch, dass dieses Drittel in der Re gel keine Anerkennung für diese Ausbildung bekommt. Wo ist da der direkte Übergang? Einen direkten Übergang gibt es nicht.
Ein weiteres Drittel wechselt auf das berufliche Gymnasium. Das ist der Weg, der zur Hochschulreife und zum Studium führt.
Hier haben wir in Baden-Württemberg aber doch ein Über gangssystem aufgebaut. Sie sollten einmal die bundesweiten Zahlen zum Übergangssystem vergleichen.
Ich hätte mir für die gestrige und auch für die heutige Debat te gewünscht – diese Debatte haben wir auch in der Enquete kommission geführt –, dass wir erkennen, dass es hinsichtlich des Übergangssystems einen großen Handlungsbedarf gibt, und zwar nicht nur deshalb, weil es nicht verantwortbar ist, diese jungen Menschen, die zum Teil sehr schulmüde sind, noch länger in der Schule zu belassen und sie nicht in eine du ale Ausbildung zu bringen, sondern auch, weil das vor dem Hintergrund der allgegenwärtigen Haushaltskonsolidierung eigentlich Wahnsinn ist. Das Land Baden-Württemberg gibt 280 Millionen € im Jahr für dieses Übergangssystem aus.
Ich will Ihnen einmal ein paar Zahlen nennen, damit ein bun desweiter Vergleich möglich ist: Im Bundesdurchschnitt neh men 47 % der Jugendlichen eine duale Ausbildung auf. In Ba den-Württemberg sind es 42,5 %, also deutlich weniger. Ich frage mich, warum es hier diese Differenz gibt.
Unser Land grenzt an die Schweiz. Dort gehen 68 % der jun gen Menschen in eine duale Ausbildung und haben gleichzei tig die Möglichkeit, integrativ die Fachhochschulreife zu er werben. Wir haben also noch einen weiten Weg vor uns, den wir beschreiten müssen.
In Baden-Württemberg sind ca. 42 % der jungen Leute im Übergangssystem. Das ist eine ganze Menge. Zu den 280 Mil lionen € muss man dann noch hinzurechnen, was über die BA und andere Maßnahmen hinzukommt. Das ist also nicht nur ein Luxus, den wir uns leisten, sondern da besteht eine Schräg lage.
Ich möchte noch einmal an die Debatte von gestern anknüp fen. Mit Blick auf das bundesweite Ranking zur Jugendar beitslosigkeit stimmt es, dass die Zahlen in Baden-Württem berg positiv sind. Das ist auch gut so. Es ist aber nur die hal be Wahrheit. Mit dem Übergangssystem haben wir noch kei ne Qualifizierung, die hinterher im Arbeits- bzw. Berufsleben Bestand hat.
Die Bertelsmann Stiftung hat festgestellt, dass über 15 % der Menschen in Baden-Württemberg zwischen 25 und 34 Jahren unzureichend auf Arbeit und Beruf vorbereitet sind und des
halb Schwierigkeiten haben. Es sind pro Kopf über 21 000 €, die in diesem Zusammenhang jedes Jahr anfallen. Deshalb hat dieses Problem auch eine erhebliche finanzielle Dimension.
Mit diesen hohen Ausgaben liegen wir nicht im Spitzenbe reich – das übertüncht das Übergangssystem –, sondern wir sind dabei bundesweit im Mittelfeld. Man muss ganz klar er kennen: Die Bayern sind weiter. In Bayern gibt es ein gerin ger ausgeprägtes Übergangssystem. Dort ist mehr getan wor den.
Mein Wunsch nach Abschluss der Enquetekommission ist, dass wir uns im Landtag darauf verständigen, dass der Rechts anspruch auf eine berufliche Ausbildung unser bildungspoli tisches Ziel der nächsten Jahre ist. Wenn wir es nicht schaf fen, das Übergangssystem in diesem Bereich aufzulösen, so dass wir zur Anerkennung kommen, dass wir zu einer besse ren Integration in die duale Ausbildung und zu einer Stärkung des dualen Ausbildungssystems kommen, dann hat der Wirt schaftsstandort Baden-Württemberg ein ernstes Problem, das wir nicht allein durch Zuwanderung lösen können.
Jetzt muss ich Ihnen, Frau Schmid, noch eines sagen: Dass das strukturelle Unterrichtsdefizit nur noch 4,1 % beträgt, hat sicher auch etwas damit zu tun, dass wir im vergangenen Jahr von der Streichung der 711 Stellen, die Sie streichen wollten oder die im Haushalt bereits gestrichen waren, abgesehen ha ben. Das sind für den beruflichen Bereich 139 Stellen. Wir ha ben im Haushalt 2012 fast zwei Drittel der Stellen, die sich aus der demografischen Rendite ergeben, dringelassen. Alle, die sagen, das sei nichts, verkennen einfach die Realität und reden das schlecht und klein, was umzusetzen wir angefan gen haben. Das finde ich nicht gut; das muss ich sagen.
