Protokoll der Sitzung vom 29.01.2020

Das Wort zur Begründung durch die Landesregierung erteile ich Herrn Minister Wolf.

Frau Prä sidentin, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht hat der irische Schriftsteller und Satiriker Swift die seit dem Referendum im Vereinigten Königreich über die Mitglied schaft in der EU am 23. Juni 2016 vergangene Zeit gemeint, als er folgenden Satz prägte:

Fantasie ist die Gabe, unsichtbare Dinge zu sehen.

Jahrelang war für Großbritannien, die übrigen EU-Mitglieds staaten, aber auch für den Rest der Welt nicht abzusehen, wann und in welcher Form der Austritt Großbritanniens aus der EU Realität werden würde. Der Austritt blieb für viele ein Gedan kenspiel.

Natürlich sind auch am heutigen Tag längst nicht alle Fragen rund um den Brexit beantwortet. Sicher ist jedoch: Großbri

tannien wird mit Ablauf des 31. Januar als erster Mitglieds staat in der Geschichte die Europäische Union verlassen.

(Beifall bei Abgeordneten der AfD – Abg. Daniel Rottmann AfD: Great Britain! – Zuruf des Abg. Dr. Heinrich Fiechtner [fraktionslos])

Es ist keine Fantasie mehr notwendig: Was für lange Zeit nur in den Vorstellungen der Menschen existierte, wird nun Wirk lichkeit.

Sie alle wissen – ich glaube, ich spreche für viele in diesem Hause –: Ich bedaure diese Entwicklung.

(Zuruf von der AfD: Blödsinn!)

Aber nach jahrelangem zähen Ringen und der damit verbun denen Unsicherheit, die der Austrittsprozess für alle Beteilig ten gebracht hat, überwiegt jetzt erst mal die Erleichterung. Das Austrittsabkommen ermöglicht durch die Übergangspha se bis Ende dieses Jahres einen geregelten Brexit und damit Rechtssicherheit für die Bürgerinnen und Bürger sowie die Wirtschaft.

Das neue Austrittsabkommen wird nach dem letzten Schritt im Ratifizierungsprozess, der Zustimmung des Europäischen Parlaments am heutigen Tag, am 1. Februar 2020 in Kraft tre ten. Das Vereinigte Königreich wird während der nun anste henden Übergangsphase einem EU-Mitgliedsstaat gleichge stellt, allerdings ohne Beteiligungsrechte in den EU-Organen innezuhaben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir in Baden-Württemberg haben uns mit Blick auf den Brexit nicht nur auf unsere Fan tasie verlassen. Der Landtag hat bereits im Februar 2019 das Brexit-Übergangsgesetz für Baden-Württemberg beschlossen, zu jener Zeit noch im Hinblick auf das Ende der damaligen Austrittsfrist zum 31. März 2019.

Wie Sie alle wissen, sieht unser Brexit-Übergangsgesetz vor, den im Austrittsabkommen vereinbarten Übergangszeitraum in baden-württembergisches Recht zu übertragen. Das Verei nigte Königreich wird damit auch bei uns weiter als EU-Mit gliedsstaat gelten, mit Ausnahme des Rechts für britische Bür gerinnen und Bürger, an Kommunalwahlen in Baden-Würt temberg teilzunehmen.

Das im Februar 2019 beschlossene Gesetz nimmt in seiner jet zigen Fassung – wie soll es anders sein? – Bezug auf das un ter Premierministerin Theresa May ausgehandelte Abkom men. Da Premierminister Boris Johnson im Oktober ein neu es Austrittsabkommen mit der EU verhandelt hat, um die Backstop-Regelung an der irisch-nordirischen Grenze neu zu fassen, wird auch eine Änderung des Brexit-Übergangsgeset zes für Baden-Württemberg erforderlich.

Der Gesetzentwurf sieht vor, die starre Verweisung auf das nun überholte May-Abkommen in eine gleitende Verweisung auf das neue Johnson-Abkommen zu ändern. Es handelt sich daher um eine formale technische und keine inhaltliche Än derung. Der Bundestag hat eine formale Anpassung des Bre xit-Übergangsgesetzes des Bundes vorgenommen. Andere deutsche Länder verfahren in gleicher Weise.

Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir noch einige grund legende Bemerkungen. Am Samstag beginnt ein neuer Ab

schnitt in der Beziehung zwischen der Europäischen Union und Großbritannien. Premierminister Johnson hat sich – so ist es zu lesen – für eine weniger enge Zusammenarbeit zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich ausgesprochen, als es das May-Abkommen vorgesehen hat. Es kommt jetzt für die Europäische Union, aber auch für den Bund und die Län der darauf an, in der Sache hart, doch mit Blick auf die enge Zusammenarbeit mit Großbritannien auch fair zu verhandeln.

