Protokoll der Sitzung vom 10.11.2016

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kol legen! Ich habe mich lange gefragt, warum die AfD diese Ak tuelle Debatte beantragt hat. Ich habe mich gefragt: Was soll das? Geht es Ihnen um die Türkei? Geht es Ihnen um BadenWürttemberg? Geht es Ihnen um die Demokratie, die Men schenrechte, die Freiheiten, die Pressefreiheit? Geht es Ihnen um die türkischstämmigen Mitbürger in Baden-Württemberg? Geht es Ihnen um die Verfolgten in der Türkei? Oder geht es Ihnen um die Sympathisanten von Erdogan in Baden-Würt temberg? Wollen Sie diese an den Pranger stellen? Oder geht es Ihnen darum, was Baden-Württemberg in dieser Krise un ternehmen kann? Um was geht es Ihnen? Geht es Ihnen um die Verschärfung der politischen Lage in der Türkei? Das kann ich nicht deuten.

Zweitens: Die Auswirkungen, die es auf Baden-Württemberg gibt, gelten ja für alle Bundesländer. Der Verdacht liegt nahe, dass Sie im Grunde die Islamdebatte wieder auflegen wollen. Das hat sich gestern natürlich insgesamt gezeigt. Sie wollen durch die Hintertür wiederum eine Debatte über den Islam er zeugen. Kurzum, die AfD bringt Probleme nach Baden-Würt temberg, die eigentlich auf der Bundesebene zu lösen sind. Wir hier im Landtag können diese Probleme nicht lösen. Sie verbreiten Ängste und verbessern die Lage nicht.

Tatsache ist – das bestreitet niemand; der Kollege Lede Abal hat dazu ja schon einiges deutlich gemacht –: Am 15. Juli 2016 kam es in der Türkei zu einem Putschversuch. Dieser Putschversuch hat dazu geführt, dass der Notstand ausgeru fen wurde und dieser bis zum heutigen Tag verlängert wurde.

Als Reaktion auf den gescheiterten Putsch wurden 35 000 Menschen inhaftiert. Gegen 82 000 Menschen wurde in der Folge des Putschversuchs ermittelt. Mehr als 50 000 Ange stellte des öffentlichen Dienstes haben ihre Stelle verloren.

Mehr als 99 Journalisten und Schriftsteller wurden verhaftet. Bei 100 Rundfunkanstalten wurde der Betrieb eingestellt. 2 300 Journalisten haben ihre Arbeit verloren, 330 Journalis ten wurde ihr Arbeitsplatz entzogen.

Selbstverständlich treten wir auch für die Kollegen im türki schen Parlament ein. Die Abgeordneten und Vorsitzenden der HDP wurden verhaftet und in Untersuchungshaft genommen. Sie haben unseren Beistand, und wir müssen uns natürlich für sie einsetzen.

(Beifall bei der CDU und den Grünen sowie Abge ordneten der AfD, der SPD und der FDP/DVP – Zu ruf des Abg. Rüdiger Klos AfD)

All diese Entwicklungen in der Türkei beunruhigen natürlich. Sie bedrohen die Demokratie, die Menschenrechte und die Freiheit. Sie bedrohen die Grundwerte Europas. Wir verurtei len natürlich diesen Putschversuch, aber gleichzeitig kann die ser Putschversuch nicht der Ausgangspunkt für solche Maß nahmen in der Türkei sein, die die Freiheit bedrohen, die die Grundwerte Europas bedrohen, die natürlich unser ganzes Wertesystem bedrohen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU, der Grünen und der AfD sowie des Abg. Sascha Binder SPD)

Gleiches gilt natürlich auch für die Einführung der Todesstra fe. Das ist die Überschreitung einer roten Linie, die wir uns nicht gefallen lassen können, die unser Wertesystem insge samt gefährdet.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU, der Grünen und der AfD)

Die Europäische Union ist natürlich gehalten, dagegen vor zugehen. Sehr viel wurde bereits getan. Natürlich können wir in Zukunft noch mehr tun. Aber eines dürfen wir nicht tun: Wir dürfen nicht die Gespräche abbrechen. Wir sollten ge sprächsbereit sein. Nur wer gesprächsbereit ist, kann an der Situation in der Türkei etwas ändern.

(Zuruf des Abg. Rüdiger Klos AfD)

Wir müssen klar und deutlich sagen, was dort nicht in Ord nung ist. Wir müssen brandmarken, dass die Demokratie in der Türkei gefährdet ist.

