Protokoll der Sitzung vom 17.12.2020

Herr Abg. Dr. Fiechtner, wenn Sie jetzt nicht ruhig sind – –

(Zurufe, u. a.: Halt doch mal das Maul, Mensch!)

Sie sind jetzt bitte ruhig. Es geht hier weiter.

(Abg. Dr. Heinrich Fiechtner [fraktionslos]: Ich fordere einen Einsatz für meine Ehre!)

Für die Fraktion GRÜNE erteile ich das Wort Herrn Abg. Frey.

(Zurufe, u. a. Abg. Dr. Heinrich Fiechtner [fraktions los]: Sozusagen zweierlei Rechte!)

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In diesen Tagen bangen Millionen von Briten, ob ihnen Premierminister Johnson zum Covid-Blues noch ein No-Deal-Chaos unter den Christbaum legen wird. Zwei Wochen vor Ablauf der Übergangsfrist wis sen die britische Regierung und das britische Volk noch im mer nicht, was im nächsten Jahr auf sie zukommt.

Die EU und Großbritannien einigten sich ja bei den Austritts verhandlungen darauf, dass sie bis zum Ende der Übergangs frist, bis zum Ende dieses Jahres, ein Freihandelsabkommen vereinbaren wollen. Trotz großer Bemühungen der EU-Un terhändler sind bis heute keine Ergebnisse erzielt worden, die

künftigen Beziehungen der bisherigen Partner auf die Grund lage eines Handelsabkommens zu stellen, ohne dass die Ver braucherinnen und Verbraucher, Arbeitnehmerinnen und Ar beitnehmer, Unternehmerinnen und Unternehmer sowie Stu dierende – um nur einige zu nennen – auf der Insel wie auf dem Kontinent erhebliche Einschränkungen zu spüren bekom men werden.

Der größte Streitpunkt: ein vom britischen Parlament be schlossenes Binnenmarktgesetz, das Teile des Austrittsver trags einfach aushebeln würde. Diese Rosinenpickerei muss in Europa ein Ende haben, meine Damen und Herren.

(Beifall)

Wenn tatsächlich kein Freihandelsabkommen mehr beschlos sen wird und es zum harten Brexit kommt, hätte dies für die Briten weitreichende Folgen. Denn die Errungenschaften des Europäischen Binnenmarkts, dem das Land 40 Jahre lang an gehört hat, wären über Nacht auf den 1. Januar 2021 verloren.

Seit 1968 gibt es innerhalb der Europäischen Union keine Zöl le mehr. Auf Einfuhren aus Drittstaaten werden gemeinsame Zollsätze angewendet. 25 Jahre später, im Jahr 1993, wurde das Projekt eines großen und einheitlichen Marktes im Innern der Union vollendet. Bezogen auf die Wirtschaftsleistung von über 12 Billionen € ist der Europäische Binnenmarkt der größ te einheitliche Markt der Welt. Für Unternehmen bedeutet das Kostensenkungen und eine Stärkung der internationalen Wett bewerbsfähigkeit. Damit ist dies insgesamt eine Stärkung der europäischen Wirtschaft. Für die Verbraucherinnen und Ver braucher bringt das nicht nur niedrige Preise, sondern auch si chere Produkte, die den weiterentwickelten gemeinsamen Standards entsprechen.

Das vielleicht wichtigste Element ist jedoch die Freiheit des Personenverkehrs. Unionsbürgerinnen und -bürger können überall in der EU reisen, leben, lernen und arbeiten.

(Zuruf)

Jeder EU-Bürger kann sich um eine Stelle in einem anderen EU-Land bewerben und einen Arbeitsvertrag unterschreiben. Kein EU-Bürger darf dabei aufgrund seiner Staatsbürgerschaft benachteiligt werden. Und im EU-Ausland erworbene Rech te aus der Rentenversicherung gehen nicht verloren.

(Zuruf)

Unionsbürgerinnen und -bürger können in ihrem erlernten Be ruf arbeiten. Berufsabschlüsse werden gegenseitig anerkannt.

