Protokoll der Sitzung vom 04.03.2020

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sprechen heute über ein Thema, das, glaube ich, aus der Sicht vor allem eines Betroffenen besprochen werden sollte, nämlich aus der Sicht des Kindes. Ich habe gehört, was Schulen können und nicht können, was Lehrerinnen und Leh rer sagen. Ich glaube, dass das Wohl des Kindes und die Fra ge, wie wir Eltern dabei unterstützen können, das Beste für ihr Kind zu finden – und dass Eltern das Beste für ihr Kind wollen, liegt, glaube ich, in der Natur der Sache –, eine Her ausforderung ist, vor der wir stehen, was, wie ich meine, auch Aufgabe eines Bildungssystems ist, das vom Kind her denkt.

Jetzt geht es um die Frage, ob wir wieder mehr Orientierung in Klasse 4 bieten müssen, damit sich das Wohl des Kindes in den weiterführenden Schulen besser widerspiegelt. Die Mög lichkeit, die wir – deshalb meinerseits ein klares Bekenntnis zum differenzierten Schulsystem – angesichts der unterschied lichen Schularten in Baden-Württemberg haben, die Kinder analog zu ihrer Begabung, zu ihrer Neigung, zu ihren Interes sen beschulen zu können, um anschließend berufliche und akademische Wege einschlagen zu können, ist eine Stärke un seres Schulsystems, die ich für nicht verhandelbar halte, die ich für existenziell halte und die ich vor allem für zukunftsfä hig halte.

(Beifall bei der CDU)

Die Frage ist nun, vor welcher Ausgangssituation wir stehen. Ich weiß nicht, wer von Ihnen heute den Lokalteil der „Stutt garter Zeitung“ gelesen hat. Da ist ausgerechnet heute ein gro ßer Artikel zu dem Thema drin, dass Gymnasialkinder zum Halbjahr – und zwar in erklecklicher Zahl, und das schon seit zwei Jahren – auf eine andere Beschulung hingewiesen wer den und auch umgesetzt werden. Das geschieht am Schul standort Stuttgart zwischen allen Schularten in hohem Kon sens. Der Handlungsbedarf ist offensichtlich.

Wir können feststellen, dass die Zahl derer – das bestätigen auch die Lehrer und die Schulen, wenn man mit denen spricht –, die in Klasse 6, 7, 8 im Gymnasium und in der Realschule von dieser Schulart wechseln, massiv zugenommen hat, weil die Kinder diese Schulart schlichtweg nicht bestehen können. Dass diese Zahl stark gestiegen ist, legen wir Ihnen in Ant worten auf zahllose Anfragen, die quer über die Fraktionen hinweg gestellt wurden, seit einiger Zeit dar.

Es zeigt sich, dass sich seit 2012 etwas verändert hat, dass wir seit 2012 mehr Kinder in Schularten haben, in denen die Kin der sichtlich überfordert sind.

(Beifall des Abg. Dr. Heinrich Fiechtner [fraktions los] – Abg. Dr. Heinrich Fiechtner [fraktionslos]: Sehr gut!)

Ich muss Ihnen eines sagen: Bildungspolitisch den Weg zu ge hen – – Wenn ein Kind beispielsweise am Gymnasium über fordert ist und dann auf eine andere Schulart wechseln muss, wissen wir doch alle – wir können noch so häufig und noch so überzeugt argumentieren, dass unsere Schularten in einer Parallelität stehen und in keiner Gewichtung –: Wer vom Gymnasium wechselt, der wechselt „runter“.

(Abg. Dr. Heinrich Fiechtner [fraktionslos]: So ist es!)

Wenn ein Kind auf das Gymnasium wechselt, dann wechselt es „nuff“, wie der Schwabe sagt.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP – Vereinzelt Beifall bei der CDU – Zuruf des Abg. Dr. Heinrich Fiechtner [fraktionslos])

Leider ist es so. Aber das ist in der Diskussion das, was ge sellschaftliche Realität ist.

