drei Schüsse gehen nach meiner Überzeugung am Ziel vor bei. Wer sich einfach für „Weiter so!“ ausspricht, hat anschei nend nicht verstanden, wie groß die politische Krise der Eu ropäischen Union ist. Dieses Szenario ist das „Kopf-in-denSand-Szenario“ und scheidet für uns deshalb aus.
Ich will ausdrücklich auch eine Aussage des Kollegen Schweickert mit einem ganz konkreten Hinweis etwa auf die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank aufgreifen. Diese Politik ist auf Dauer nicht geeignet, die Akzeptanz der Men schen für Europa zu befördern, sondern sie ist geeignet, die Menschen auf Distanz zu Europa zu bringen, weil sie die Aus wirkungen Europas in ihrem eigenen Leben, in ihrer eigenen Situation negativ wahrnehmen. Damit muss Schluss sein. Auch darüber muss in diesem Diskussionsprozess geredet werden.
Wer als Antwort auf die Kritik daran, dass Brüssel zu Zentra lismus neigt, undifferenziert nach viel mehr Europa ruft,
das europäische Projekt endgültig zu beerdigen. Die Men schen wollen eben keine allumfassende und allzuständige Su per-EU, sondern ein Europa, das den Staaten, Regionen und Kommunen Spielräume lässt.
Wer die Zukunft der Europäischen Union allein auf den Bin nenmarkt konzentrieren will, der übersieht den Charakter die ser Gemeinschaft. Europa ist mehr als Handel und Kommerz. Europa ist eine Rechts- und Wertegemeinschaft. Frau Präsi dentin, Sie haben in Ihren einführenden Worten gesagt: Euro pa ist a u c h eine Rechts- und Wertegemeinschaft. Ich sa ge: Europa ist v o r a l l e m eine Rechts- und Wertege meinschaft. Die Würde des Menschen, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Meinungs- und Pressefreiheit – die Ach tung vor diesen Werten eint uns. Für sie einzutreten ist, wie es Kollege Schwarz gesagt hat, Teil einer gesamteuropäischen Staatsräson. Das ist unser Auftrag und unsere Verantwortung.
Staaten, die sich mit diesem Wertefundament schwertun, pas sen deswegen nicht zur Europäischen Union und schon gar nicht in die Europäische Union.
Wer die Medien gängelt und andere Meinungen als Majestäts beleidigung auffasst, wer Richter und Staatsanwälte nach Gut dünken aus dem Amt jagt, wer seinen Gegnern mit der Todes strafe droht, der hat keinen Platz in diesem Europa, der steht weit außerhalb unserer Werteordnung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer Europa neu beleben will, darf nicht nur sagen, wogegen er ist, sondern muss auch bekennen, wofür er ist. Es ist auch eine Frage der Europarhe torik, die wir uns immer wieder zu eigen machen. Günther Oettinger pflegt zu sagen: „Wenn die Sonne scheint, dann war Stuttgart oder Berlin dafür verantwortlich, und wenn es reg net, war es Brüssel.“ Wir müssen auch darin, wie wir über Eu ropa reden, aufzeigen, welche Potenziale, welche Chancen in Europa liegen.
Im Übrigen: Wenn immer wieder mit Blick auf Europa Rege lungen beklagt werden, führt die Recherche nicht selten zu der Erkenntnis, dass gerade auch aus den Nationalstaaten he raus, übrigens auch aus Deutschland heraus, Bälle in das eu ropäische Feld gespielt werden, damit etwas von dort aus ge regelt wird. Bleiben wir also fair in der Diskussion über eu ropäische Politik.
Zwei der fünf Szenarien aus dem Weißbuch der Kommission kommen aus meiner Sicht ernsthaft infrage. Wie ich höre, sind dies auch die zwei Szenarien, die aus Sicht der am kommen den Wochenende in Rom versammelten Staats- und Regie rungschefs der EU infrage kommen. „Wer mehr will, tut mehr“ ist das eine Szenario, und das andere Szenario lautet „Weni ger, aber effizienter“.
Schauen wir uns die beiden Vorschläge genauer an: „Weniger, aber effizienter“ heißt für mich nichts anderes, als dass sich die EU auf das Wesentliche konzentriert.
Lassen sich mich an einigen Themen zeigen, was es konkret bedeutet, dass sich Europa thematisch beschränkt. Schule und Hochschule, Kunst und Kultur brauchen keine Vereinheitli chung, sondern Vielfalt und Unterschiedlichkeit. Justiz und Verwaltung, Gesundheit und Pflege sowie die öffentliche Da seinsvorsorge insgesamt brauchen die Nähe zu den Menschen und profitieren vom Wissen um regionale Besonderheiten. Da wäre jede Form von Zentralismus oder Besserwisserei fehl am Platz.
