Protokoll der Sitzung vom 30.01.2014

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP/DVP und der CDU – Zuruf des Abg. Siegfried Lehmann GRÜNE)

Für die Landesregierung erteile ich Herrn Minister Stoch das Wort.

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Das ist jetzt für mich in zwei Plenartagen die siebte Gelegenheit, hier am Pult zu stehen. Ich kann Ihnen ehrlich sagen: Von Debat te zu Debatte wird es schwieriger, hier auf eine sachliche Ebe ne zu kommen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, vor allem liebe Kol leginnen und Kollegen von der Opposition, Sie tun ein ums andere Mal das Gleiche. Sie bringen Schularten gegeneinan der in Stellung. Sie wiegeln die Leute gegeneinander auf. Ich glaube, das hat nichts mit verantwortungsvoller Schulpolitik zu tun.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Ich werde Ihnen im Folgenden darlegen, dass all das, was Sie hier als vermeintlichen Gegensatz aufbauen wollen, eine Schi märe ist und auch nicht funktionieren wird, um die Menschen im Land zu beunruhigen; denn das, was Sie als Widerspruch darzustellen versuchen, ist kein Widerspruch.

Die beruflichen Gymnasien in Baden-Württemberg stellen – das ist unbestritten und wird natürlich auch von der Landes regierung anerkannt – einen für junge Menschen attraktiven Weg zur allgemeinen Hochschulreife dar. Sie stellen einen passenden Anschluss zur Sekundarstufe I her und sind beliebt wegen der konsequenten beruflichen Orientierung. Über die beruflichen Schulen wurden im Durchschnitt der vergange nen Jahre über 50 % der Hochschulzugangsberechtigungen im Land erworben.

Dies hat seine Ursache darin, dass das berufliche Schulwesen individuelle Bildungsbiografien ermöglicht und junge Men schen auf verschiedenen Wegen zu Bildungserfolgen führen kann. Die zahlreichen Möglichkeiten des Anschlusses an das berufliche Schulwesen leisten dabei einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Durchlässigkeit unseres Schulsystems. Bei entsprechender Qualifikation ist ein Durchstieg bis zur allgemeinen Hochschulreife möglich. Durch die hohe Quali tät ihrer Arbeit in Kombination mit ihrer konsequenten Be rufsorientierung sind die beruflichen Gymnasien eine wichti ge Nachwuchsschmiede für unsere heimische Wirtschaft.

Ich nenne ein paar Zahlen: Im Schuljahr 2012/2013 besuch ten über 55 000 Schülerinnen und Schüler ein berufliches Gymnasium an einem der ca. 220 Standorte in Baden-Würt temberg. Zum Schuljahr 2013/2014 stieg die Zahl erneut, und zwar um gut 3 400 auf knapp 58 600 Schülerinnen und Schü ler. Jeder dritte Abiturient in Baden-Württemberg erhält sein Abiturzeugnis an einem beruflichen Gymnasium. In den ver gangenen zehn Jahren ist die Zahl der Absolventinnen und Absolventen um rund 40 % gestiegen.

Unter den Absolventinnen und Absolventen der beruflichen Gymnasien – auch das ist ein ganz wichtiger Aspekt – befin den sich besonders viele junge Menschen mit einem Zuwan derungshintergrund. Die beruflichen Gymnasien tragen dabei beispielhaft zur Entkopplung von sozialer Herkunft und Bil dungserfolg bei und leisten damit einen wichtigen Beitrag zu mehr Chancengerechtigkeit in unserem Bildungssystem.

Auf dem Weg hin zu mehr Bildungsgerechtigkeit ist die Ent kopplung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg – das wis sen Sie – eine der wichtigsten Herausforderungen und eine der größten Aufgaben, vor denen wir stehen. Dabei leisten die beruflichen Gymnasien eine wichtige Arbeit.

Laut einer aktuellen TOSCA-Studie kommen die Schülerin nen und Schüler an beruflichen Gymnasien eher aus gymna sialfernen Familien. Dies zeigt sich an niedrigeren Bildungs abschlüssen der Eltern, an einer niedrigeren beruflichen Stel lung und an geringeren sozialökonomischen Indizien. Des halb tragen die beruflichen Gymnasien laut TOSCA-Studie zur Offenheit des Bildungssystems bei und sind Schulen des sozialen Aufstiegs. Zudem machen in besonderer Weise Schü lerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund von diesem Bildungsweg Gebrauch.

Gerade an den beruflichen Gymnasien ist der Anteil dieser Schülerklientel deutlich höher als an den allgemeinbildenden

Schulen. Die beruflichen Gymnasien spielen daher bei Fragen der Integration eine zentrale Rolle. Bei vermehrter Zuwande rung in unser Land und damit auch in unser Bildungssystem steigt damit auch die Bedeutung der beruflichen Gymnasien.

