Protokoll der Sitzung vom 23.07.2020

Aber die Einigung ist Ergebnis eines harten Deals zulasten ge meinsamer Werte wie der Achtung des Rechtsstaatsprinzips. Das nationale und kurzsichtige Geschachere der letzten Tage hat deutlich gezeigt, dass der Rat nicht zu einer Katharsis fä hig ist. Es ist fraglich, ob mit der beschlossenen qualifizierten Mehrheit im Fall von Verstößen gegen das Rechtsstaatsprin zip jemals Sanktionen verhängt werden können. Wir dürfen nicht tatenlos hinnehmen, dass Mitgliedsstaaten wie Polen und Ungarn die Presse- und Meinungsfreiheit und demokratische Grundwerte aushebeln.

(Beifall)

Hier appelliere ich an die EVP-Fraktion im Europäischen Par lament, dass sie endlich die Mitglieder von Orbans FideszPartei aus ihrer Fraktion ausschließt, um ein Zeichen für die europäischen Werte zu setzen.

(Beifall)

Ich hoffe, dass das Europäische Parlament, das dem Finanz pakt des Rates noch zustimmen muss, bei diesem Deal noch mals nachjustieren wird. Denn die Grundwerte der EU sind für uns unantastbar.

(Vereinzelt Beifall)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Coronakrise ist eine He rausforderung für den europäischen Zusammenhalt. Dies ha ben wir in den ersten Krisenwochen im Umgang mit den Grenzschließungen entlang der Landesgrenze mit Frankreich und der Schweiz erlebt. Es besteht breite Einigkeit – bei den meisten von uns –, dass sich das unkoordinierte Vorgehen des Bundes in dieser Sache nicht wiederholen darf.

(Zuruf von der AfD: Oje!)

Vor der Grenzschließung hätten zumindest der französische und der Schweizer Außenminister von Herrn Seehofer infor miert werden müssen. Zwar hat sich die Lage zwischenzeit lich verbessert, aber wir wissen, dass Covid-19 nicht vorüber ist.

Damit sich die Fehler der Anfangsphase bei einer möglichen zweiten oder dritten Welle nicht wiederholen, müssen jetzt zü gig verlässliche Maßnahmen entwickelt werden, um für eine Pandemieeindämmung zu sorgen. Diese müssen grenzüber schreitend aufeinander abgestimmt sein.

(Vereinzelt Beifall)

Bisher sind beispielsweise die Verfahren zur Rückverfolgung von Infektionsketten nicht über die Grenzen hinweg koordi niert. Ich appelliere deshalb an die Bundesregierung, eine eu ropaweite Corona-App auf den Weg zu bringen, damit auch die Menschen in Grenzräumen entsprechend geschützt wer den können.

In diesem Sinn freue ich mich besonders darüber, dass die Be deutung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit bei der Pandemiebekämpfung auch vom Ausschuss der Regionen er kannt wurde, in dem das Land seit diesem Jahr mit zwei Sit zen vertreten ist. Auf Antrag von Frau Landtagspräsidentin Aras wurde in der jüngsten Stellungnahme des AdR zum Ar beitsprogramm der EU-Kommission für 2021 die Forderung übernommen, grenzüberschreitende regionale Krisenstäbe ein zurichten. Gefordert wurde darüber hinaus eine Beschleuni gung der Einführung des europäischen grenzübergreifenden Mechanismus, des sogenannten ECBM. Mit diesem sollen Grenzregionen selbstständig Erleichterungen herbeiführen können – und dies nicht nur im aktuellen Covid-19-Kontext.

Die Bundesregierung hat es in der Hand, hier im Rahmen ih rer Ratspräsidentschaft Fortschritte herbeizuführen. Sie hat es auch in der Hand, die europäischen Klimaschutzmaßnahmen im Rahmen des Green Deals voranzutreiben. Um den Klima wandel zu stoppen und das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Abkom mens noch einhalten zu können, müssen die Emissionen eu ropaweit bis 2030 um 65 % sinken. 50 % reichen nicht aus. Hier ist ein schnelles und entschlossenes Handeln unserer Bundesregierung notwendig. Die Bundesregierung schiebt aber den Abschluss des europäischen Klimagesetzes auf die lange Bank.

Ich fordere deshalb dringend, dass unter der deutschen Rats präsidentschaft alles darangesetzt wird, das gesamte Gesetz gebungsverfahren schnellstmöglich abzuschließen. Denn ein Aufschieben des Klimaschutzes können wir uns, auch gegen über unseren Kindern, nicht leisten.

Vielen Dank.

(Beifall)

Nun hat Herr Abg. Dr. Be cker von der CDU das Wort.

Frau Präsidentin, sehr ge ehrte Damen und Herren! Ein aktueller Bericht zur Europa politik – manches Mal eine Pflichtübung; vom Murmeltiertag war im Hohen Haus gelegentlich ja schon die Rede. Viel ak tueller als heute geht es aber kaum. Wir haben den EU-Finanz gipfel gerade hinter uns, und wir können froh sein, dass eine Einigung doch noch in diesem ersten Anlauf zustande kam.