Wir müssen aber auch daran denken, welche Interessen das Land Baden-Württemberg hat. Ich will Ihnen einmal ein paar Zahlen nennen. In Baden-Württemberg leben 260 000 Ein wohner mit türkischem Pass. Es gibt viele Landsleute in Ba den-Württemberg, die türkische Wurzeln haben. Wir haben eine gute kulturelle und wirtschaftliche Zusammenarbeit zwi schen der Türkei und Deutschland. Und, Herr Sänze, wir ex portieren im Volumen von 3 Milliarden €. Wenn man Ihren Vorschlägen folgen würde, dann müsste man den gleichen Maßstab an Russland, an China, an viele Länder der Welt an legen.

(Abg. Sascha Binder SPD: Richtig! Genau! – Zuruf des Abg. Reinhold Gall SPD)

Wir müssten dann im Grunde genommen mit all diesen Staa ten unseren Handel abbrechen. Das kann nicht der Sinn sein.

(Beifall bei der CDU sowie Abgeordneten der Grü nen und der SPD)

Die Türkei selbst hat großen Schaden durch ihr Verhalten. Er dogan muss erkennen, dass sich die Wirtschaft nach unten ent wickelt. 50 % des Tourismus sind im Grunde genommen weg gefallen, und natürlich sind auch die weiteren Aktivitäten von Importeuren und Exporteuren gefährdet. Allein der produkti ve Sektor leidet an zurückgehenden Investitionen, an einer In vestitionszurückhaltung ausländischer Unternehmen. Das dy namische Wachstum in der Türkei, wie es das in den letzten zehn Jahren gegeben hat, ist gefährdet. Wir müssen dem Re gime in der Türkei, vor allem Erdogan, deutlich machen, dass er, wenn er so weitermacht, sich natürlich selbst den Fuß stellt und dass er die Türkei zugrunde richtet.

Aber nochmals: Wir müssen gesprächsbereit sein. Gespräch heißt, dass man miteinander spricht, dass man deutlich seine Positionen klarmacht und dass man Forderungen stellt. Unse re Forderung ist, dass die Demokratie in vollem Umfang wie derhergestellt wird, dass die Menschenrechte gewahrt bleiben und dass natürlich Pressefreiheit herrscht.

Ich muss eines sagen: Wenn die AfD sich für die Pressefrei heit in der Türkei einsetzt, dann erinnere ich mich noch gut daran, dass sie teilweise selbst ein gebrochenes Verhältnis zur Presse hat, Wörter wie „Lügenpresse“ usw. usf. verwendet hat. Noch eines: Sie schließen auf Ihrem kommenden Landes parteitag die Öffentlichkeit und die Presse aus. Frauke Petry hat auf dem AfD-Bundesparteitag in Stuttgart Folgendes ge sagt:

Im Übrigen können sich Mehrheiten... ändern.

Sie hat damit der Presse gedroht. Ist das so weit von Erdogan entfernt?

(Lachen bei der AfD – Zuruf von der AfD: Der war gut! – Abg. Sascha Binder SPD: Der war gut!)

Kehren Sie also einmal vor Ihrer eigenen Tür.

(Beifall bei der CDU, den Grünen, der SPD und der FDP/DVP)

Sie müssen aufpassen, dass Sie mit dieser Debatte heute nicht wieder Ängste schüren. Es ist klar: Wer hier demonstriert, auch gegen das Regime in der Türkei oder als Sympathisant für das Regime in der Türkei, hat sich an Recht und Gesetz zu halten. Dafür müssen wir sorgen. Ich bin davon überzeugt, dass der Innenminister und die Polizei in Baden-Württemberg dafür Sorge tragen werden.

Ich will Ihnen vielleicht zum Schluss einen Ratschlag geben. Es gibt ein Zitat des griechischen Philosophen Aristoteles, das lautet:

Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.

Schauen Sie nicht immer nur auf einen Bereich. Machen Sie Politik für den gesamten Bereich, und ziehen Sie nicht stän dig irgendwelche populistischen Themen hier hoch.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU, den Grünen, der SPD und der FDP/DVP)

Für die SPD-Fraktion erteile ich das Wort Herrn Abg. Binder.

Frau Präsidentin, liebe Kollegin nen und Kollegen! Wir sehen die Festnahmen von Politikern und Abgeordneten der kurdischen Partei HDP und von Mitar beitern einer türkischen Oppositionszeitung mit großer Sor ge. Wir nehmen wahr, dass sich dadurch die ohnehin ange spannte Lage in der Türkei noch weiter verschärft.

