Protokoll der Sitzung vom 22.07.2020

Zur Begründung des Gesetzentwurfs der Fraktion der SPD und der Fraktion der FDP/DVP, Drucksache 16/8191, hat zu erst Frau Abg. Wölfle für die SPD das Wort.

Frau Präsidentin, liebe Kollegin nen und Kollegen! Wir beraten heute über zwei ähnliche Ge setzentwürfe, die eigentlich das gleiche Ziel haben, nämlich ein verfassungsgemäßes Wahlrecht. Das bedeutet nichts an deres, als dass ca. 6 000 Menschen mit Behinderungen – ge nau diejenigen, die in allen Bereichen unter Betreuung stehen – in Zukunft ganz regulär und nicht mehr bis in das kommen de Jahr befristet wählen dürfen – wie jede andere Bürgerin und jeder andere Bürger auch. Dass am Ende nicht jeder die ses Recht nutzen wird, spielt hierbei gar keine Rolle. Denn andere Wahlberechtigte nutzen ihr Wahlrecht ja auch nicht im mer.

Für meine Fraktion und mich war dies von Beginn dieser Le gislaturperiode an ein sehr wichtiges Thema, und mir als Spre cherin für die Belange von Menschen mit Behinderungen war es auch persönlich ein großes Anliegen.

Wer die UN-Behindertenrechtskonvention ernst nimmt und eine inklusive Gesellschaft mit Teilhabe und Gleichberechti gung will, darf Menschen nicht von einem der wichtigsten Grundrechte unserer Demokratie, vom Wahlrecht, ausschlie ßen.

Die UN-Behindertenrechtskonvention wurde bereits 2009 von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert. Es ist traurig, dass es so lange gedauert hat, bis auch dieser Punkt endlich gere gelt wurde. Es war ein langer Weg – auch in unserem Bundes land. Denn tatsächlich ist es heute meine dritte parlamentari sche Initiative für dieses inklusive Wahlrecht.

Aller guten Dinge sind drei, könnte man sagen, wenn es nicht so traurig wäre. Denn die Entstehungsgeschichte zum heuti gen Gesetzesvorhaben war wahrlich keine Glanzleistung der grün-schwarzen Landesregierung. Als wir im Mai 2018 das Gesetz zur Änderung kommunalwahlrechtlicher Vorschriften hier im Plenum berieten, war dort zum Thema „Inklusives Wahlrecht“ kein einziges Wort zu finden. Dies veranlasste mich damals, Herrn Minister Strobl zu fragen, ob man das vielleicht vergessen habe. Die Reaktion war damals eindeu tig, und ich beschreibe es einfach mal so: kalt erwischt. Der Minister stand auf dem Schlauch.

Mein Kollege Rainer Stickelberger brachte es im weiteren Verlauf der Beratungen dann auf den Punkt. Er sagte – ich zi tiere –: Sie sind

... vom Thema „Inklusives Wahlrecht“ so weit entfernt... wie die Erde vom Mond oder vielleicht noch weiter.

(Zurufe, u. a.: Ja!)

Meine Fraktion hat damals einen Änderungsantrag einge bracht, damit die Umsetzung noch rechtzeitig vor der Kom munalwahl 2019 möglich wird. Natürlich wurde dieser abge lehnt.

In der Zweiten Beratung behauptete Herr Minister Strobl dann plötzlich, das inklusive Wahlrecht sei ja gar nicht übersehen worden. Er verteidigte die bestehende Regelung und gab be kannt, dass man die Entscheidung des Bundesverfassungsge richts abwarten wolle. Dabei hätte man das Problem schon da mals lösen können. Denn niemand schreibt uns als Landesge setzgeber vor, dass wir auf eine Entscheidung des Bundesver fassungsgerichts oder des Bundestags warten müssen, um aus eigener Überzeugung zu einem guten inklusiven und verfas

sungsgemäßen Wahlrecht zu kommen. Das sah Herr Minister Strobl damals allerdings anders.

Mit der Feststellung der Verfassungswidrigkeit gleichlauten der Regeln im Bundeswahlrecht durch das Bundesverfas sungsgericht brachten wir erneut einen Gesetzentwurf zur Herstellung eines inklusiven und verfassungsgemäßen Wahl rechts ein. Jetzt war die Ablehnungsbegründung aber eine an dere: Man habe ja keine Insellösung haben wollen. Allein die se Aussage ist schon komplett absurd. In Wahrheit war Ba den-Württemberg damals schon eine Insel, umgeben von al len möglichen Bundesländern, die bereits für ihre Kommu nal- und Landtagswahlen ein inklusives Wahlrecht geschaf fen hatten.