Ich jedenfalls bin voller Zuversicht, und das aus mehreren Gründen. Michel Barnier wird die Verhandlungen auf EUEbene weiterhin betreuen. Mit ihm haben wir einen Brexiterprobten Chefunterhändler in unseren Reihen. Außerdem werden sich die EU-27 innerhalb der neu aufgebauten Struk tur in Brüssel eng abstimmen. Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren, was die sicherlich intensiven Verhandlungen in der Bundesregierung, aber auch im Länderkreis anbelangt.

Was zu erwähnen mir als Landesminister besonders wichtig ist, da mir die Mitwirkung Baden-Württembergs am Herzen liegt: Über den Bundesrat sollen wieder zwei Länderbeauf tragte zur Begleitung der Verhandlungen bestellt werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Verhandlungen werden auch für uns hier in Baden-Württemberg entscheidend. Wir haben ein großes Interesse an einem engen Austausch mit Großbritannien, insbesondere bei der Innen- und Sicherheits politik sowie mit Blick auf die zukünftigen Wirtschaftsbezie hungen und Fragen der Wissenschaftspolitik. Das Vereinigte Königreich fokussiert sich momentan stark auf Handelsfra gen. Eine Priorisierung der anderweitig zu regelnden Berei che ist Stand heute aber noch nicht vorgesehen.

Da Premierminister Johnson eine über den 31. Dezember 2020 hinaus verlängerte Übergangsphase ausschließt, haben Kom missionspräsidentin Ursula von der Leyen wie auch Michel Barnier bereits völlig zu Recht deutlich gemacht, dass nun mehr Priorisierungen notwendig werden. Denn eines müssen wir uns weiterhin bewusst machen: Bei einem Scheitern der Verhandlungen droht Ende des Jahres ein No-Deal-Verhältnis und ein Zurückfallen auf WTO-Niveau. Das kann niemand, das kann keiner der Beteiligten wirklich wollen.

(Zuruf des Abg. Dr. Heinrich Fiechtner [fraktions los])

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe es bei den Bera tungen zum ursprünglichen Brexit-Übergangsgesetz gesagt und wiederhole es gern: Dieses Jahr wird zeigen, ob es uns gelingt, gemeinsam mit den Briten zu verhindern, dass der Brexit nur Verlierer kennt. Mit der Änderung des Brexit-Über gangsgesetzes leisten wir erneut unseren Beitrag, um einen geregelten Brexit zu ermöglichen. Wenn es anders kommt, werden wir reagieren. Baden-Württemberg ist vorbereitet auf den Brexit, wie auch immer er am Ende aussehen wird.

Ich will zum Abschluss meiner Rede nochmals betonen: Wir bedauern diesen Schritt Großbritanniens, aber wir sehen jetzt die Verantwortung für die Zukunft, das Beste daraus zu ge stalten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU sowie Abgeordneten der Grü nen, der SPD und der FDP/DVP)

Meine Damen und Her ren, für die Aussprache hat das Präsidium eine Redezeit von fünf Minuten je Fraktion festgelegt.

Zuerst hat das Wort für die Fraktion GRÜNE Frau Kollegin Saebel.

Sehr geehrte Frau Vizeprä sidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Brexit – eine gefühlt unendliche Geschichte, wenngleich keine erfreuliche. Als wir vor knapp einem Jahr das Brexit-Übergangsgesetz Ba den-Württemberg beschlossen hatten, war der weitere briti sche Weg noch sehr unklar. Die Wahl von Boris Johnson und die Regierungsumbildung schufen nun zumindest klarere Be dingungen.

Mit dem vorliegenden Gesetz zur Änderung des Brexit-Über gangsgesetzes Baden-Württemberg wollen wir den bei uns le benden britischen Staatsangehörigen Sicherheit verschaffen und auch bei unserer eigenen Wirtschaft für Sicherheit sor gen, dass sich zumindest nach dem offiziellen Brexit in zwei Tagen bis zum Ende der Übergangszeit am 31. Dezember 2020 nichts ändert. Einzige Ausnahme: Das aktive und das passive Wahlrecht für Gemeinderat und Kreisrat enden für bri tische Bürger, die keine weitere EU-Staatsangehörigkeit be sitzen, schon zum 31. Januar.