Da braucht es Spielräume für eigenständige Entscheidungen vor Ort in Gemeinden, Städten und Landkreisen. Europa neu zu beleben heißt für mich – wie Kollege Reinhart es gesagt hat –, Europas Regionen wieder mehr zuzutrauen,
Wir müssen ein Europa schaffen, das offen ist für sinnvolle Lösungen vor Ort, das die Vielfalt von Kulturen, Sprachen und Fähigkeiten bewahrt und nicht einebnet. Ein Europa der Regionen ist eben kein Europa der Einheitslösungen. In ei nem solchen Zukunftsentwurf kann sich die Europäische Uni on auf ihre Aufgaben konzentrieren, Handel und Wirtschaft vorantreiben, Fragen der gemeinsamen Verteidigung und Di plomatie angehen und nicht zuletzt den Schutz unserer Au ßengrenzen gewährleisten.
Dort, wo die EU zuständig ist, wäre dann aber auch Platz für mehr Gemeinsamkeit und mehr unterschiedliche Geschwin digkeiten beim Erreichen dieser Gemeinsamkeiten. Genau das meint das andere ernsthaft infrage kommende Szenario, das erwähnte Szenario „Wer mehr will, tut mehr“. Staaten, die mehr und schneller zusammenarbeiten wollen, sollen die Mög lichkeiten dafür bekommen. Andere Staaten, die lieber erst einmal abwarten wollen, sollen später dazustoßen können. Ein solches Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten müss te flexibel sein, und es müsste so gestaltet sein, dass es das ge meinsame Europa nicht spaltet.
Die von Thema zu Thema gebildete Koalition der Willigen muss allen Mitgliedsstaaten offenstehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit kein Missverständnis aufkommt: Ein Eu ropa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten darf nicht hei ßen, dass es ein Europa der unterschiedlichen Solidarität wä re. Wenn die Menschen in diesem gemeinsamen Europa ge rade mit Blick auf die vergangenen Monate eines vermisst ha ben, dann war es diese gemeinsame Solidarität, auch dann, wenn es darum geht, großen Herausforderungen gerecht zu werden. Stichwort Flüchtlingskrise: Da brauchen wir mehr Solidarität in Europa.
Ob diese Ideen Europa neu beleben, darüber müssen wir ge meinsam diskutieren – nicht nur heute, sondern das ganze Ju biläumsjahr 2017 hindurch. Die Landesregierung will deshalb die Debatte vorantreiben und in die Fläche tragen. Wir wol len Raum schaffen für einen Diskurs über Ziel und Zustand der Europäischen Union. Denn während Populisten in aller Welt bereits das Ende der europäischen Einigung beschwö ren, setzt die baden-württembergische Landesregierung auf ein starkes Europa, auf ein Europa, das in der Welt für Demo kratie und Rechtsstaatlichkeit steht, auf ein Europa, das wirt schaftlichen Erfolg mit sozialer Sicherheit kombiniert,
und auf ein Europa, das Frieden, Freiheit und Wohlstand für seine Bürgerinnen und Bürger garantiert. Wir stehen in einem Schicksalsjahr für Europa. Aber ein solches Europa wäre ein passendes Geschenk zum 60. Jahrestag der Römischen Ver träge.
Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Her ren! Ich will kurz auf die Aussagen von Herrn Hofelich ein gehen. Er hat gesagt: „Baden-Württemberg muss für Europa vorangehen.“ Das haben wir in der Vergangenheit getan.
Schon zu Anfang seines Bestehens hat sich Baden-Württem berg für ein vereinigtes Europa eingesetzt. Die Befürworter des Südweststaats haben für ein vereinigtes Europa gewor ben. Alle späteren Landesregierungen sind diesem Motto treu geblieben.
Baden-Württemberg liegt in der Mitte Europas am Rhein und an der Donau, an den beiden wichtigen Flüssen Europas.
Dort haben wir die Initiative ergriffen. Wir haben am Ober rhein eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit installiert, die hervorragend ist und die ein Beispiel, ein Modell für die Zusammenarbeit in anderen Grenzregionen ist.
Lothar Späth hat 1980 das Europa der Regionen auf die Agen da der Europapolitik geschrieben. Erwin Teufel war immer ein Verfechter des vereinten Europas und hat im europäischen Verfassungskonvent hervorragende Arbeit geleistet. Die Do nauraumstrategie stammt aus Baden-Württemberg, und unser ehemaliger Europaminister und jetziger Fraktionsvorsitzen der Wolfgang Reinhart hat dort entscheidende Initiativen ein gebracht.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Abg. Andreas Schwarz GRÜNE: Es ist immer gut, den Vorsitzen den zu loben!)
Es ist klar: Das Europa der 28 hat viele Gegensätze. Es gibt wirtschaftliche, soziale und natürlich auch Mentalitätsunter schiede. Aber eines muss gelten: Solidarität, Subsidiarität und auch Eigenverantwortung.