Schließlich ist auch das Reisen und Einkaufen leichter gewor den. Waren für den privaten Bedarf können wir überall in der EU kaufen, ohne an der Nationalgrenze kontrolliert zu wer den und weitere Abgaben zahlen zu müssen.

Diese Errungenschaften wollen wir nicht nur weiterentwi ckeln, sondern wir werden sie auch verteidigen, meine Da men und Herren.

(Beifall)

Denn der EU-Binnenmarkt ist noch nicht vollendet. Vor uns liegt noch eine ganze Menge Arbeit. Bei der Zusammenarbeit

im Gesundheitsbereich, beim Krisenmanagement oder auf dem Energiesektor bestehen ebenso strukturelle Defizite wie beim grenzüberschreitenden Zugang zu Kapital und bei der Mobilität von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.

Auch bei der Besteuerung von Unternehmen muss die EU endlich für mehr Gerechtigkeit innerhalb des Binnenmarkts sorgen, etwa durch eine europäische Bemessungsgrundlage für die Körperschaftsteuer oder eine am Umsatz orientierte Digitalsteuer und natürlich auch eine europäische Finanztrans aktionssteuer.

Immens sind auch die Herausforderungen, die sich aus der Di gitalisierung und der Entwicklung künstlicher Intelligenz er geben. Hier kommt es oft noch zu nationaler Gesetzgebung, die im Anschluss dann mühsam europäisiert werden muss, statt neuen Regelungsbedarf rechtzeitig zu erkennen und ge meinsam anzugehen. Wir können unseren Wohlstand und un sere Sozialsysteme nur dann auf Dauer erhalten, wenn wir bei technischen Innovationen weiterhin gemeinsam an der Welt spitze mitspielen.

Die Weiterentwicklung des europäischen Integrationsprozes ses ist die große Chance unseres Kontinents, in der Welt über haupt zu bestehen. Wir können Standards und Werte von De mokratie, nachhaltiger und sozialer Marktwirtschaft zum Maßstab auch für andere Regionen in dieser Welt machen. Wir Grünen werden uns dieser Herausforderung stellen.

(Beifall)

Dass die britische Regierung unter Johnson sich von einem nationalen Alleingang ohne EU eine bessere Zukunft ver spricht, wird sich schon bald als Trugschluss erweisen. Groß britannien wird bei einem harten Brexit die Mitgliedschaft im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion verlieren, und für die Briten brächte das in zwei Wochen unmittelbar harte Ein schnitte. So hat Boris Johnson Medienberichten zufolge den Briten bereits angekündigt, dass sie bis April 2021 kein fri sches Gemüse mehr kaufen könnten, weil die Importe aus der EU fehlten – eine harte Botschaft für Vegetarier.

(Zurufe)

Rund 30 % der im Vereinigten Königreich konsumierten Nah rungsmittel oder Getränke stammen aus der EU. Die größte britische Supermarktkette warnt, dass Verbraucherinnen und Verbraucher wegen der Erhebung von Zöllen mit einem durch schnittlichen Preisanstieg von 5 % rechnen müssten. Doch auch die britische Exportwirtschaft hätte unter einem NoDeal-Brexit und dem damit verbundenen Verlust des Zugangs zum Europäischen Binnenmarkt stark zu leiden. Denn knapp die Hälfte der britischen Exporte gingen 2017 in die Europä ische Union.

Für Wirtschaftssektoren mit Arbeitskräftemangel ist der Bre xit auch keine gute Nachricht. Da mit dem 1. Januar die Frei zügigkeit endet, kommen kaum noch Arbeitskräfte aus den EU-Mitgliedsstaaten nach Großbritannien. Umgekehrt müs sen Briten, die in der EU leben, sich eine Arbeits- und Auf enthaltsbewilligung beschaffen.