Mittlerweile haben beide Kammern des britischen Parlaments dem Brexit-Gesetz zugestimmt. In einem Übergangszeitraum bis zum 31. Dezember 2020 wird Great Britain weiterhin wie ein Mitgliedsstaat der EU behandelt – mit Zollunion und Ge meinsamem Markt. Das gibt uns etwas Zeit zur Regelung der künftigen Beziehungen, was für beide Seiten sinnvoll ist. Denn seit dem Brexit-Referendum im Juni 2016 brachen die Südwestexporte nach Großbritannien um fast ein Drittel ein.

Neben dem finanziellen ist auch ein großer Vertrauensschaden entstanden. Die Auswirkungen des Brexit-Deals von Johnson sind auch heute noch nicht ganz absehbar. Wird am Ende aus einem Großbritannien in der EU ein England ohne Schottland, vielleicht ohne Wales?

(Lachen des Abg. Anton Baron AfD)

Aber nehmen wir die Auswirkungen für uns in den Blick. Wenn nicht rechtzeitig ein Freihandelsabkommen abgeschlos sen wird, müssen baden-württembergische Unternehmen mit Zöllen, Handelsbeschränkungen und viel Bürokratie rechnen. Bei administrativen Prozessen wollen wir deshalb eng zusam menarbeiten, z. B. beim Mehrwertsteuerausgleich im grenz überschreitenden Handel.

Wir wollen weiterhin enge Beziehungen zu Großbritannien. Aber wir wollen unsere sozialen und unsere Umweltstandards nicht zur Disposition stellen.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen)

Boris Johnson hat schon angekündigt, dass er mit Blick auf Umwelt- und Verbraucherschutzstandards die EU in einen Wettbewerb nach unten treiben möchte. Dem müssen wir ent gegensteuern. Deutschland übernimmt im kommenden Som mer für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft. Genau dann werden die Details geklärt. Wir stehen zu unseren Ar beits- und Sozialrechten, zu unseren Umwelt- und Verbrau cherschutzstandards.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen – Vereinzelt Beifall bei der CDU)

Der Brexit bedeutet auch einen Einschnitt in der erfolgreichen europäischen Forschungszusammenarbeit und im Studieren denaustausch. Auch hier braucht es neue Vereinbarungen, da mit die nächste Generation der Wissenschaftler und der Stu denten in unserem Land diesen intensiven Austausch fortset zen kann.

Die EU will auf dem Weg zur Klimaneutralität mit ihrem Green New Deal Importe mit einem CO2-Grenzausgleich be legen. Im besten Fall schließt sich Großbritannien diesem Vor haben an.

Es wird insgesamt schwer sein, innerhalb von nur elf Mona ten ein Abkommen zu verhandeln. Notfalls muss wohl die Übergangsregelung verlängert werden.

Herausfordernd wird für uns auch der neue Mehrjährige Fi nanzrahmen der EU. Wenn die Briten nicht mehr einzahlen, bedeutet die aktuelle deutsche Position – das Beharren auf 1,07 % der europäischen Gesamtwirtschaftsleistung – eine Kürzung des EU-Haushalts. Gleichzeitig aber soll die EU mehr Aufgaben übernehmen, so beim Klimaschutz, bei Inno vationen, beim Grenzschutz und bei der Verteidigung. Wir Grünen hoffen, sie wird dafür auch finanziell entsprechend aufgestellt.

Hoffnungsvoll stimmt mich, dass sich die britische Regierung beim Weltwirtschaftsgipfel letztens in Davos in strategischen Fragen doch wieder an Europa orientierte. So will sie wie die EU amerikanische Internetkonzerne wie Google und Face book steuerlich zur Kasse bitten. Auch beim Atomabkommen mit dem Iran hält Großbritannien – zumindest bisher – zu Eu ropa. Für den britischen Schatzkanzler Javid steht das Frei handelsabkommen mit der EU prioritär vor dem Deal mit den USA.

Ich freue mich nun auf die Diskussion im Europaausschuss zu diesem Gesetzesvorhaben und möchte schließen mit einem Zitat von William Shakespeare, das die britische Situation vielleicht ganz gut schildert:

Glücklich bist du nicht: Was du nicht hast, dem jagst du ewig nach, vergessend, was du hast...

im britischen Fall: hattest.

Vielen Dank.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der CDU)

Für die CDU hat Herr Kol lege Joachim Kößler das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren! Lange war es ein Drama ohne Ende. Kaum ein Tag verging, an dem nicht ein weiterer Akt des britischen Dramas vonstat tenging. Nun steht es deutlich fest,