Wir brauchen Ansprüche an uns selbst. Diese Ansprüche will ich zu formulieren versuchen. Der erste Anspruch ist, offen auszusprechen, was ist. Zum offenen Aussprechen, was ist: Es ist ein trauriger Anlass, dass das Vereinigte Königreich aus der EU austritt.
Ich war 1970 als Oberschüler mit Kumpels auf der Isle of Wight, das Gegenüber zum Woodstock-Festival in den USA 1969. Ich bin vier Wochen durch Großbritannien getrampt, bevor wir auf das Festival gegangen sind. Es war eine Zeit des Optimismus. Großbritannien wollte sozusagen nach Europa kommen. Der konservative Premierminister Edward Heath hat das durchgesetzt; er, ein konservativer Politiker, hatte den Mumm, das zu machen. Andere haben geholfen, so auch die zweite große politische Kraft in Großbritannien, die LabourPartei. Heute unterhält sich Großbritannien darüber, ob aus dem Garten Englands, der Grafschaft Kent, wo nach dem Bre xit lange Schlangen von Lkws zu erwarten sind, ein großes WC wird, darüber, ob dort Container herumstehen.
Deswegen sind nicht ohne Grund 98 % der Themen im Rah men des Brexits verhandelt, aber die 2 % der Themen, die noch übrig geblieben sind – die Themen Fischerei und „Markt zugang mit fairen Regeln“ –, bleiben nicht ohne Grund übrig.
(Lachen – Abg. Dr. Heinrich Fiechtner [fraktionslos]: Ein Hoch auf die Populisten! Die kümmern sich um ihr Volk!)
Das Thema Fischereiindustrie ist noch übrig, weil man hier den Verführten eine Trophäe zeigen will, in diesem Fall den Fischern, deren Stimmen mit dazu geführt haben, dass eine Nein-Koalition zustande gekommen ist.
Deswegen ist das heute noch übrig. Die armselige Regierung will vorzeigen: „Wir haben etwas für euch, für all die Verführ ten, die kleinen Leute, die immer die Beute der Populisten sind, erreicht.“ Dagegen wehren wir uns, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Das Zweite ist: Der Marktzugang ist wichtig, weil die Idee von Johnson und allen anderen war, ein Niedriglohnparadies vor dem europäischen Kontinent zu haben, dass man sagt: „Ich führe mit anderen Regeln von dort aus meine Geschäfte und führe ein Großbritannien, das im Grunde genommen wie der eines zwischen oben und unten ist und das dafür sorgt, Eu ropa mit niedrigen Löhnen unter Druck zu setzen.“ Beides muss verhindert werden. Deshalb wird Michel Barnier hof fentlich auch eine klare Linie auf den letzten Metern haben, Kolleginnen und Kollegen.
Zweiter Anspruch: Die Folgen des Brexits müssen wir abfe dern, wir müssen sie auch aufarbeiten. Für Baden-Württem berg ist Großbritannien das sechstgrößte Exportland. Bei den Importen belegt Großbritannien Rang 14. 266 Unternehmen in Baden-Württemberg haben eine britische Beteiligung von mehr als 20 %.
Wir werden ein Großbritannien haben, das für uns ähnlich wie die Schweiz ist. Aber es wird so sein, dass wir für die Verbin dungen sorgen müssen. Ich fordere die Regierung auf – ich weiß, dass der Europaminister dafür ein guter Partner ist –, dass Baden-Württemberg in Zukunft umfassend – über das Wirtschaftliche hinaus – tätig wird: Wissenschaftskooperati onen sind notwendig, Schulpartnerschaften sind notwendig, kommunale Partnerschaften sind notwendig. Von der nächs ten Landesregierung erwarten wir, dass sie nicht die Bande kappt, sondern dass wir weiterhin die Bande aufrechterhalten, meine Damen und Herren.