Der Wechsel weg vom Gymnasium oder auch von einer Re alschule ist daher kein motivierender Wechsel. Motivierend ist, wenn durch die Transparenz unseres Schulsystems, begin nend in Klasse 5, ein Kind von einer Haupt- und Werkreal schule aus später Abitur macht, ob beruflich oder allgemein bildend. Das ist ein positiver Entwicklungsprozess, den das Kind auch so empfindet. Deshalb sind Transparenz und Durch lässigkeit bei einem differenzierten Schulsystem wichtig. Es bedarf jedoch wieder mehr Beratung bei der Frage, was in Klasse 5 passt.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der AfD so wie der Abg. Dr. Heinrich Fiechtner, Stefan Herre und Harald Pfeiffer [fraktionslos])

Ohne den Eltern einen Vorwurf machen zu wollen: Wir stel len schon fest – das räumen Eltern auch offen ein –, dass es eine gewisse Überforderung in der Einschätzung gibt, wie die beruflichen Werdegänge sind. Es gibt viele Eltern – das bestä tigen übrigens auch die Grundschulen bei der Beratung zur weiterführenden Schule in Klasse 4 –, die sich gar nicht be wusst sind, dass die Beschulung in Klasse 5 nicht über den Bildungsabschluss entscheidet – so, als hätte das Kind nach her keinerlei Möglichkeiten, Schularten zu wechseln oder auf verschiedenen Wegen das Abitur zu machen. Ich will nieman den vom Abitur abhalten – um Gottes willen. Aber es gibt un terschiedliche Wege. Diese Transparenz, diese Herangehens weise ist immer weniger erkennbar.

Deshalb hat sich in der Schullandschaft – das belegen die Zah len seit 2012, seitdem die Verbindlichkeit der Grundschulemp fehlung weggefallen ist – das Schulwahlverhalten deutlich verändert. Die Veränderungen in den Klassen 7 und 8 der wei terführenden Schulen sind auch klar erkennbar. Deshalb glau be ich, daraus abgeleitet, dass sich aus der Realität sehr wohl

ein Bedarf zu politischem Handeln ergibt. Das ist die Grund aussage.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der AfD so wie der Abg. Gabriele Reich-Gutjahr FDP/DVP)

Was ich nicht für den richtigen Weg halte – das muss ich den Kolleginnen und Kollegen der FDP/DVP sagen –, ist, das Rad zurückzudrehen und zu sagen: Grundschulempfehlung plus Aufnahmeprüfung.

(Abg. Dr. Timm Kern FDP/DVP: Nicht plus!)

Das hatten wir einmal. Das reicht mir nicht.

(Abg. Dr. Timm Kern FDP/DVP: Nicht plus! – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Alternativ!)

Ergänzend, alternativ. – Das überzeugt mich trotzdem nicht, weil es nicht die Heterogenität der Bedarfe, die wir haben, wi derspiegelt. Richtig ist – das habe ich auch schon mehrfach gesagt –, dass wir in Zukunft wieder zu einer verbindlicheren Form der Grundschulempfehlung zurückkehren müssen.

(Beifall bei der CDU – Abg. Jochen Haußmann FDP/ DVP: Halb-verpflichtend!)

Das ist meine politische Überzeugung. Ich glaube aber auch, dass es nicht der richtige Weg ist, das Rad zurückzudrehen und zu sagen, man macht es wie früher.

Aber zwischen den beiden Polen, dass nur der Lehrer ent scheidet – bis 2012 – und die Eltern ihre Interessen, ihre Ein schätzungen vor Gericht durchsetzen müssen – das halte ich genauso für falsch – und der Tatsache, dass nur die Eltern ent scheiden und sich die Entscheidung häufig am Wunsch der El tern orientiert und eben nicht zwingend am Wohl des Kindes, gibt es etwas, was man in der Politik immer wieder berück sichtigen sollte: Zwischenstufen, unterschiedliche Formen, die allen Seiten gerecht werden. Deshalb halte ich es für rich tig, dass wir an einer veränderten Form der Beratung von El tern arbeiten – das machen wir auch –, um mittelfristig wie der – zu diesem Ziel bekenne ich mich – zu einer verbindli cheren Grundschulempfehlung zurückzukehren.