Der dann eiligst erstellte Gesetzentwurf der grün-schwarzen Koalition ließ die verfassungswidrigen Regelungen in unse ren Wahlgesetzen stehen und setzte deren Anwendung nur zeitlich befristet aus.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer eindeutig verfassungs widrige Regelungen in unseren Wahlgesetzen stehen lässt, dis kriminiert die betroffenen Menschen mit Behinderungen – selbst wenn man die Anwendung der Wahlrechtsausschlüsse befristet aussetzt.

Sie wollten – jetzt zitiere ich aus Ihrem Gesetzentwurf – eine Übergangsregelung schaffen,

... bis die vom Bundesverfassungsgericht verlangte Neu regelung im Bundestagswahlrecht erfolgt ist.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und der CDU, der Bundestag hat dies vor einem Jahr geregelt, und Sie haben Ihr Versprechen bis zum heutigen Tag nicht eingelöst. Weder der für Menschen mit Behinderungen und für die Um setzung der UN-Behindertenrechtskonvention zuständige Mi nister Lucha noch der zuständige Fachpolitiker der Grünen, Thomas Poreski, hat Sie an die Einhaltung dieses Verspre chens erinnert. Man kann fast von einem Untertauchen bei diesem Thema sprechen.

Deshalb haben wir gemeinsam mit der FDP/DVP einen Ge setzentwurf eingebracht. Erst daraufhin wurde in allergrößter Eile

(Abg. Hans-Ulrich Sckerl GRÜNE: Träumen Sie wei ter!)

ein eigener Gesetzentwurf der grün-schwarzen Landesregie rung in Auftrag gegeben und im Eilverfahren eingebracht, da mit die heutige Erste Beratung unseres Entwurfs noch erreicht wird – übrigens ohne dabei die Landesbehindertenbeauftrag te und den Landesbehindertenbeirat frühzeitig einzubeziehen, wie es bei uns gesetzlich vorgeschrieben ist.

Herr Minister Strobl – anscheinend ist er gar nicht da – weiß offenbar nicht, was der Grundsatz „Nicht ohne uns über uns“ zum Ausdruck bringen soll. Ich empfehle Ihnen sehr, darüber einmal mit Menschen mit Behinderungen zu sprechen.

Heute also liegen uns diese zwei Gesetzentwürfe vor. Jetzt mag sich manch einer hier im Hohen Haus fragen: Warum ei gentlich zwei? In der Sache sind wir uns am Ende jetzt doch einig. Ja, diese Frage kann man als berechtigt ansehen. Denn wenn sich demokratische Fraktionen beim Wahlrecht in der

Sache einig sind, dann sprechen sich die parlamentarischen Geschäftsführer in der Regel untereinander ab, und dann soll te es eigentlich einen gemeinsamen Gesetzentwurf geben. Das war auch unser Plan.

Deswegen hat Ende letzten Jahres unser parlamentarischer Geschäftsführer Reinhold Gall alle demokratischen Fraktio nen angeschrieben und sie noch einmal auf den Änderungs bedarf hingewiesen. Er hat damals ein klares Gesprächsange bot gemacht, um hier endlich tätig zu werden. Die Reaktion: Außer der FDP/DVP hat sich niemand bei uns gemeldet. Die ser Umgang der Regierungsfraktionen mit der Opposition ist bei Grün-Schwarz mittlerweile ja schon Standard. Wieder ein mal bekommt der Wahlslogan der Grünen von 2016, „Politik ist eine Stilfrage“, eine ganz andere Bedeutung. Dies ist aller dings schlechter Stil.

(Beifall)

Und die sogenannte Politik des Gehörtwerdens? Hohle Phra sen. Denn auch Sie haben die Briefe der Behindertenverbän de, insbesondere der Lebenshilfe, erhalten. Haben Sie die auch gelesen? Ich glaube kaum.

(Zuruf: Doch, habe ich!)

Ja, aber viele offensichtlich nicht.

Ich fasse zusammen: Es ist offensichtlich, dass es Ihnen kein Anliegen ist, hier ein verfassungsgemäßes und inklusives Wahlrecht durchzuführen, und dass Sie sich anscheinend in nerhalb der Fraktionen nicht einigen konnten. Es ist schlicht weg kein Thema für Sie. Wäre nicht meine Fraktion gemein sam mit der FDP/DVP aktiv geworden – vielen Dank hier an Herrn Professor Goll und an die ganze Fraktion –, hätten wir heute wahrscheinlich nichts zu beschließen.