Dabei arbeiten die beruflichen Gymnasien auf einem hohen fachlichen Niveau, wie dies alle vorliegenden Evaluationen bestätigen. Die Ergebnisse der TOSCA-Studie bestätigen, dass die beruflichen Gymnasien ein Erfolgsmodell sind und auch eine substanzielle Erweiterung des Zugangs zur Hochschule darstellen.

Insbesondere an den Technischen Gymnasien verfügen die Schülerinnen und Schüler über eine sehr hohe kognitive Grundfähigkeit. Dies weist darauf hin, dass diese Schulen bei spielsweise für starke Realschülerinnen und Realschüler eine attraktive Alternative zur Oberstufe eines allgemeinbildenden Gymnasiums sind.

Die beruflichen Gymnasien in Baden-Württemberg leisten durch ihre Differenzierungen und die verschiedenen Profile auch einen wesentlichen Beitrag zur Förderung der Nach wuchskräfte und damit zur Zukunftsfähigkeit dieses Landes.

Folgerichtig wurden die beruflichen Gymnasien von dieser Landesregierung – man muss es offen sagen: nachdem Sie das versäumt hatten – ausgebaut.

(Zuruf der Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU)

Das heißt, durch die 150 zusätzlichen Eingangsklassen haben wir das geschafft, was jahrelang nur als eine Floskel oder als eine Phrase vorhanden war: kein Abschluss ohne Anschluss.

(Zuruf der Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU)

Die grün-rote Landesregierung hat es geschafft, jedem Schü ler, der einen Platz an einem beruflichen Gymnasium haben will, diesen auch zur Verfügung zu stellen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, deswegen glauben wir, dass die beruflichen Gymnasien auch zukünftig ein wichtiger Fak tor in der Bildungslandschaft Baden-Württembergs sein wer den. Wir haben dazu im Hinblick auf die aktuellen Entwick lungen auf dem Arbeitsmarkt neue Profile eingeführt. Ich nen ne beispielsweise das Profil „Internationale Wirtschaft“ an Wirtschaftsgymnasien und das Profil „Umwelttechnik“ an den Technischen Gymnasien. Zum Schuljahr 2012/2013 folgten ein weiterer Ausbau um 50 Eingangsklassen und die Einfüh rung des neuen Profils „Gesundheit“ an den sozial- und ge sundheitswissenschaftlichen Gymnasien.

Nach derzeitigem Stand können wir davon ausgehen, dass je de Bewerberin und jeder Bewerber einen Platz an einem be ruflichen Gymnasium erhält. Wir gehen davon aus, dass wir dadurch eine gute Grundlage für viele junge Menschen schaf fen konnten, die anschließend über den Weg der Dualen Hoch schule, über die Hochschulen für angewandte Wissenschaften oder über die Universitäten erfolgreich in ein Berufsleben star ten können.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Widerspruch, den Sie aufzubauen versuchen, existiert nicht. Berufliche Gymnasien sind auch deshalb attraktiv, weil sie einen neunjährigen Weg zum Abitur eröffnen. Viele von uns wissen, dass sich Eltern

von Kindern mit einer Empfehlung für das Gymnasium be wusst für den Weg über eine Realschule oder auch über eine Gemeinschaftsschule entscheiden, weil sie ihren Kindern auf dem Weg zur Hochschulreife ein Jahr zusätzlich geben wol len.

Deswegen ist es für uns eine wichtige Option, dass nach der Sekundarstufe I auch an der Gemeinschaftsschule das Ange bot an den beruflichen Gymnasien ein ergänzendes Angebot sein kann und es deswegen natürlich sehr gut zusammenpasst. Eine große Zahl der Gemeinschaftsschulen wird deutlich we niger als die von Herrn Kollegen Müller angesprochenen 60 Schülerinnen und Schüler haben, die für eine Oberstufe zur Verfügung stehen. Deswegen werden die beruflichen Gymna sien ein hervorragendes Angebot für viele Gemeinschaftsschu len in diesem Land sein.

Aus Qualitätsgründen war es uns wichtig, eine Mindestschü lerzahl von 60 gesetzlich zu verankern, damit wir eine ent sprechende Größenordnung erreichen, um ein qualitativ hoch wertiges Angebot für eine Sekundarstufe II an Gemeinschafts schulen vorzuhalten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, zeichnen Sie deshalb bitte kein Zerrbild. Wenn Sie behaupten, es bestehe ein Wider spruch zwischen den Gemeinschaftsschulen und den berufli chen Schulen und ihren Angeboten, dann negieren Sie mei nes Erachtens, dass die Gemeinschaftsschule genau die Rol le einnehmen kann, die in der Vergangenheit z. B. die Real schule eingenommen hat. Sie werden wohl nicht ernsthaft be haupten, dass die Realschulen im Widerspruch zu den Inter essen der beruflichen Schulen standen.