Jede weitere Eskalationsstufe der Gewalt schwächt die Chan cen auf einen Verständigungsprozess und eine friedliche Kon fliktlösung. Die Türkei hat unbestritten das Recht, mit rechts staatlichen Mitteln gegen Terrorismus vorzugehen. Aber dies darf nicht der Rechtfertigung dienen, um ungeliebte Opposi tionspolitiker außer Gefecht zu setzen und diese systematisch mundtot zu machen, Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD, Abgeordneten der Grünen, der CDU und der FDP/DVP sowie des Abg. Hans Peter Stauch AfD)

Kollege Lede Abal sprach den Fortschrittsbericht der EUKommission an, der diese Woche veröffentlicht worden ist. Die Türkei hat in diesem Jahr die schlechteste Bewertung seit Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen erhalten. Die innenpo litische Lage in der Türkei hat deshalb auch Auswirkungen auf die weiteren EU-Beitrittsverhandlungen. Wer Journalis ten verhaftet, Medien schließt und Rechtsbestimmungen über die nationale Sicherheit und zum Kampf gegen Terrorismus selektiv und willkürlich anwendet, der darf sich nicht wun dern, dass dies Forderungen zur Aussetzung oder gar zum Ab bruch der Verhandlungen nach sich zieht. Wer ein Fünftel der Richter und Staatsanwälte nach dem versuchten Militärputsch entlässt und Beschuldigte bis zu 30 Tage in Haft lässt, bevor sie einem Richter vorgeführt werden, der muss sich Nachfra gen über die Unabhängigkeit der Justiz gefallen lassen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD sowie Abgeordneten der Grünen und der CDU)

Für uns und die Gemeinschaft in der Europäischen Union sind Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und Pressefreiheit eine wesentliche Grundlage für die Demokratie. Wenn diese mit Füßen getreten werden, müssen wir ernsthaft darüber reden, ob wir und wie wir mit den Beitrittsverhandlungen der Tür kei zur Europäischen Union umgehen.

Ich teile die Auffassung des Kollegen Lede Abal, dass wir die se Beitrittsverhandlungen auf Eis legen müssen, ohne dabei einen Gesprächsabbruch mit der Türkei zu riskieren. Wir müs sen weiter im Gespräch bleiben. Wir wollen die Verhandlun gen unterbrechen, aber den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen)

Deshalb hat die innenpolitische Lage im Hinblick auf die EUBeitrittsverhandlungen einen inneren Zusammenhang.

Anders liegt der Fall bei der Verhängung von wirtschaftlichen Sanktionen gegen die Türkei. Herr Sänze, wie solche Sankti onen aussehen sollen, mit welchen Kriterien Sie solche Sank tionen grundsätzlich verbinden und unter welchen Vorausset

zungen Sie allgemein Sanktionen verhängen wollen, haben Sie nicht gesagt. Auf diese Kriterien wäre ich gespannt.

Wenn wir jetzt gegen jedes Land, mit dem wir Handel treiben, das in der Innenpolitik rechtlich unterschiedliche Auffassun gen von Demokratie hat – ich möchte da nur über die Todes strafe reden –, Sanktionen verhängen würden, gegenüber wel chen Ländern müssten wir dann Sanktionen verhängen?

(Abg. Josef Frey GRÜNE: Gegen die USA!)

Ich glaube nicht, dass dies wirklich zielführend ist.

Bei den EU-Beitrittsverhandlungen gibt es einen inneren Zu sammenhang. Sanktionen wurden bislang nur verhängt, um außenpolitisch Länder, die mit anderen Ländern kriegerische Auseinandersetzungen führen, zu verurteilen, aber nicht als Kritik und Einmischung in die Innenpolitik. Deshalb sind Sie die Antwort auf die Frage schuldig geblieben: Wie sehen Sie denn Sanktionen? Dazu haben Sie nichts gesagt. Außerdem haben Sie nichts dazu gesagt, welche Auswirkungen die Sank tionen auf Baden-Württemberg hätten.

(Beifall bei der SPD)

Im Übrigen haben Sie relativ wenig dazu gesagt, welche Aus wirkungen dies alles auf Baden-Württemberg hat. Wir alle müssen gemeinsam dafür Sorge tragen, dass es nicht zur Aus tragung offener Konflikte zwischen den in Deutschland leben den türkischstämmigen Bürgern kommt. Wir appellieren an alle gesellschaftlichen Kräfte, an unserem friedlichen Zusam menleben festzuhalten, Konflikte im bewährten Dialog und ohne Gewalt auszutragen und die hohen Güter der Rechts staatlichkeit, Meinungsfreiheit und Pressefreiheit hochzuhal ten.

Klar muss sein: Der innertürkische Konflikt kann nicht bei uns ausgetragen werden. Die Probleme der Türkei dürfen wir nicht zu unseren Problemen machen. Gewalttätige Demonst rationen und Ausschreitungen rivalisierender türkischstämmi ger Bürgerinnen und Bürger hier in Deutschland dulden wir nicht, ebenso wenig Gewalt gegen die Polizistinnen und Po lizisten, die sich schützend vor die Rechtsstaatlichkeit und die Ausübung der Meinungsfreiheit stellen.