Protokoll der Sitzung vom 12.06.2013

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die 70. Sitzung des 15. Landtags von Baden-Württemberg.

Urlaub für heute habe ich Herrn Abg. Throm und Herrn Abg. Hinderer erteilt.

Aus dienstlichen Gründen entschuldigt haben sich Herr Mi nister Stickelberger, Herr Minister Dr. Schmid ab 11:30 Uhr und Herr Minister Hermann ab 12:00 Uhr.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf Ihren Tischen finden Sie einen Vorschlag der Fraktion der CDU für eine Umbesetzung im Untersuchungsausschuss „EnBW-Deal“ (Anlage). Ich stel le fest, dass Sie der vorgeschlagenen Umbesetzung zustim men. – Es ist so beschlossen.

(Unruhe)

Ich bitte Sie, die Gespräche einzustellen. Ansonsten wird es für die Redner schwierig. Wir sind ein Parlament des „Zu hörensollens“ und nicht des Unterhaltens untereinander. Dan ke.

Wir treten in die Tagesordnung ein.

Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:

Aktuelle Debatte – Schluss mit Lohndumping und Tarif flucht durch den Missbrauch von Werkverträgen – bean tragt von der Fraktion der SPD

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Präsidium hat für die Aktuelle Debatte eine Gesamtredezeit von 40 Minuten festge legt. Darauf wird die Redezeit der Regierung nicht angerech net. Für die einleitenden Erklärungen der Fraktionen und für die Redner in der zweiten Runde gilt jeweils eine Redezeit von fünf Minuten. Ich darf die Mitglieder der Landesregie rung bitten, sich ebenfalls an den vorgegebenen Redezeitrah men zu halten.

Schließlich darf ich auf § 60 Absatz 4 der Geschäftsordnung verweisen, wonach im Rahmen der Aktuellen Debatte die Aussprache in freier Rede zu führen ist.

Für die SPD-Fraktion erteile ich dem Fraktionsvorsitzenden Schmiedel das Wort.

(Abg. Hans-Ulrich Sckerl GRÜNE: Chefsache!)

Herr Präsident, liebe Kollegin nen und Kollegen! Geht es meinem Unternehmen gut, geht es auch mir gut.

(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Das ist von der SPD! – Zuruf des Abg. Helmut Walter Rüeck CDU)

Diese Formel, dieses Versprechen der sozialen Marktwirt schaft galt über viele Jahrzehnte in der Bundesrepublik. Das hat dazu beigetragen, dass mit dem wachsenden Wohlstand, mit dem Wirtschaftswunder auch das von Ludwig Erhard, dem Vater der sozialen Marktwirtschaft, gegebene Versprechen „Wohlstand für alle“ als Zielmarke weitgehend eingelöst wur de.

Dieser Zusammenhang zwischen der guten wirtschaftlichen Entwicklung und dem guten persönlichen Einkommen, dem guten Wohlstand, den man hat, wurde aber in den vergange nen Jahren zunehmend zerstört. Zunächst geschah das durch den Einsatz von Leiharbeitern, indem man gesagt hat: „Wir lösen uns von Stammbelegschaften, setzen Leiharbeiter ein, aber nicht um Konjunkturschwankungen, um Auftragsspitzen abzuglätten, sondern um unsere Lohnkosten zu senken.“ Seit es Mindestlöhne für Leiharbeit gibt, seit es Branchentarifverträge gibt, werden zunehmend Werkverträge eingesetzt, wird die Ar beit in den Betrieben segmentiert, wird gesagt: „Wir lösen dies aus der Produktionskette, das aus der Produktionskette, jenes aus der Produktionskette und lassen das durch Arbeitnehmer erbringen, die nicht zum Betrieb gehören, die nicht dem Bran chentarifvertrag unterliegen, und senken damit unsere Lohn kosten und erhöhen die Gewinne.“

Bei diesem Prozess, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird ein zentraler Punkt des Zusammenhalts in unserer Gesellschaft zerstört, dass es nämlich Belegschaften gibt, die sagen: „Ich schaffe bei Daimler.“ „Ich schaffe bei Porsche.“ „Das ist mein Unternehmen, dafür setze ich mich ein. Wenn es ihm gut geht, geht es mir gut.“ Wenn wir diesen Zusammenhang zerstören, dann zerstören wir ein wesentliches Element nicht nur der so zialen Marktwirtschaft, sondern auch des sozialen Zusammen halts in unserer Gesellschaft.