Ein Scheitern des Gipfels hätte ich mir nicht ausmalen mö gen. Denn die Situation verlangt Handlungsfähigkeit auf al len Ebenen. Die jüngste Vergangenheit hat uns gezeigt, wie zerbrechlich unser gemeinsames Projekt Europa sein kann – dies auch an die Adresse all derjenigen, die gern gegen einen angeblich übermächtigen europäischen Superstaat polemisie ren.

Die Einigung zeige unseren Glauben an unsere gemeinsame Zukunft, wird der Ratspräsident Michel zitiert. Diese Ein schätzung teile ich. 750 Milliarden € als Coronafonds sind ein starkes Zeichen. Es muss uns ja nicht ärgern, dass nun knapp die Hälfte davon als rückzahlbare Zuschüsse ausgewiesen sind.

Der EU-Gipfel markiert aber auch den Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft – eine Ouvertüre mit Paukenschlag. Es ist gut, dass wir mit Angela Merkel an der Spitze in die Verhand lungen gegangen sind,

(Vereinzelt Lachen)

gut für Deutschland, gut für Baden-Württemberg,

(Zuruf: Oje!)

gut für die Europäische Union.

(Zuruf)

Denn es haben sich immense Aufgaben angehäuft. Ungelöst ist nach wie vor das Thema Brexit. Die ökologische Transfor mation der Wirtschaft hat allenfalls begonnen. Und in Polen etwa wurde Präsident Duda wiedergewählt. Die relative Stär ke des bürgerlichen Lagers dort darf nicht täuschen; hier ver festigen sich Strukturen. Ein großer Streitpunkt des Gipfels war deshalb auch die Rechtsstaatsklausel, also das Prinzip, ei ne europäische Förderung an die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze zu binden.

Herr Fink ist nicht da. Ich könnte sagen, wer das Prinzip ent wickelt hat. Aber ich sage es mal so: Ich bin froh, dass es sich um ein früheres Mitglied der baden-württembergischen CDULandtagsfraktion handelt.

Die Ausgestaltung der Rechtsstaatsklausel sorgt noch für Dis kussionen. Noch ist es zu früh, sie abschließend zu bewerten. Wichtig ist am Ende, dass auf den Rechtsstaat Verlass ist, dass die Bürger wissen, es geht bei der Vergabe von Subventionen mit rechten Dingen zu. Corona hat gezeigt, wie schnell ein Rückfall in die Denkweise „Jeder für sich“ kommen kann. Das gilt im Großen wie im Kleinen. Als Abgeordneter in un mittelbarer Grenznähe weiß ich das nur zu gut.

In der vorletzten Sitzung des Europaausschusses hatten wir unsere Freundin, die Präsidentin des Départements Haut-Rhin, Brigitte Klinkert, zu Gast. Sie sagte – Zitat –:

In dieser Krise hätte ich von Europa mehr erwartet als das, was die Europäische Union gemacht hat.

Das stimmt. Europa stand in diesem Frühjahr leider wenig im Vordergrund. Frau Klinkert betonte aber auch, dass hier in der unmittelbaren Nachbarschaft die Arbeitsebene gut funktio niert – trotz der schmerzhaften Grenzschließung und trotz der damit einhergehenden zwischenmenschlichen Verwerfungen.

Diesen Zweiklang nehme ich auch wahr. Von Brüssel hat man zeitweise zu wenig gehört. Doch vor Ort gab es auch Zusam menhalt. Baden-Württemberg hat Patienten aus dem Elsass aufgenommen. Das ist die eine Seite. Aber ohne die Berufs pendler aus dem Elsass, gerade auch in den Gesundheitsberu fen, hätte es bei uns böse ausgesehen. Wir haben allen Grund zur Dankbarkeit.

Das zeigt: Das Europa, das wir leben und erleben, muss ein Europa der guten Nachbarschaft sein. Nehmen wir das doch als Hinweis, dass die Subsidiarität als Leitbild, die Lösung von konkreten Problemen vor Ort, die Grundlage erfolgrei cher Politik ist.

Richten wir jetzt den Blick nach vorn. Das Stichwort „deut sche Ratspräsidentschaft“ ist gefallen. Ich bedanke mich bei unserem Minister Guido Wolf, dem der Europabezug der Lan despolitik ein Herzensanliegen ist. Lassen Sie mich aus dem eindrucksvollen Veranstaltungsflyer zur Ratspräsidentschaft – immerhin 24 Veranstaltungen – ein paar Überschriften nen nen: „Europa. Mehr als ein Friedensprojekt“, „Veranstaltung zur deutsch-französischen Freundschaft“, „Internationale Fachkonferenz zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit mit Frankreich“, „EU-Biodiversitätsstrategie“, „Infoveranstal tung zum EU-Programm LEADER“ und vieles mehr. Das sind nicht nur die großen Leitlinien, in denen sich die Europapoli tik bewegt, sondern auch ganz konkrete Arbeitsaufgaben, zu denen wir, das Land Baden-Württemberg, gern beitragen.