(Beifall bei der CDU – Zuruf von der CDU: Sehr gut!)

Was ist der Unterschied zur gegenwärtigen Situation und zu dem, was sich die FDP/DVP vorstellt? Es handelt sich um ein gründliches Vorgehen; wir diskutieren mit den weiterführen den Schulen, mit Lehrerinnen und Lehrern, mit Eltern, übri gens auch mit Schülern. Ich glaube, dass wir eine mehrstufi ge Herangehensweise brauchen. Ja, ich glaube tatsächlich, dass wir wieder eine stärkere Überprüfbarkeit brauchen, wo die Schülerinnen und Schüler stehen. Um ein Kind in Klas se 2 fördern zu können – ein Bekenntnis: Lesen, Schreiben, Rechnen sind aus meiner Sicht wichtig, übrigens immer in korrekter Form; das brauchen wir zwingend –, muss ich wis sen, was das Kind kann.

(Beifall bei der CDU und des Abg. Rainer Stickelber ger SPD)

Nur dann kann ich es fördern. Wenn ein Kind in Klasse 2 Rechtschreibung altersgerecht beherrscht, vielleicht sogar bes ser ist, kann ich es motivieren, noch stärker daran zu arbeiten. Wenn es Förderbedarf hat, dann brauchen wir Fördermaßnah men, um es dann gezielt zu fördern. Dann müssen wir die Schulen stärker unterstützen. Das ist unsere Aufgabe. Da ist den Lehrerinnen und Lehrern kein Vorwurf zu machen. Aber ich muss doch wissen, wo das Kind steht, und kann doch nicht einfach nur einschätzen. Deshalb brauchen wir natürlich Leis tungsstandserhebungen – dazu bekenne ich mich –, die – auch das möchte ich in aller Offenheit sagen – durchaus einen Mehrwert haben müssen; das heißt, sie müssen erkennbar sein.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, deshalb bekenne ich mich dazu: Sie sollten benotet sein. Darüber hinaus brauchen wir noch etwas anderes – es ist mir ein Rätsel, warum man dies vor vielen Jahren durch eine Verwaltungsvorschrift in Ba den-Württemberg abgeschafft hat –, nämlich eine durchgän gige Beratung von Klasse 1 bis Klasse 4, gern von der über gangsorientierten frühkindlichen Bildung über die Schulein gangsuntersuchung beim Übergang von der Kita zur Grund schule, dann über die vier Klassen in der Grundschule. Es geht um Begleitung, da, wo Lehrerinnen und Lehrer und Eltern ein Kind über die Jahre hinweg gemeinsam bewerten.

Ja, vor diesem Hintergrund schauen wir durchaus mit Inter esse nach Bayern, wo das seit Jahrzehnten gang und gäbe ist, wo es zu einer gemeinsamen Einschätzung kommt, welchen Förderbedarf, welche Stärken und auch welche Schwächen ein Kind hat. – Das ist übrigens nicht schlimm, sondern schlimm ist, die individuelle Förderung nicht bieten zu kön nen.

(Abg. Dr. Heinrich Fiechtner [fraktionslos]: Sehr gut!)

Deshalb arbeiten wir an einer solchen Bewertung, die dann – was bislang per Verwaltungsvorschrift ausgeschlossen ist – sehr wohl von der Grundschule an die weiterführende Schu le übergeben werden kann. Unsere Grundschulpädagoginnen und Grundschulpädagogen haben doch Erfahrung. Wieso sol len wir die Erfahrung nicht konkret einsetzen und in die wei terführende Schule mitgeben – wiederum zum Wohl des Kin des –, sodass nicht bei null angefangen werden muss und Kin der sich teilweise über Monate überhaupt erst wieder erarbei ten müssen, wo sie stehen?

