Protokoll der Sitzung vom 28.03.2012

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Zuruf des Abg. Jörg Fritz GRÜNE)

Baden-Württemberg hat ein sehr erfolgreiches differenziertes Schulsystem. Wir stehen sehr gut da. Wir brauchen keinen Systemwechsel.

Nehmen Sie zur Kenntnis – ich beziehe mich auch auf den „Chancenspiegel“ der Bertelsmann Stiftung –, dass wir deutsch landweit die niedrigste Schulabbrecherquote und die niedrigs te Sitzenbleiberquote haben.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Abg. Fried linde Gurr-Hirsch CDU: Jetzt noch!)

Die Jugendarbeitslosenquote ist auch deshalb am niedrigsten, weil unsere hoch qualifizierten Abschlüsse ein qualitativer Be leg sind; mit diesem Gütesiegel haben die jungen Menschen eine hervorragende Eintrittskarte in die Berufswelt. Das ist auch ein Zertifikat eines hervorragenden Bildungssystems.

(Beifall bei der CDU)

Sie sprechen immer wieder von einem selektiven Bildungs system. Sie haben es eben wieder gebetsmühlenartig getan, Frau Kultusministerin. Ich kann mir nicht verkneifen, zu sa gen: Das Gegenteil ist der Fall. Ich darf Professor Baumert zi tieren, den wir alle kennen und der auch von Ihnen sehr ge schätzt wird; Sie haben ihn gerade in eine Kommission beru fen. Professor Baumert hat gesagt, die Grundbildung der Zu kunft werde auf dem Niveau des mittleren Bildungsabschlus ses neu definiert.

Dieses differenzierte Bildungssystem, das Sie mit diesem Ge setzentwurf unterhöhlen wollen, weist folgende Bilanz auf – ich darf Zahlen zitieren, die Sie, Frau Ministerin, uns erst vor wenigen Tagen selbst geliefert haben –: Im Jahr 2000, also vor über zehn Jahren, haben 64,6 % aller Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs die mittlere Reife absolviert. Das war bereits zum damaligen Zeitpunkt eine beachtlich hohe Zahl. Zehn Jahre später, im Jahr 2010, haben 75,9 % der Schüler ei nes Jahrgangs in Baden-Württemberg die mittlere Reife ab solviert.

(Zuruf der Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU)

Meine Damen und Herren, das ist doch ein Paradebeispiel ei nes funktionierenden, aufstiegsorientierten gegliederten Schul systems.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Sehr richtig!)

Natürlich kann man diese Zahlen steigern. Aber die Qualität könnte darunter leiden. Die Qualitätsentwicklung haben wir in den letzten Jahren nachweislich sehr deutlich vollzogen.

Sie behaupten immer wieder, Ihre Gemeinschaftsschule sei besser und sozial gerechter. Sie nehmen für sich in Anspruch, dass in Ihrer sogenannten Gemeinschaftsschule die Schüler auf individuellen und flexiblen Bildungswegen entsprechend ihrer jeweiligen Lern- und Leistungsvoraussetzungen, ihres unterschiedlichen Entwicklungstempos und ihrer individuel len Neigungen gefördert würden. Wie belegen Sie, dass Ihnen dies dort besser gelingt als in den bestehenden Schulen? Wo ist der nachweisbare Mehrwert?

Sie nehmen für sich in Anspruch, dass ein Kind gefordert sein müsse. Eigene Leistung und eigene Anstrengung müsse er wünscht sein, auch im Wettbewerb mit Mitschülern. Wie be legen Sie, dass Ihnen das in Gemeinschaftsschulen besser ge lingt als in den bestehenden Schulen? Wo ist der nachweisba re Mehrwert?

Sie nehmen für sich in Anspruch, dass qualifizierte Lehrkräf te auf den Unterricht vorbereitet werden und für das jeweili ge Lernniveau der Kinder ausgebildet sein müssen. Wann set zen Sie das um? Fast zehn Jahre wird es dauern, meine Da

men und Herren, bis die ersten voll ausgebildeten Lehrkräfte für Ihren neuen Schultyp auf den Markt kommen. Bis dahin wird sich gar nichts tun.

(Abg. Claus Schmiedel SPD: Na, na! Da kennen Sie die Lehrerschaft aber schlecht!)

Meine Damen und Herren, Sie beginnen ein Experiment, oh ne den Beweis dafür zu erbringen, dass Ihr Schulsystem ei nen besseren Unterricht hervorbringt als die Schularten in un serem differenzierten Bildungssystem.

(Beifall bei der CDU und des Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP)

Gewiss haben Sie, meine Damen und Herren, dieses Vorha ben in einem großen Wurf beabsichtigt. Anfänglich haben Sie – mehrfach auch hier im Plenum – von über hundert Interes sensbekundungen gesprochen. Jetzt sind es 39 Starterschulen – ohne Realschulen, ohne Gymnasien. Anfänglich sprachen Sie von einer großen pädagogischen Innovation, die Sie be absichtigten, jetzt sprechen Sie von einem „kleinen Rettungs schirm“ für die Kommunen.

Matthias Klopfer, ehemaliger Fraktionsgeschäftsführer der SPD, jetzt OB in Schorndorf, hat es auf den Punkt gebracht: Was jetzt vorliegt, ist lediglich ein Schonprogramm für den ländlichen Raum.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der FDP/ DVP – Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU: So ist es, genau!)

Es sind vorrangig kleine Schulen; die Einzügigkeit ist fast zur Regel geworden. Es hat den Anschein, als würden am Ende die Werkrealschulen lediglich zu Gemeinschaftsschulen um etikettiert werden, meine Damen und Herren.

(Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU: Mit einer besse ren Ausstattung!)

Sehr bedenklich ist die Benachteiligung anderer Schularten. Wir werden Ihnen immer wieder Belege dafür liefern, dass Sie systematisch die gut funktionierenden anderen weiterfüh renden Schularten des differenzierten Bildungssystems be nachteiligen. Obwohl aufgrund der Heterogenität der Schü lerschaft ebenso in den noch bestehenden Werkrealschulen, in den Realschulen und in den Gymnasien individueller För derbedarf besteht, benachteiligen Sie diese Schularten.

Deswegen sagen wir, meine Damen und Herren: Gerade weil durch die Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfeh lung die Heterogenität in diesen Schularten zunehmen wird – das werden wir nach Kenntnis der Übergangszahlen in weni gen Wochen feststellen können –, verdienen diese Schulen Ih re zusätzliche Unterstützung, ohne sie jedoch zu erhalten.

(Beifall bei der CDU – Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU: Die brauchen sie!)

Meine Damen und Herren, drei Belege möchte ich dafür an führen. Die bessere Ressourcenausstattung ist bezeichnend: drei Stunden mehr pro Jahrgang plus verbindliche Ganztags schule plus weitere Deputate für individuelle Förderung. Sie senken den Klassenteiler bei den Gemeinschaftsschulen auf 28.

Jetzt kann man natürlich finanzpolitisch argumentieren, wir hätten jetzt nicht das Geld, um für alle Schularten den Klas senteiler auf 28 zu reduzieren. Aber, meine Damen und Her ren, Gleichbehandlung ist angesagt. Wenn Sie bei den Ge meinschaftsschulen den Klassenteiler auf 28 senken, dann ist es nur gerecht, das auch bei den anderen Schularten zu tun.

(Beifall bei der CDU und des Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP)

Im Übrigen haben wir zur Kenntnis genommen, dass Sie die Schulbauförderung in einem Punkt anpassen wollen. Sie wol len, was die Programmflächen für die Ganztagsschulen be trifft, eine Erweiterung vornehmen und damit die Zuschüsse erhöhen – aber nur für die Ganztagsschulen als Gemein schaftsschulen, nicht für die Ganztagsschulen der anderen Schularten. Das müssen Sie erst einmal erklären.

Fazit: Ihre „gerechte Schule“ führt zu Ungerechtigkeiten für andere Schularten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP – Abg. Dr. Dietrich Birk CDU: Sehr gut!)

Für die Fraktion GRÜ NE erteile ich Frau Abg. Boser das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren! Heute ist ein guter Tag für das Bildungssystem in BadenWürttemberg.

(Beifall bei den Grünen und der SPD – Zuruf des Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP)

Endlich wird es auch in Baden-Württemberg eine Schulform geben, an der Heterogenität als Chance gesehen wird und an der alle Kinder eingeladen sind, länger gemeinsam zu lernen.

Viele Schulleiterinnen und Schulleiter, Lehrerinnen und Leh rer haben in den vergangenen Jahren erfolglos Anträge ge stellt, um diese Schulform anbieten und umsetzen zu können. Dies wird sich mit der Einführung der Gemeinschaftsschule nun endlich ändern. Wir legitimieren diesen Wunsch der Schu len und schaffen somit ein lange gefordertes neues Schulan gebot in Baden-Württemberg.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Unter den Starterschulen sind einige der Schulen, die in den vergangenen Jahren bereits versucht haben, die Gemeinschafts schule unter den bisherigen Regularien anzubieten und um zusetzen. Darauf aufbauend werden wir das mit dem vorge legten Schulgesetz ausbauen und allen Schulen in BadenWürttemberg anbieten.

Doch nicht nur die Schulen in Baden-Württemberg haben auf dieses Angebot gewartet. Die sehr gut besuchten Informati onsveranstaltungen der Starterschulen zeigen das große Inte resse der Eltern an diesem Schulangebot. Die Antworten im Rahmen des Anhörungsverfahrens zeigen, dass das Angebot der Gemeinschaftsschule insgesamt und vor allem aus der Wirtschaft heraus auf große Zustimmung stößt und eine hohe Erwartung damit verbunden ist, dass es der Gemeinschafts

schule gelingt, mehr Schülerinnen und Schüler zu einer ver besserten Ausbildungsreife zu bringen.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Denn dies muss eines unserer Ziele sein: den Jugendlichen nicht nur einen Abschluss zu ermöglichen, sondern eine Per spektive auf dem Ausbildungs- und auf dem Arbeitsmarkt zu eröffnen. Wir haben in Baden-Württemberg eine der niedrigs ten Abbrecherquoten im Schulsystem.

(Beifall des Abg. Karl Rombach CDU – Abg. Karl Zimmermann CDU: So ist es!)

Aber wir haben viel zu viele Jugendliche, die keine Ausbil dung angehen, sondern die auf dem Arbeitsmarkt in Hilfsar beiterpositionen kommen,

(Zurufe von der CDU: Quatsch!)

weil sie das Angebot der Ausbildung nicht annehmen können. Deshalb brauchen wir verstärkt Jugendliche, die auch in die Ausbildung gehen, um eine Qualifizierung auf dem Arbeits markt zu erhalten.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Baden-Württemberg liegt an der Spitze, was die Wissensver mittlung betrifft. Dabei soll es natürlich auch bleiben. Was Ba den-Württemberg aber bis heute nicht geschafft hat, ist die Entkopplung des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft. Dies muss sich ändern.