Protokoll der Sitzung vom 10.11.2016

Was derzeit in der Türkei geschieht, erinnert mich an die Anfänge der NS-Zeit in Deutschland.

Ich frage Sie: Was tun wir? Warten wir, bis Erdogan die To desstrafe in der Türkei einführt? Warten wir, bis zusätzlich zu den aktuellen Flüchtlingen Millionen von vertriebenen Kur den und politischen Flüchtlingen zu uns kommen und die schon jetzt brisante Situation zusätzlich aufheizen? Warten wir darauf, dass die innertürkischen Konflikte auf unseren Straßen, an unseren Schulen und Arbeitsplätzen stattfinden? Ich erinnere die Älteren daran, dass wir das schon einmal hat ten. Erinnern Sie sich an die Balkankriege. Auch hier kam es zu Konflikten im Rahmen der Sezessionen von Jugoslawien.

Glauben Sie mir: Hierbei handelt es sich nicht um die All machtsfantasien der AfD bzw. meiner Partei.

(Abg. Winfried Mack CDU: Gibt es die?)

Erinnern wir uns an den 5. November. Am vergangenen Sams tag demonstrierten in Stuttgart 2 000 Kurden, überwiegend kurdische Migranten, gegen die türkische Politik. Das ist ihr freies Recht; das ist auch zugelassen. Während dieser De monstration wurden Fahnen der PKK durch Stuttgart geführt. Gegen die Demonstranten musste teilweise mit Schlagstöcken vorgegangen werden. Resultat dieser Aktion: fünf verletzte Polizisten.

Ich frage Sie: Wollen wir das tatsächlich, oder treten wir mit geeigneten Mitteln den Demonstranten, aber vor allem Erdo gan entgegen, damit er seine politischen und rassistischen Säuberungen endlich beendet und die Träume vom osmani schen Großreich niederlegt?

Die Antwort auf brutale Massenverhaftungen in der Türkei kann nur sein, Herrn Erdogan in der gleichen Sprache anzu sprechen, in der er auch austeilt. Gegen brutales Vorgehen hilft kein Streichel- und Kuschelkurs, sondern harte Kante.

(Beifall bei der AfD und des Abg. Dr. Wolfgang Ge deon [fraktionslos])

Drehen wir Herrn Erdogan den Geldhahn ab. Dazu sind wir in der Lage. Die gesamten türkischen Exporte betragen der zeit 140 Milliarden Dollar. Davon gehen etwa 50 % in die EU.

2015 importierte Deutschland Waren im Wert von über 14 Milliarden €; allein Baden-Württemberg importierte Wa ren im Wert von ca. 2 Milliarden €. Da Deutschland etwa 10 % der türkischen Exporte bezieht, sind wir wirtschaftlich der größte Abnehmer türkischer Produkte. 60 % der Investitionen in der Türkei kommen aus der Europäischen Union.

Handelsbeziehungen in diesem Ausmaß sind aufgrund der der zeitigen politischen Lage in der Türkei aus Sicht der AfDFraktion ethisch nicht mehr vertretbar.

(Beifall bei der AfD und des Abg. Dr. Wolfgang Ge deon [fraktionslos])

Es wird Zeit, dass wir Herrn Erdogan bewusst machen, dass wir in der Lage sind, diese Handelsbeziehungen einzufrieren. Die Zahlungen der EU müssen sofort gestoppt werden. Da bin ich mit Asselborn völlig d’accord. Weitere geplante Milliar densummen für den Ausbau der türkischen Infrastruktur und die Entwicklung des Staates gehören aus Sicht der AfD mit sofortiger Wirkung eingefroren.

(Beifall bei der AfD und des Abg. Dr. Wolfgang Ge deon [fraktionslos])

Die wirtschaftliche Förderung eines diktatorischen, nationa listischen Staates muss aufhören. Lassen Sie uns darüber nachdenken, ob wir der Bundesregierung nicht empfehlen, dass wir das deutsch-türkische Gesundheitsabkommen stop pen bzw. einfrieren. Stoppen wir die EU-Verhandlungen so fort. De facto sind sie ja schon gestoppt.

(Beifall bei der AfD und des Abg. Dr. Wolfgang Ge deon [fraktionslos])

Stoppen wir die geplante Visafreiheit und sprechen eine so fortige Reisewarnung für die Türkei aus. Stehen wir den de mokratisch gewählten Parlamentariern des türkischen Parla ments mit diesen Maßnahmen zur Seite und zwingen den tür kischen Diktator zu einem anderen Verhalten. Einen anderen Weg sehe ich nicht. Sie erinnern sich an die Aussage Erdo gans: „Es geht zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus.“

(Abg. Wolfgang Drexler SPD: Was schlägt er nun vor?)