Deshalb: Leistungsstandserhebungen plus Bewertungen durch die Eltern, und daraus ergibt sich eine Empfehlung für die Klasse 4.

Frau Ministerin, würden Sie eine Zwischenfrage von Herrn Abg. Born zulassen?

Ja, gern.

Frau Ministerin, danke, dass ich die Zwischenfrage stellen darf. – Einfach nur zur Information: Tragen Sie uns jetzt vor, woran im Moment die grün-schwar ze Landesregierung arbeitet, oder tragen Sie uns vor, was Sie in Ihr Wahlprogramm schreiben wollen?

(Vereinzelt Heiterkeit)

Nein. Es gibt noch eine Zwischenstufe, die Sie viel leicht nicht kennen. Das ist die, dass ein Ministerium an ei nem Konzept arbeitet – was übrigens Teil dessen ist, wofür wir bezahlt werden –, um dieses dann hier ins Parlament ein zubringen und Ihnen zur Diskussion zu stellen. Daran arbei ten wir. Das ist klassisches politisches Vorgehen, und das hat sich bewährt.

(Beifall bei der CDU – Abg. Karl Zimmermann CDU: Sehr gut!)

Vor diesem Hintergrund müssen wir abwägen, wie wir dann auch im Übergang in Klasse 5 mit den Kindern umgehen. Ich will die Eltern eben nicht entmündigen. Die Eltern sind für uns ein entscheidender Partner. Deshalb wird es natürlich auch Fälle geben, bei denen das Ergebnis einer solchen eingekreis ten Grundschulempfehlung mit verschiedenen Säulen und ver schiedenen Herangehensweisen dazu führt, dass Eltern sagen, sie wollen es trotzdem probieren – bleiben wir mal beim Bei spiel Gymnasium. Dann sollen sie dies auch probieren kön nen – aber die Frage ist, wie lange. Man sollte nicht das Kind bis Klasse 6, 7 und 8 überfordern, um dann festzustellen, dass das Kind zu diesem Zeitpunkt – vielleicht in ein, zwei Jahren – nicht Gymnasialreife hat.

Wir arbeiten an einer konkreten Beratung, an einem gemeinsa men Vorgehen von Lehrerinnen und Lehrern mit ihrer hohen Kompetenz und der Einschätzung der Eltern, zum Wohl des Kindes. Das ist ein Prozess, den wir in Abstimmung mit den weiterführenden Schularten, aber auch mit den Grundschulen machen müssen. Wenn wir diese Überlegungen abgeschlossen haben, werden wir diese natürlich in die politische Diskussion einbringen, um einzuschätzen, wie die politischen Vorgehens weisen und Möglichkeiten aussehen können.

Es handelt sich um ein wichtiges Thema. Vor diesem Hinter grund kann ich den Gesetzentwurf der FDP/DVP nachvollzie hen. Er ist gut gemeint, aber in der Umsetzung aus meiner Sicht nicht nach vorn gerichtet, sondern rückwärtsgewandt, und spiegelt die Bedarfe von Eltern, Schulen und Kindern nicht wirklich wider. Wir trauen uns etwas Besseres zu und werden das Konzept vorstellen, wenn wir es in aller Ruhe, mit großer Gründlichkeit und großer Sachlichkeit erarbeitet ha ben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU und des Abg. Dr. Heinrich Fiechtner [fraktionslos])

Nun hat für die FDP/DVPFraktion noch einmal Herr Abg. Dr. Kern das Wort.

(Zurufe)

Frau Präsidentin, liebe Kol leginnen und Kollegen! Ich möchte auf die Argumente der an deren Redner eingehen.

Frau Boser, Sie haben gesagt, die Probleme der Gegenwart könne man nicht mit Maßnahmen von früher lösen.

(Abg. Sandra Boser GRÜNE nickt.)