Den gravierenden Folgen des Brexits für Großbritannien ste hen im Umkehrschluss aufseiten der EU-Länder und damit auch hier bei uns in Baden-Württemberg erhebliche Einschnit

te und Nachteile gegenüber. Seit dem Brexit-Referendum im Juni 2016 sind bereits deutliche Bremsspuren in den Handels beziehungen mit dem Vereinigten Königreich zu beobachten. Baden-Württemberg ist dabei deutschlandweit am stärksten betroffen. Die baden-württembergischen Exporte nach Groß britannien sind in den letzten Jahren bereits um fast ein Drit tel eingebrochen.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, Politik braucht Ver lässlichkeit, Besonnenheit und die Fähigkeit, Konsens herzu stellen. Premier Johnson ist hier leider eine narzisstische Fehl besetzung. Aus purer Egozentrik wird die jahrzehntelange Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU über Bord gewor fen, ohne eine klare Perspektive für das Land aufzuzeigen. Daran sieht man, wohin uns Populismus, Nationalismus und solch verantwortungslose Politik führen: Sie führen ins Cha os.

(Beifall)

Der konservative Premierminister David Cameron hatte vor sieben Jahren aus politischem Kalkül das Versprechen eines Volksentscheids zum EU-Ausstieg gemacht, weil er den Auf stieg der UKIP-Partei als Gefahr für seinen eigenen Wahlsieg sah. Cameron flirtete mit den Rechtsaußen des Königreichs und saß damit in der eigenen Falle. Die Büchse der Pandora war geöffnet.

Doch anstatt zu den Konsequenzen zu stehen, haben sich Ca meron und Konsorten still und heimlich davongeschlichen. Das ist ein Paradebeispiel für verantwortungslose Politik und zeigt, wohin Pakte mit dem Teufel und den Rechtspopulisten führen.

(Abg. Dr. Heinrich Fiechtner [fraktionslos]: Sag mal! „Pakte mit dem Teufel“! Sie sind wohl nicht mehr ganz sauber, oder wie? – Gegenruf: Fühlen Sie sich angesprochen, Herr Dr. Fiechtner?)

Ich hoffe, dass der Schaden dieses tragischen Austritts für al le Betroffenen nicht zu groß sein wird. Wir werden den Bri ten immer auf Augenhöhe die Hand reichen, wenn sie wieder in die EU zurückwollen.

(Beifall)

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, der Zusammenhalt Europas ist die zwingende Voraussetzung für Wohlstand und Sicherheit unseres Kontinents. Nach dem Brexit zeigen die Finanz- und Wirtschaftskrise sowie die Flucht- und Migrati onsdynamiken, wie brüchig der Zusammenhalt in Europa ist, insbesondere dann, wenn es darum geht, Risiken und Belas tungen gemeinschaftlich zu tragen.

Ich freue mich daher sehr, dass die Zustimmung zur EU seit dem Brexit trotz der Herausforderungen gestiegen ist.

(Abg. Dr. Heinrich Fiechtner [fraktionslos]: Gekauf te Gutachten! Gekaufte Umfragen!)

Das zeigt, dass eine deutsche Mehrheit an der europäischen Integration aktiv mitgestalten will. Der Brexit wirkt hier of fensichtlich als Warnsignal und als Weckruf. Viele Menschen haben die kleinen, konkreten Errungenschaften der EU schät

zen gelernt, z. B. den Vorteil eines europäischen Verbraucher schutzes mit seiner zweijährigen Garantiezeit.

Die Briten können ab dem nächsten Jahr nicht mehr sicher sein, ob der schottische Lachs aus ihrem Königreich oder aus China kommt, denn die geschützte Ursprungsbezeichnung ist eine europäische Errungenschaft, die wir nicht mehr verlieren wollen.

(Vereinzelt Beifall)

Wir werden die englischen ERASMUS-Studierenden in un seren Unis vermissen. Viele deutsche Studierende werden die englischen Universitäten eventuell nur noch aus Büchern ken nenlernen. Wir könnten diese Liste von Vorteilen, der EU an zugehören, endlos fortsetzen.

Für unsere Fraktion ist klar: Für eine gute Zukunft brauchen wir die Europäische Union. Wir wollen ein vereintes Europa, das auch in schwierigen Zeiten den Weg der europäischen In tegration weitergeht. Denn nur zusammen können wir die Pro bleme dieser Epoche lösen.

Vielen Dank.

(Beifall)