(Beifall bei der SPD und den Grünen)

Wir wissen nicht genau, wie viele Werkverträge zu diesem Zweck eingesetzt werden, weil Werkverträge natürlich ein Grundelement des Wirtschaftens sind. Wenn in einer Fabrik eine Wand neu gestrichen werden soll, dann gibt man den Auf trag an ein Malerunternehmen, nicht an die eigene Beleg schaft. Dann kommt das Malerunternehmen und erledigt die se Arbeit. Wir wissen es deshalb nicht, weil Werkverträge über den Einkauf abgewickelt werden, nicht über die Personalab teilung, und deshalb der Mitbestimmung der Betriebsräte ent zogen sind. Deshalb können wir nur durch eigene Anschau

ung, indem man in das Werk hineinblickt, spüren, wie stark diese Fehlentwicklung um sich greift. Wir hören aus den Be triebsräten und aus den Gewerkschaften, dass der Anteil der Werkverträge zunimmt, seit es Mindestlöhne für Leiharbeit gibt, seit es z. B. in der Metallindustrie Branchenbestimmun gen für Leiharbeit gibt.

Jetzt ist durch einen Redakteur des SWR Daimler in den Blickpunkt gerückt. Es wurde spektakulär aufgedeckt, dass da jemand arbeitet, der hilft, Autos zu bauen, und von seiner Arbeit nicht leben kann. Ich sage an dieser Stelle: Das ist in akzeptabel. Ich finde es auch wirklich nicht in Ordnung, dass der zuständige Vorstand, anstatt sich zu entschuldigen, sagt: „Wir müssen das halt machen. Wir können nicht die gesamte Produktionslinie durch Beschäftigte abdecken, denen Tarif löhne der Metallbranche gezahlt werden, sondern wir müssen schauen, wie wir Teile der Produktion ausgliedern.“ Das ist nicht in Ordnung. Aber Daimler gehört noch zu den Unter nehmen, die am wenigsten davon Gebrauch machen, durch solche Konstruktionen über Werkverträge letztlich Lohndum ping durch die Hintertür zu betreiben.

Die IG Metall hat eine Untersuchung vorgelegt, bei der deut lich wird, dass Werkverträge in breitem Umfang Einzug ge halten haben. Die Spitze des Eisbergs ist eine Produktions stätte von BMW in Leipzig, bei der 57 % der Arbeitnehmer in der Fabrik nicht das BMW-Emblem tragen, sondern ande re Arbeitgeber haben und dadurch von diesem Zusammen hang „Geht es dem Unternehmen gut, geht es auch mir gut“ abgekoppelt sind. Dieser Entwicklung, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir Einhalt gebieten.

(Beifall bei der SPD und den Grünen)

Wir können es nicht zulassen, dass der soziale Zusammenhalt zuerst in der Fabrik, im Unternehmen zerstört wird und dann letztlich in der Gesellschaft. Es ist nicht fair, wenn man den Wettbewerb, der natürlich auch in der sozialen Marktwirt schaft elementar dazugehört, dadurch gewinnt, dass man die Löhne drückt und Lohndumping betreibt. Der Wettbewerb in der sozialen Marktwirtschaft muss über Qualität, über besse re Produkte, über Innovation, über Kundennähe entschieden werden. „Besser und nicht billiger“, das war das Rezept, mit dem Deutschland Exportweltmeister wurde; Deutschland wur de es nicht, weil die hier hergestellten Produkte billiger wa ren, sondern wurde es, weil sie besser waren.