Wenn wir diesen Wahnsinn nicht beenden, schaden wir der türkischen Bevölkerung, unseren Beziehungen, aber auch un serem inländischen Frieden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der AfD und des Abg. Dr. Wolfgang Ge deon [fraktionslos] – Abg. Wolfgang Drexler SPD: Was will er jetzt machen?)

Für die Fraktion GRÜNE er teile ich Herrn Abg. Lede Abal das Wort.

(Zuruf: Gott sei Dank!)

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kollegin nen und Kollegen! In dieser Woche hat EU-Kommissar Jo hannes Hahn den jährlichen Fortschrittsbericht zur türkischen Beitrittskandidatur vorgelegt. Darin bescheinigt er der Türkei schwerwiegende Rückschritte bei der Rechtsstaatlichkeit, bei der Meinungsfreiheit und bei der Unabhängigkeit der Justiz. Insgesamt stellt die EU der Türkei in ihrem Bericht das schlechteste Zeugnis seit Beginn der Gespräche mit Blick auf die Beitrittskandidatur aus.

Seit dem Putschversuch Mitte Juli haben sich die Menschen rechtslage und die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien in der Türkei dramatisch verschlechtert. Seitdem erreichen uns in rascher Folge immer wieder neue Meldungen über Maß nahmen der türkischen Regierung.

So wird die Meinungsfreiheit massiv eingeschränkt. Unter dem Schlagwort „Terrorismusbekämpfung“ kommt es zu se lektiven und willkürlichen Verhaftungen und willkürlicher An wendung von Rechtsbestimmungen. Über 100 000 Menschen wurden aus dem Staatsdienst entlassen. Es gibt massenhafte Entlassungen von Lehrerinnen und Lehrern, Professorinnen und Professoren und die Entlassung von etwa einem Fünftel aller Richterinnen und Richter.

Die Türkei hat als Mitglied des Europarats die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung unterzeichnet. Aber auch in diesem Bereich gibt es einen gravierenden Verstoß durch die Amtsenthebung von 24 kurdischen Bürgermeistern; diese wurden auf Verdacht hin ihres Amtes enthoben. Die Ein schränkung der Pressefreiheit lässt sich daran messen, dass rund 150 Radio- und TV-Stationen sowie Zeitungen geschlos sen worden sind.

Am 31. Oktober wurden mindestens 13 Mitarbeiter der be kannten regierungskritischen Zeitung „Cumhuriyet“, darun ter der Chefredakteur, verhaftet. Unternehmen mutmaßlicher – ausdrücklich: mutmaßlicher – Gülen-Unterstützer werden einkassiert und inzwischen privatisiert, ohne dass überhaupt der Nachweis einer Nähe zur Gülen-Bewegung erfolgt ist. Bei einem späteren Nachweis des Nichtbestehens einer Verbin dung zur Gülen-Bewegung, also einer Unschuld, besteht dann die Möglichkeit, dass die Unternehmer am Verkaufserlös be teiligt werden. Also besteht auch hier ein massiver Eingriff.

Seit Ende September sitzt zudem ein Richter des Internatio nalen Strafgerichtshofs in Den Haag trotz diplomatischer Im

munität und trotz der massiven Forderungen der Vereinten Na tionen, ihn freizulassen, in Haft.

(Zuruf von der AfD: Also, was machen wir?)

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal explizit auf die Situ ation der oppositionellen Abgeordneten in der Türkei hinwei sen. Mindestens neun Abgeordnete des Parteienbündnisses HDP sind aufgrund vager, unbelegter Vorwürfe verhaftet wor den, darunter der Parteivorsitzende Demirtas. Mit Teilen des Parteienbündnisses HDP verbindet uns Grüne seit vielen Jah ren eine Zusammenarbeit.

Inzwischen hat Präsident Erdogan den nächsten Schritt getan und Strafanzeige gegen alle 133 Oppositionsabgeordneten der CHP gestellt, weil sie Erdogans Vorgehen gegen Medien und Opposition in einer Resolution kritisiert haben.