So weit meine Kritik. Jetzt haben wir heute Vormittag erfah ren, dass sich etwas bewegt. Die beiden Regierungsfraktio nen sind offensichtlich bereit, jetzt mit uns über einen gemein samen Gesetzentwurf zu verhandeln. Dem werden wir uns na türlich nicht verweigern.

Wir haben größtenteils Übereinstimmung. Wir haben zwei Punkte, die wir noch zu diskutieren haben. Da sind wir ge sprächsbereit. Es wäre gut, wenn wir hier ein Zeichen geben würden und am Ende mit den vier Fraktionen ein gemeinsa mes Gesetz verabschieden können. Ich hoffe, das wird klap pen. Das wird dann im Innenausschuss besprochen.

In diesem Sinn: Danke für die Bereitschaft und nochmals dan ke an Professor Goll für die gute Zusammenarbeit.

(Beifall)

Als Nächster hat Herr Abg. Professor Dr. Goll das Wort.

Frau Präsidentin, liebe Kol leginnen und Kollegen! Frau Kollegin Wölfle, der ich für ihr Sonderlob danke, hat in ihrer engagierten Rede eigentlich schon alles gesagt, was es zur Sache zu sagen gibt.

(Zuruf)

(Zuruf)

Was das Vorgehen anbelangt – das muss man schon sagen –, kann das Verhalten der Landesregierung hier nur ein gewis ses Kopfschütteln auslösen. Das gilt natürlich auch für die sie tragende Mehrheit.

Ich steige jetzt in die Geschichte des Ganzen erst ab dem Bun desverfassungsgerichtsurteil ein. Das Bundesverfassungsge richt hat also geurteilt, dass die Ausschlüsse von Betreuten von Wahlen zu weit gehen, dass man dies neu regeln muss. Es hat auch ziemlich genau hineingeschrieben, wie man es neu regeln muss. Eigentlich war seit diesem Zeitpunkt doch sonnenklar: Es gibt Handlungsbedarf, und man muss mög lichst bald und möglichst einheitlich handeln.

Es war sicher richtig, zunächst eine provisorische Regelung zu machen – ich glaube, das haben wir alle mitgetragen –, aber dann war doch klar, dass wir in dem Moment, in dem der Bund sein Recht geändert hat – er hat ziemlich schnell reagiert –, dieses Recht übernehmen. Genau das machen wir jetzt üb rigens auch. Doch das ist nun über ein Jahr her, und in dem Jahr haben wir gerätselt.

Die SPD hat dieses Thema seit Jahren betrieben. Das muss man einfach sagen. Wir sind dann auf das Gesprächsangebot von Herrn Gall eingegangen, weil ich gedacht habe, es sei – wie man salopp sagt – klar wie Kloßbrühe, was wir da zu tun haben. Aber zuerst die SPD und dann wir beide – uns allen ist es nicht gelungen, die Regierung und die sie tragenden Frak tionen zu irgendeiner Art von Handeln zu bewegen, weshalb wir am Schluss nach mehreren Verschiebungen unseren Ent wurf dann halt eingebracht haben. Als der Entwurf einge bracht war, hat kurz darauf die Landesregierung einen Ent wurf auf den Tisch gelegt, der unserem Entwurf wie ein Ei dem anderen ähnelt.

Ich komme auf den Anfang zurück. Da darf man schon ein mal den Kopf schütteln.

(Beifall)

Aber wir machen jetzt keine Vergangenheitsbewältigung – ge rade angesichts dieses Themas, das ja ein echtes Gemein schaftsthema ist, sowohl für die gesamte Gemeinschaft der Menschen bei uns im Land als auch für den Landtag.

In Anbetracht dieser Tatsache sollten wir das Ganze zu einem versöhnlichen Abschluss bringen. Deswegen sind heute Mor gen auch Gespräche darüber geführt worden, ob es nicht am Ende irgendwie geht, dass vier Fraktionen diesen Entwurf ein bringen. Wir haben unseren Entwurf eingebracht, und die die Regierung tragenden Fraktionen könnten einen gemeinsamen Entwurf einbringen. Bei den relativ marginalen Unterschie den der Entwürfe sollte es möglich sein, dass man zu einem gemeinsamen Entwurf gelangt; denn sie ähneln sich wirklich verblüffend, um es mal so auszudrücken.

Es wäre schön, wenn wir das hinbrächten. Das wäre letzten Endes auch dem Ansehen des Hauses, glaube ich, angemes sen – auch in den Augen der Betroffenen, um die es hier geht.

Vielen Dank.

(Beifall)

Jetzt hat zur Begründung des Gesetzentwurfs der Landesregierung, Drucksache 16/8506, Herr Staatssekretär Klenk das Wort.