(Beifall bei der SPD und den Grünen)

Deshalb ist es nicht nur sozialpolitisch verwerflich, wenn man über solche Konstruktionen, über den Missbrauch von Werk verträgen versucht, den Wettbewerb zu gewinnen. Das ist auch wirtschaftspolitisch falsch, weil man das Augenmerk davon abwendet, zu sagen: „Wir müssen besser sein“, wenn man sagt: „Wir können den Wettbewerb auch gewinnen, indem wir billiger sind.“

Das ist im Grunde genommen der Hintergrund dafür, dass wir in der grün-roten Koalition gesagt haben: „Wir wollen zumin dest das, was wir im Hinblick auf die Vergabe öffentlicher Aufträge tun können, tun. Wir wollen verhindern, dass dieje nigen öffentliche Aufträge erhalten, die Lohndumping betrei ben, die Leiharbeiter einsetzen, die Billiglöhne bezahlen.“ Nein, wir wollen diejenigen mit öffentlichen Aufträgen beloh

nen, die besser sind, die Tariflöhne bezahlen, die ausbilden, die anständige, die faire Arbeitsbedingungen haben. Es ist schade, dass Sie sich an dieser Stelle verweigert haben.

(Beifall bei der SPD und den Grünen)

Es ist auch schade, dass der Grundkonsens der sozialen Markt wirtschaft von Ihnen aufgekündigt wird, wenn es um gesetz liche Mindestlöhne geht. Über Jahrzehnte hat in der Bundes republik niemand über gesetzliche Mindestlöhne diskutiert. Ein Gesetz über Grundvoraussetzungen bezüglich der Arbeit wurde inhaltlich nie gefüllt, weil selbstverständlich war, dass Tariflöhne die Untergrenze darstellen. Das war einer der Grundpfeiler für unser Wirtschaftswunder. Dieser ist aber zer stört. Es gibt nach und nach immer weniger Tarifbindung. Deshalb müssen wir alles unternehmen, um erstens Tariflöh ne wieder zum Maß aller Dinge zu machen und zweitens in den Bereichen, in denen es keine Tariflöhne gibt, zumindest durch einen gesetzlichen Mindestlohn eine Untergrenze ein zuführen. Dass Sie sich auch dem verweigern, das ist wirk lich nicht zu verstehen. Denn Ludwig Erhard, der Vater der sozialen Marktwirtschaft – um diese geht es letztlich –, ge hört doch in Ihre Reihen.

(Abg. Martin Rivoir SPD: Na, na, na!)

Er hätte dafür gesorgt, dass dieser Grundpfeiler „Wohlstand für alle“ auch durch einen gesetzlichen Mindestlohn umge setzt wird.

(Beifall bei der SPD und den Grünen – Zuruf des Abg. Paul Nemeth CDU)

Deshalb führen wir heute diese Debatte. Wir wissen, dass wir rechtspolitisch nicht für die Neujustierung von Werkverträgen – diese wird unumgänglich – zuständig sind, aber wir wollen eine politische Positionierung auch im Landtag von BadenWürttemberg. Wir wollen, dass an die Unternehmen das Sig nal geht: Es ist keine nachhaltige Wirtschaftsweise, zu versu chen, sich im Wettbewerb, auch im internationalen Wettbe werb, dadurch zu positionieren, dass man Tariflöhne in den Unternehmen durch Leiharbeit oder – das nimmt leider jetzt überhand – durch Werkverträge Zug um Zug zurückführt. Das ist nicht nachhaltig. Das werden wir korrigieren.