Herr Präsident, liebe Kolle ginnen und Kollegen! Frau Schmid, zu Beginn darf ich Ihnen gleich einmal recht geben: Die Enquetekommission hat wirk lich hervorragend gearbeitet. Die Enquetekommission hat gu te Handlungsempfehlungen ausgesprochen, aber sie hat auch eine Bestandsaufnahme des beruflichen Schulwesens in Ba den-Württemberg gemacht. Wenn wir da einmal genauer hin schauen, sehen wir natürlich, dass das nicht ganz so prickelnd ist.
Zum Übergangs- und Überlaufsystem will ich gar nichts sa gen. Ich will vielmehr auf die Punkte eingehen, die in letzter Zeit diskutiert wurden, und dann noch die Punkte ansprechen, die mir persönlich wichtig sind und bei denen ich denke, dass wir in diesen Bereichen noch ganz viel Arbeit vor uns haben.
Eine der Handlungsempfehlungen lautete z. B., das berufli che Gymnasium auszubauen. Sie haben darauf hingewiesen, dass Sie 100 zusätzliche Klassen gebildet hatten. Sie hatten das Starterjahr in der Tat auch finanziert, aber die 175 Stellen, die für das zweite und dritte Jahr gebraucht werden, waren eben nicht finanziert. Trotz dieser 100 Stellen waren ungefähr 9 000 Schülerinnen und Schüler nach wie vor nicht versorgt. Wir haben uns vorgenommen, diesen Engpass schrittweise ab zubauen.
Sie wissen natürlich auch, dass wir im Bereich der Bildungs politik Entscheidungen treffen, die nicht von heute auf mor gen wirken, sondern Zeit brauchen. Ich denke, wenn wir über das strukturelle Defizit reden, sind diese 4,4 % – das haben wir auch in der Enquetekommission festgestellt – ein Wert, der sich über viele Jahre hinweg nicht verändert hat. Wie es zu der Veränderung im vergangenen Jahr kam, hat Kollege Lehmann gerade erläutert. Wir haben im Bereich der berufli chen Gymnasien 50 weitere Klassen eingerichtet; darüber hi naus werden an 15 Standorten sechsjährige berufliche Gym nasien neu eingerichtet.
Ich will noch kurz auf den Punkt „Individuelle Förderung und Individualisierung der Förderung der Einzelnen“ eingehen. Ich habe an verschiedenen Stellen schon einmal betont, dass wir an den beruflichen Schulen mit ehemaligen Hauptschü lern, Realschülern, Fachoberschülern und Abiturienten in ei ner Klasse gar keine Alternative zu einer individuellen Ge staltung des Unterrichts haben. In diesem Zusammenhang ha be ich auch immer wieder auf die Integrationsleistung der be ruflichen Schulen hingewiesen.
Wo wir noch ein große Baustelle vor uns haben, ist in der Tat die Suche nach Lehrkräften mit Migrationshintergrund und deren Qualifizierung. Wir müssen an dieser Stelle auch die El tern mehr in die Bildungsarbeit einbinden können.
Eine wichtige Sache, die wir auch noch angehen werden: Die bundesweite Quote von rund 20 % Auszubildenden, die die Ausbildung vorzeitig abbrechen, finden wir auch in BadenWürttemberg wieder; wir sind vielleicht marginal besser, aber das spielt keine nennenswerte Rolle. Ich denke da nicht so sehr an diejenigen, die verspätet einen Studienplatz bekom men oder in den Wunschberuf wechseln können, sondern ich denke vor allem an diejenigen, die die Ausbildung ohne An schluss beenden. Was geschieht denn wirklich mit diesen jun gen Menschen? In Deutschland haben wir 1,5 Millionen jun ge Menschen zwischen 20 und 30 Jahren, die ohne Schulab schluss und ohne Berufsabschluss dastehen. Sie werden es nicht bestreiten: Auch Baden-Württemberg trägt zu dieser Zahl einen erheblichen Anteil bei.
Auch hierzu haben wir den Auftrag aus der Enquetekommis sion mitgenommen. Nach meinem Dafürhalten ist das gesell schaftspolitisch sicher ein Großauftrag, dessen Bewältigung wir hier noch vor uns haben. Ich denke, der aufkommende Fachkräftemangel zwingt alle Beteiligten zum Handeln. Ge rade hier gilt natürlich die Aussage, dass gute Bildungspoli tik die beste Sozialpolitik ist.
Ich möchte noch einen letzten Punkt ansprechen: Die Selbst ständigkeit der beruflichen Schulen ist zu stärken. Wir haben mit OES und PAB die ersten Schritte gemacht, aber wir brau chen noch mehr Eigenständigkeit der beruflichen Schulen. Wir haben im Koalitionsvertrag die Teilrechtsfähigkeit formuliert, damit die beruflichen Schulen nicht nur schulscharf ausschrei ben können, sondern damit sie auch das Budget verwalten, Beförderungen durchführen, Assistenten in der Verwaltung oder im Bereich der Administration einstellen können. Ich denke, dieser rechtliche Rahmen passt. Ich denke auch, dass wir hier in den nächsten Jahren noch einiges tun werden und tun müssen.