Dritter Anspruch: den Zusammenhalt in Europa tatkräftig or ganisieren. Das geschieht nicht, wenn ein Bundesland im Stil einer tibetanischen Gebetsmühle dauernd Subsidiaritätsvor behalte geltend macht. Vielmehr braucht es unter den Ländern
Die Osteuropapolitik von Willy Brandt und Egon Bahr hatte viel damit zu tun, sich in den anderen hineinzuversetzen. Das heißt nicht immer akzeptieren; ich komme gleich dazu. Aber man kann schon verstehen – – Ich komme von Großbritanni en zur Lage insgesamt in Europa auf der Zielgeraden der deut schen Ratspräsidentschaft. Man kann etwas dafür tun, indem man sagt: Ich muss mich zuerst einmal in die Situation der jungen Nationalstaaten Europas hineinversetzen – nicht ihr Vorgehen akzeptieren –, die sich natürlich erst vor 20 oder 30 Jahren von der UdSSR emanzipiert haben. Wir werden nie mals akzeptieren, dass in Ungarn die Medien unterdrückt wer den, dass in Polen frauenfeindliche Gesetze gemacht werden,
und wir sind auch diejenigen, die es für einen Skandal halten, wofür Maria Kolesnikowa seit September – außerhalb der Grenzen, aber innerhalb unseres Kulturgebiets – in Weißruss land im Gefängnis einsitzt. Dagegen wehren wir uns, Kolle ginnen und Kollegen.
den Mehrjährigen Finanzrahmen zu verhandeln. Ich muss aber sagen: Kompliment, sie hat es hinbekommen. Natürlich sind wir mit den Kompromissen zu Polen und Ungarn nicht zufrie den. Es ist einfach so, dass hierfür viel geopfert werden muss te – wahrscheinlich zu viel, wenn man an die kommenden Wahlen denkt, bei denen dann Herr Orban vorzeigen will: „Schaut her, ich habe meinen Kopf noch einmal aus der Schlinge ziehen können; ich weiß es.“ Aber trotzdem: Der Deal – wie es in der englischen Presse heißt: der Dealmaker – war da.
Ich muss sagen: Der Mehrjährige Finanzrahmen mit einem Volumen von 1,8 Billionen € sieht einen Anteil von 50 % Mo dernisierungsinvestitionen, einen großen Teil für den Ökodeal, mit Investitionen für den Klimaschutz – was uns freut –, eine Verdopplung der ERASMUS-Mittel, damit junge Menschen in Europa zusammenkommen, vor. Unter der deutschen Rats präsidentschaft ist etwas erreicht worden. Das muss man ganz klar sagen. Deswegen ein Kompliment auch an die Regierung in Berlin, meine Damen und Herren.
Baden-Württemberg wird diesen neuen Zusammenhalt oder diesen sich hoffentlich wieder aufbauenden Zusammenhalt le ben müssen. Ich fordere auch die neue Regierung auf, die Bündelung der Europakompetenzen in einem einzigen Haus vorzunehmen. Dass dies in den letzten fünf Jahren nicht so war, war eine Schwäche, die aber nicht der Minister zu ver antworten hat, meine Damen und Herren.
Vierter Anspruch: Demokratie, Sozialstaat, Rechtsstaat durch setzen. Ich habe bereits gesagt: Den Kompromiss empfinden wir als schmerzhaft. Es ist so, dass das Vetorecht von Ungarn und Polen zum Haushalt abgewendet wurde, aber es ist klar, dass die Sanktionen auf den Haushalt eingegrenzt sind und dass eine anderthalbjährige Verzögerung eintreten kann, wenn Klage beim EuGH erhoben wird. Deswegen ist in der Praxis jetzt klare Kante notwendig. Es muss aber auch weitergehen. Wir brauchen mehr Austausch in Europa, um solche Situati onen mit diesen Ländern einzudämmen und wieder aufzulö sen. Es war ja nicht immer so in der Welt, dass Ungarn ein Land war, das sich in Europa mehr oder weniger isoliert hat.