Wir wollen, dass das, was über viele Jahrzehnte in BadenWürttemberg, aber auch in Deutschland insgesamt gegolten hat, nämlich der soziale Zusammenhang „Wenn es dem Un ternehmen gut geht, geht es auch den Arbeitnehmern gut“, wiederhergestellt wird und dass diese Grundregel der sozia len Marktwirtschaft wieder von allen akzeptiert, respektiert und anerkannt wird.

(Beifall bei der SPD und den Grünen)

Für die CDU-Fraktion erteile ich Herrn Abg. Schreiner das Wort.

Herr Präsident, meine sehr ge ehrten Damen und Herren! Herr Schmiedel, manches von dem, was Sie gerade gesagt haben, mag richtig sein,

(Zurufe von der SPD, u. a. Abg. Claus Schmiedel: Al les!)

aber ich glaube, Ludwig Erhard hätte sich angesichts der Par teitagsrede, die Sie gerade gehalten haben, im Grab umge dreht.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Abg. Claus Schmiedel SPD: Er wäre in die SPD eingetreten, mein Lieber!)

Meine Damen und Herren, die in der Berichterstattung von ARD und SWR über den möglichen Missbrauch von Werks verträgen

(Abg. Walter Heiler SPD: Werkverträgen!)

geschilderten Vorfälle bei Daimler, zuletzt aber auch bei Ama zon und weiteren – in der Berichterstattung wurden Beispie le genannt –, haben uns alle betroffen gemacht. Wir sind uns einig: Missbrauch beim Einsatz von Werkverträgen ist nicht akzeptabel. Deshalb muss jeder einzelne Vorfall untersucht werden. Vor allem muss kontrolliert werden.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Die Berichterstattung im SWR skandalisiert die Debatte na türlich auch ein wenig. Der SWR-Redakteur Jürgen Rose ging unter falscher Identität über den Dienstleister Preymesser in das Unternehmen. In der Berichterstattung ist die Rede von „Lohnsklaven“ und von „Hungerlohn am Fließband“.

In der Stellungnahme des Daimler-Konzerns – Sie kennen die se – wird ausgeführt, dass der Konzern über Werkverträge Dienstleistungen und Arbeiten in Auftrag gegeben hat, die nicht im Mittelpunkt der eigenen Wertschöpfungskette stehen – also in den Bereichen Logistik, Gebäudereinigung oder Ma lerarbeiten. Auch im aktuellen Fall hat der Redakteur nicht die gleiche Arbeit wie die Daimler-Mitarbeiter ausgeführt. Ich gebe nur wieder, was der Daimler-Konzern uns allen geant wortet hat.

Ich hatte Kontakt zu Daimler. Gestern fand eine Betriebsver sammlung zu diesem Thema statt, und ich hatte für die CDULandtagsfraktion im Vorfeld deutlich gemacht, dass das Inst rument des Werkvertrags eben nicht dazu dienen darf, dass Tarifverträge ausgehebelt werden. Das ist nicht akzeptabel. Herr Schmiedel, da sind wir gar nicht so weit auseinander: Es geht im Kern darum, dass Scheinwerkverträge gerade dort, wo eine tatsächliche Arbeitnehmerüberlassung stattfindet, aus gemerzt werden. Denn mit ihnen läge ein Missbrauch des In struments Werkvertrag vor, und genau dieser Missbrauch, Herr Schmiedel, ist illegal. Deshalb müssen wir über die Fol gen dieses Missbrauchs gar nicht diskutieren,

(Zuruf von der SPD: Doch!)

denn dieser Missbrauch ist schon heute illegal, und es gibt kla re Regelungen und klare Kriterien in der Rechtsprechung, wie man hier vorgehen muss. Frau Arbeitsministerin von der Leyen, die Bundeskanzlerin und viele andere haben sich da zu in den letzten Wochen auch in der Weise geäußert, dass be stehende Rechtslücken, die z. B. die nachträgliche Umwand lung eines Werkvertrags in einen Zeitarbeitsvertrag ermögli chen, behoben werden müssen. Auch hierüber besteht kein Dissens.