Das sind desaströse Entwicklungen. Wir begrüßen deshalb, dass die Bundesregierung ausdrücklich auf die Möglichkeit des politischen Asyls hingewiesen hat. In Anbetracht der Ent wicklungen müssen die Beitrittsverhandlungen mit der Tür kei aus unserer Sicht auf Eis gelegt werden.

(Beifall bei der AfD und des Abg. Hans-Ulrich Sckerl GRÜNE – Abg. Daniel Rottmann AfD: Bravo!)

Wir wollen die Verhandlungen nicht abbrechen, sondern den Dialog aufrechterhalten, auch um den Prozess in der Türkei wieder umzukehren. Mit wem das gelingen kann und gelingt, werden wir sehen müssen.

Ein Abbruch der Beitrittsverhandlungen würde aus unserer Sicht Erdogan in die Hände spielen und eine willkommene Ausrede für den weiteren Abbau von Demokratie und Men schenrechten in der Türkei sein und diesen befördern.

(Abg. Rüdiger Klos AfD: Der braucht keine Ausre den!)

Wir haben den europäischen Einigungsprozess immer als ge meinsamen Weg verstanden. Wir haben Europa, auch die Eu ropäische Union vor allem immer als ein Europa der Werte verstanden. Daran halten wir fest.

(Zuruf des Abg. Dr. Heinrich Fiechtner AfD)

Wir fordern deshalb die EU dazu auf, die Beitrittsverhandlun gen mit der Türkei vorübergehend auszusetzen und bereits an gesetzte Termine abzusagen, sodass die Türkei auf den Weg der Rechtsstaatlichkeit zurückkehrt. Wer die Opposition eines Landes ins Gefängnis steckt, kann nicht erwarten, dass mit ihm weiterverhandelt wird, als wäre nichts geschehen.

(Beifall bei den Grünen sowie Abgeordneten der CDU, der AfD, der SPD und der FDP/DVP)

Wer die Todesstrafe wieder einführt, darf nicht erwarten, dass man mit ihm weiterverhandelt, als wäre nichts geschehen. Wer deutsche Abgeordnete und ihre Familien attackiert, weil sie ihr Mandat wahrnehmen und beispielsweise die Armenienre solution des Bundestags unterstützt haben, kann kein Ge sprächspartner sein.

(Beifall bei den Grünen sowie Abgeordneten der AfD und der SPD)

Das ist auch keine Einmischung in die inneren Belange der Türkei, die von dieser immer zurückgewiesen wird, sondern für uns sind das elementare Fragen der Zusammenarbeit und der Beitrittsverhandlungen.

Wir glauben, dass die Entwicklung in der Türkei natürlich auch Auswirkungen auf Deutschland hat, weil die Menschen, die hier leben und Verbindungen persönlicher Art – Familie, Freunde, Bekannte – in die Türkei haben, von diesen Entwick lungen natürlich nicht abgekoppelt werden können. Deshalb ist es unsere Aufgabe – dieser werden wir auch nachkommen –, diese Menschen hier zu schützen und auch vor dem Ein fluss und dem Zugriff türkischer staatlicher Stellen zu schüt zen.

Wir unterstützen deshalb ausdrücklich den Weg der Landes regierung und von Ministerpräsident Kretschmann, der klar und eindeutig zurückgewiesen hat, hier in Deutschland, in Ba den-Württemberg Menschen auf Verdacht, aufgrund unbeleg ter Vorwürfe zu verfolgen und zu diskriminieren.

Vielen Dank.

(Beifall bei den Grünen sowie Abgeordneten der CDU und der AfD)

Für die CDU-Fraktion erteile ich Herrn Abg. Kößler das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kol legen! Ich habe mich lange gefragt, warum die AfD diese Ak tuelle Debatte beantragt hat. Ich habe mich gefragt: Was soll das? Geht es Ihnen um die Türkei? Geht es Ihnen um BadenWürttemberg? Geht es Ihnen um die Demokratie, die Men schenrechte, die Freiheiten, die Pressefreiheit? Geht es Ihnen um die türkischstämmigen Mitbürger in Baden-Württemberg? Geht es Ihnen um die Verfolgten in der Türkei? Oder geht es Ihnen um die Sympathisanten von Erdogan in Baden-Würt temberg? Wollen Sie diese an den Pranger stellen? Oder geht es Ihnen darum, was Baden-Württemberg in dieser Krise un ternehmen kann? Um was geht es Ihnen? Geht es Ihnen um die Verschärfung der politischen Lage in der Türkei? Das kann ich nicht deuten.