Ich will einmal einen sensiblen Punkt ansprechen. Wir alle waren diejenigen, die sich gewundert haben, warum der tür kische Präsident bei uns bei Wahlen von denjenigen, die in Deutschland abstimmen konnten, noch mehr Stimmen bekom men hat als von den Wählerinnen und Wählern in der Türkei. Vielleicht müssen wir uns einmal Gedanken darüber machen, wie wir mit diesen oft stillen und im Schatten stehenden Ar beitskräften, die aus Polen, aus Ungarn bei uns sind, einen Di alog führen.
Sie sind hier, um demente Frauen und Männer bei uns zu be treuen. Aber sind sie eigentlich hier für uns auch Gesprächs partner? Sind sie hier für einen Austausch über unsere Ideen von Aufklärung und Demokratie? Das ist vielleicht auch ein Thema in der kommenden Zeit, meine Damen und Herren.
Wir müssen unsere eigenen Anstrengungen für die Zusam menarbeit verstärken. Wir sind nicht nur Exporteure, wir le ben auch in einem Land auf einem Kontinent, von dem Auf klärung, Freiheit und soziales Gedankengut ausgehen.
Deswegen der fünfte und letzte Anspruch an uns selbst: Eu ropa muss sich in der Welt wieder Geltung verschaffen, ohne dass wir dominierend auftreten. Es ist jetzt ungefähr 20 Jah re her, dass Samuel Huntington das Buch „Clash of Civiliza tions“ geschrieben hat. Darin geht es um die Frage, ob Kultu ren in der Welt unversöhnlich aufeinandertreffen. Natürlich steht darin etwas Richtiges, aber – wie das immer so ist – auch etwas, was vielleicht weniger richtig ist. Aber Tatsache ist: Die Gefahr ist nicht geringer geworden, weil wir natürlich schon einen Wettbewerb zwischen dem, wie Gesellschaften ihr Leben organisieren, haben. Nicht alles, was aus Europa kommt, wird an anderen Stellen richtig sein.
Aber wichtig ist auch, dass wir mitsprechen wollen. Günther Oettinger hatte recht: Es ist nicht die Frage „G 7 oder G 20?“, es ist am Ende die Frage, ob es G 2 gibt. Deswegen ist es not wendig, dass sich Europa sammelt und es auch schafft, hinter seine eigene Stärke eine gemeinsame demokratische Grund haltung zu bringen.
Es ist in der jetzigen Coronasituation ein gewisses Risiko, dass wir Resilienz damit verwechseln, dass es wieder ein reines Reshoring gibt, dass man alles zu uns holt. Natürlich ist es so, dass wir nicht akzeptieren können, dass Pharmaprodukte zu 80 % in China produziert werden. Aber richtig ist auch, dass Baden-Württemberg ein Land ist, das von seinen Handelsbe
ziehungen mit anderen lebt. Richtig ist auch, dass es immer eine Situation geben wird, in der es eine internationale Ar beitsteilung geben wird. Es ist die politische Aufgabe des Landtags von Baden-Württemberg, dass der Bevölkerung in Baden-Württemberg auch vermittelt wird,
Diese große Aufgabe steht uns bevor. Es ist auch eine kom munikative Aufgabe. Dafür ist es notwendig, dass Deutsch land für eine globale Governance eintritt, dass wir in der La ge sind, Mindestlöhne, anständige Arbeitsbedingungen in die ser Welt zu haben. Das ist nicht die Aufgabe eines Landtags, eine Aufgabe, die wir allein schultern könnten, aber es ist ei ne Aufgabe, der wir nachgehen müssen.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe meine gesamte Redezeit genutzt. Danke schön, Frau Präsidentin.
Ich sage: Aufklärung, Demokratie, Menschenrechte haben viel damit zu tun, dass wir stark sind. Deswegen sind sie für uns in Europa und in Baden-Württemberg ein Exportartikel, den wir unterstützen müssen.
(Beifall – Abg. Dr. Heinrich Fiechtner [fraktionslos]: Was ist mit einem Ordnungsruf für Herrn Lede Abal?)
(Abg. Dr. Heinrich Fiechtner [fraktionslos]: Wenn ei ner einen „Nazi“ nennt, dann sollte man auch einen Ordnungsruf erteilen!)