Insofern sprechen wir heute tatsächlich vom Angebot der be ruflichen Gymnasien. Dabei dürfte eines ganz klar sein: Um eine hohe Qualität und auch die Erreichbarkeit aller Bildungs abschlüsse in der Fläche des Landes zu erreichen, brauchen wir an den Gemeinschaftsschulen, die über keine eigene gym nasiale Oberstufe verfügen, erfolgreich arbeitende und mit vielen Profilen ausgestattete berufliche Gymnasien. Wir brau chen eventuell auch Möglichkeiten des Übergangs auf die all gemeinbildenden Gymnasien. Für eine Gemeinschaftsschule bis zur Klasse 10 muss es auch die Möglichkeit des Übergangs auf ein allgemeinbildendes Gymnasium geben. Deshalb be fasst sich eine Arbeitsgruppe innerhalb des Kultusministeri ums damit, diese Übergänge auszugestalten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, dies alles dient nicht dem Schutz von Schular ten. Wir müssen vom Denken in Schularten wegkommen. Al les muss immer aus der Sicht des Kindes bzw. des Jugendli chen erfolgen. Wir müssen gute Bildungswege für die Kinder in unserem Land konstruieren, aber nicht für Schularten.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Deswegen hängt die Entwicklung von Schülerströmen ganz wesentlich von der Attraktivität eines Bildungsgangs und da mit zentral von den Entscheidungen der jungen Menschen und deren Eltern ab.

Daher schlage ich Ihnen Folgendes vor: Lassen Sie doch die Gemeinschaftsschulen, die es derzeit maximal bis zur Klas se 6 gibt, ihre Arbeit machen. Bewerten Sie die Leistungen,

die dort erreicht werden, fair und objektiv. Erst dann, wenn die Entscheidung ansteht, ob an einer Gemeinschaftsschule eine Sekundarstufe II eingerichtet werden soll, sollten wir die Sinnhaftigkeit einer entsprechenden Genehmigung bewerten.

Aus heutiger Sicht haben viele Gemeinschaftsschulen, die ei ne entsprechende Größe nachweisen können – dies sind vor allem Gemeinschaftsschulen, die aus Realschulen hervorge gangen sind, oder Gemeinschaftsschulen, die eine gewisse Größe haben, wie dies z. B. in Konstanz der Fall ist –, ein gro ßes Interesse daran, das gymnasiale Leistungsniveau nicht nur bis zur Klasse 10, sondern auch bis zur Klasse 13 abbilden zu können. Sie werden sehen – da können Sie mich beim Wort nehmen; das sehen wir an der Zahl der Schülerinnen und Schüler in den Eingangsstufen der Gemeinschaftsschulen –, dass dies voraussichtlich nur für einen kleinen Teil der Ge meinschaftsschulen gelten wird.

Ich schließe dabei nicht aus, dass in ländlichen Räumen, wo die Entfernung zu den Standorten der beruflichen Schulen grö ßer wird, teilweise Kooperationen zwischen verschiedenen Gemeinschaftsschulen, die gemeinsam eine Oberstufe bilden können, eingegangen werden können. Dies ist aber im Sinne der Kinder und Jugendlichen hinsichtlich der Erreichbarkeit von differenzierten Bildungsabschlüssen und nicht in Kon kurrenz zu den Standorten beruflicher Schulen zu sehen.

Ganz herzlichen Dank.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Für die CDU-Fraktion erteile ich Herrn Abg. Wacker das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, die von Ih nen vorgenommene inhaltliche Beschreibung der beruflichen Gymnasien unterstreiche ich 1 : 1. Ich habe ja auch aus Ihrer Antwort zitiert. Ich denke, da gibt es überhaupt keinen Dis sens.

Trotzdem haben Sie in einem Punkt einen Widerspruch auf gemacht. Die beruflichen Gymnasien beweisen seit vielen Jah ren, dass sie eine ausgesprochen hohe Qualität bieten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der FDP/ DVP)

Die Gemeinschaftsschulen haben diesen Beweis eben noch nicht erbracht.

(Beifall der Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU – Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU: Genau!)

Das ist der entscheidende Unterschied. Wenn wir uns die Ge meinschaftsschulen einmal genau anschauen, müssen wir – –

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Es gibt ja gar kei ne Vergleichsmöglichkeit! – Gegenruf des Minister präsidenten Winfried Kretschmann: Seit einem Jahr gibt es sie!)

Wir wissen doch, meine Damen und Herren, dass die Gemein schaftsschulen bereits heute Probleme haben, die gymnasia len Standards zu erfüllen.

Betrachten wir beispielsweise den Unterricht in der zweiten Fremdsprache. Was hat Ihr Haus geantwortet? Ihr Haus hat geantwortet, dass bereits acht der 42 Starterschulen überhaupt nicht in der Lage sind, Französisch als zweite Fremdsprache zu unterrichten, weil sie die Voraussetzungen vor Ort nicht haben.

Jetzt erklären Sie mir – nicht nur im Hinblick auf die zweite Fremdsprache, sondern auch hinsichtlich der anderen Fächer, bezogen auf das gymnasiale Niveau –, wie Sie das, was im Vergleich die allgemeinbildenden Gymnasien in der Sekun darstufe I leisten, konsequent sicherstellen können.