Vielen Dank.

(Beifall)

Als Nächster hat Herr Abg. Hofelich das Wort.

Verehrte Frau Präsidentin, werte Kolleginnen und Kollegen! Von meiner Seite aus der sozial demokratischen Fraktion hier im Landtag heraus auch gern ein Blick auf die aktuellen Geschehnisse. Das steht heute, glaube ich, im Mittelpunkt dessen, was uns beschäftigt.

Es ist ja wie ein Brennglas gewesen, wie uns die Debatten und die notwendigen Weichenstellungen für Europa in den ver gangenen Tagen und Wochen vor Augen geführt haben, was wir eigentlich an Europa haben. Deswegen, denke ich, darf man heute sagen, das Resümee dieser Tage und Wochen ist – bei allen Holprigkeiten und bei allem, wo man sich mehr oder etwas anderes gewünscht hätte –: Europa existiert und agiert als politische und gesellschaftliche Gemeinschaft. Der Kom promiss ist natürlich ein ständiger Begleiter Europas, vermut lich seit Jahrhunderten. Aber dieser Kompromiss festigt den

Grund, auf dem wir stehen, und eröffnet Perspektiven für den Horizont, den unser Kontinent braucht.

Wir befinden uns in einer extrem kritischen Situation, und da hat sich Europa behauptet. Ich finde, Europa hat sich nicht nur als Wirtschafts- und Währungsunion, sondern auch als Sozi al- und Werteunion behauptet.

Ich sage an dieser Stelle: Wir sind froh, dass wir für diese Ei nigung nicht auf die Randkräfte des europäischen Parteienspek trums angewiesen waren; mit denen wäre das nämlich nie und nimmer gelungen. Das, was zustande gebracht worden ist, ist etwas, was sich auch im normalen politischen Spektrum Mitte links oder Mitte rechts verortet. Ich bin stolz darauf, dass die se Leistung gelungen ist, meine Damen und Herren.

(Beifall)

Am Ende kommt es auf die an, die – auch wenn es schwierig ist – in der Lage sind, zu integrieren, und nicht auf diejenigen, die polarisieren. Das, was hier geschehen ist, ist eine Integra tionsleistung mit Abstrichen, über die wir heute vermutlich noch öfter reden dürfen. Aber ich sage an dieser Stelle auch mal – leider vor der leeren Pressetribüne –: Es ist vielleicht etwas uncool, wenn man sich mühevoll aufs Integrieren kon zentriert, aber es ist das, was sich am Ende lohnt, das, was die Leute von einem erwarten.

Ich würde gern drei Punkte ansprechen, die für uns, die SPDFraktion, eine besondere Rolle spielen. Das Erste ist das ba den-württembergische Interesse. Das Zweite ist die Frage: Welche Veränderungen durch das Europäische Parlament sind zu erwarten? Und das Dritte ist die Frage: Was sind die eige nen Herausforderungen, die wir für uns im Land noch sehen, an denen wir, Herr Minister, noch arbeiten bzw. weiterarbei ten sollten?

Zunächst einmal zum baden-württembergischen Interesse. Na türlich kann man sagen, wir Deutschen zahlen jetzt noch mehr Geld. Aufgenommen wird es natürlich zu extrem niedrigen Zinssätzen; vielleicht bekommen wir sogar noch etwas raus. Am Ende ist natürlich ein Mehr an deutscher Belastung her ausgekommen; das wissen wir. Aber ich vertrete mal aus ba den-württembergischer Sicht die These – das ist auch das, was für die Bürgerinnen und Bürger in Baden-Württemberg zu gel ten hat –: Wir haben es in Deutschland geschafft – von allen attestiert, zuletzt in der „New York Times“ –, dass wir eine funktionierende Regierung, eine funktionierende Verwaltung und einen funktionierenden Sozialstaat haben und deswegen – toi, toi, toi – bisher gut durch diese Krise gekommen sind.

Es ist in unserem ureigensten Interesse, dass wir weiterhin ei nen handlungsfähigen, aktiven Staat in Deutschland haben, dass wir aber auch dafür sorgen – schon aus baden-württem bergischem Interesse –, dass die anderen um uns herum wie der besser auf die Füße kommen. Was will denn Baden-Würt temberg als verflochtenes Land schaffen, wenn wir um uns herum ein Umfeld haben, das nicht leistungsfähig ist? Des wegen ist es im ureigensten Interesse Baden-Württembergs, dass wir diesen Kraftakt auch für die anderen zuwege gebracht haben, meine Damen und Herren.

(Beifall)

Herr Abg. Hofelich, las sen Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abg. Dr. Gedeon zu?