Ganz zum Schluss der Hinweis auf die Enquetekommission, die festgestellt hat, dass wir es im Bereich der beruflichen
Schulen mit einer Bugwelle im Umfang von mittlerweile über 1 600 Deputaten zu tun haben. Auch da haben wir eine Erb last, die wir allmählich abbauen müssen. Wir machen uns in diesem Jahr zunächst einmal mit den ersten 100 Stellen auf den Weg.
Herr Präsident, liebe Kol leginnen und Kollegen! Die Einsetzung der Enquetekommis sion war eine politisch weitsichtige und kluge Entscheidung; denn ihr Bericht ist nicht nur ein Wissensfundus zur berufli chen Bildung, sondern er fungiert auch als wichtige regelmä ßige Erinnerung an gemeinsam vereinbarte Ziele. Damit ist er ein Maßstab, an dem sich jede Landesregierung messen las sen muss.
Erstens: Unsere Anfrage zeigte, dass das Unterrichtsdefizit an den beruflichen Schulen im Schuljahr 2011/2012 bei 4,1 % lag. Gleichzeitig wird auch in diesem Jahr ein nicht unerheb licher Teil der Bewerberinnen und Bewerber trotz entspre chender Voraussetzungen keinen Platz an einem beruflichen Gymnasium erhalten.
Im Bericht der Enquetekommission beziffert die Landesregie rung den Bedarf an zusätzlichen Lehrerstellen für die berufli chen Schulen auf insgesamt 900 Deputate. Nun ist die Schaf fung von 50 zusätzlichen Eingangsklassen an den beruflichen Gymnasien in diesem Jahr ein guter Schritt.
Es mutet trotzdem befremdlich an, dass sich der Minister für Finanzen und Wirtschaft für 2012 mit 3 300 rechnerisch frei werdenden Lehrerstellen brüstet und dann bei den dringenden Vorhaben im Bildungsbereich nur ein Bruchteil davon tatsäch lich ankommt.
(Abg. Jörg Fritz GRÜNE: Wie groß ist denn der Bruch? – Abg. Siegfried Lehmann GRÜNE: Das stimmt doch gar nicht!)
Rätselhaft ist auch, dass das Freiwerden und der Verbleib der Stellen nirgends im Haushaltsplan 2012 sichtbar werden. So beschleicht einen schon der Verdacht, dass Grün-Rot die Res sourcen für ihre Lieblingskinder wie die Gemeinschaftsschu len zurückhält,
Zweitens: Im Bereich der dualen Ausbildung lautet doch die entscheidende Frage: Auf welche Weise können wir jungen Menschen den besonderen Wert einer Ausbildung noch stär
ker deutlich machen? Hier leisten die Ausbildungsbotschaf ter eine sehr gute Arbeit. Dadurch, dass sie in die Schulklas sen gehen und von ihren Erfahrungen berichten, werden Be rufsfelder für die Jugendlichen greifbar. Auch über weitere Perspektiven können sich die Jugendlichen informieren, z. B. darüber, wie es mit den Weiterqualifizierungsmöglichkeiten aussieht. Immerhin stehen beruflich Qualifizierten seit dem Jahr 2010 die Hochschulen offen, und es entwickelt sich ein immer breiteres Angebot an Teilzeit- und berufsbegleitenden Studiengängen.
Die Enquetekommission sah einen wichtigen Ansatz in einer verstärkten Berufsorientierung, gerade auch an den allgemein bildenden Schulen. Hier fällt die Bilanz der neuen Landesre gierung gemischt aus. Wir Liberalen freuen uns, dass GrünRot das Ziel der Vorgängerregierung weiterverfolgt, dass al le Schulen mindestens ein Wirtschaftsunternehmen als Ko operationspartner haben sollen. Die Erfolgsquote liegt hier in zwischen bei 90 %.
Für grundfalsch halten wir aber, dass Sie von Grün-Rot zum Zweck der Demontage der von Ihnen ungeliebten Werkreal schule die Kooperation mit den Berufsfachschulen in Klas se 10 gekippt haben. Ihr Verweis auf angebliche organisatori sche Schwierigkeiten bei der Umsetzung belegt nur, dass Ih nen das Thema Berufsorientierung nicht die entsprechende Mühe wert war.
Drittens: Uns Liberale stimmen auch einige Aussagen zur du alen Ausbildung im Koalitionsvertrag besorgt. Sie wollen Zei ten in den Vollzeitschulen über eine generelle Anerkennung seitens der Kammern auf die Ausbildungszeit anrechnen las sen. Damit würden nicht mehr die Ausbildungsbetriebe über die Anrechnung entscheiden. Dies wäre ein erheblicher Ein griff in ihre Entscheidungsfreiheit. Auch wollen Sie Berufs kollegs dual ausgestalten und dann hier die Kammerprüfung einführen. Beide Maßnahmen könnten dazu führen, dass die Betriebe aus ihrer Mitverantwortung für die Ausbildung her ausgedrängt werden und das erfolgreiche duale System infra ge gestellt wird.