Jetzt ist die Liebe beendet, und es kommt zur Scheidung – wie im richtigen Leben. Eine Scheidung ist wie einmal ausge brannt. Es wird teuer für beide Seiten, und zwar nicht nur öko nomisch, sondern vor allem auch politisch.
Die Katze ist aus dem Sack. 100 Milliarden € soll der Austritt aus der EU kosten. Das sind nur die direkt abschätzbaren Kos ten. Die Folgen für die Menschen und für die Wirtschaft in der Alt-EU und im Alt-Empire kann man gar nicht absehen. Auslandsbriten in der EU und EU-Bürger im Königreich wis sen nicht, ob sie in der neuen Heimat bleiben dürfen. Aber im merhin, die Briten haben ja vielleicht die Chance, am 9. Juni etwas dagegen zu tun. Aber die Prognosen sprechen leider ei ne ganz andere Sprache.
Für uns und die Europäische Union stellt die Flucht der Bri ten einen Verlust, aber möglicherweise auch eine große Chan ce dar. Jetzt werden hoffentlich alle Staaten wachgerüttelt,
weil ein Land die Drohungen des EU-Austritts wahrgemacht hat. Jetzt muss sich die EU auf ihre vier Grundfreiheiten be sinnen und diese leben, aber auch eine gemeinsame Linie fin den, um nach außen aufzutreten.
Wir sind für mehr Europa in der Sicherheits- und Außenpoli tik, aber auch für mehr Gestaltungsspielraum bei inneren An gelegenheiten für jeden einzelnen Staat. Wir müssen über Eu ropa jetzt erst recht neu nachdenken. Es geht nicht, dass die Staaten die positiven Effekte für sich proklamieren und die negativen auf die EU schieben,
z. B. nach dem Motto: Für schönes Wetter sind die nationalen Hauptstädte verantwortlich, für schlechtes Wetter aber Brüs sel. Das darf nicht mehr gelten.
Die Verhandlungen bergen die Chance, dass die 27 verblei benden Staaten eine gemeinsame politische Linie für die Bri ten finden und nebenbei erkennen, welche wichtigen Privile gien sie selbst innerhalb der EU genießen. Es müssen Zuge ständnisse gemacht werden, aber die vier Grundfreiheiten ge hören nur den Mitgliedern der EU.
Der Austritt der zweitgrößten Wirtschaftsmacht der EU mit dem stärksten Militär wird die Europäer noch vor weitere He rausforderungen stellen. Machen die Schotten ihren Austritts wunsch wahr, werden auch Separationsbestrebungen wie z. B. in Katalonien und im Baskenland an Fahrt aufnehmen. Zu dem muss Deutschland als stärkstes Land wahrscheinlich mehr Geld ausgeben, und andere bekommen weniger. Ein Sitz im UN-Sicherheitsrat, den die Briten innehaben, geht uns ver loren, was auch international unsere politische Bedeutung deutlich schmälern wird.
Um diese Mängel zu kompensieren, brauchen wir mehr ge meinsames Handeln auf der internationalen Bühne. Wir müs sen die politische Stärke erlangen, um die verbleibenden 450 Millionen Menschen, die jetzt unter dem europäischen Dach leben, auch repräsentieren zu können.
Hier in Baden-Württemberg müssen wir angesichts der engen Wirtschaftsbeziehungen mit Großbritannien – darauf wurde ja schon hingewiesen – aufpassen, dass die Wirtschaft in un serem Land nicht fremde britische Standards berücksichtigen muss. Ein Abkommen wie CETA sollte auch für die Briten stehen, um die Folgen so klein wie möglich zu halten.
Darum fordern wir die Landesregierung auf, konstruktiv an dem Austrittsprozess mitzuarbeiten, wie der Bundesrat dies schon beschlossen hat. Sehr geehrter Herr Minister, Sie sind in diesem Zusammenhang unser Anwalt.
Meine Redezeit ist genau zu Ende; das passt wunderbar. Aber eines muss ich Ihnen an dieser Stelle noch sagen – und das ist wirklich das Allerwichtigste –: Unabhängig davon, dass die
EU ein Wirtschaftsprojekt ist, dürfen wir nie vergessen, dass die EU vor allem ein Friedensprojekt ist.
(Beifall bei der FDP/DVP sowie Abgeordneten der Grünen, der CDU und der SPD – Bravo-Rufe von der FDP/DVP)
Herr Prä sident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Brexit – dafür gibt es keinen Vorgang, dafür gibt es keine Blaupause – ist der erstmalige Austritt eines Mitgliedsstaats aus der Europäischen Union. Niemand von uns hat ihn wirklich für möglich gehal ten. Viele von uns haben bis zum Schluss darauf gehofft, dass die Briten sich doch für den Verbleib in der Europäischen Uni on entscheiden werden. Auch viele Repräsentanten der Wirt schaft haben nicht für möglich gehalten, was dann mit einer knappen Mehrheit erfolgt ist.
Auch wenn es bis heute für viele Briten ebenso unglaublich erscheint wie für uns im kontinentalen Europa, sind die Wür fel doch unwiderruflich gefallen. Es wird kein Zurück geben, und – auch da dürfen wir uns keine Illusionen machen – es werden schwere und für beide Seiten unangenehme Verhand lungen werden.
Für mich, für die Landesregierung und für die Staaten der Eu ropäischen Union insgesamt ist das Ziel völlig klar: Wir sind entschlossen, die Europäische Union weiter zusammenzuhal ten. Wir werden nicht zulassen, dass die unüberlegte Entschei dung einer knappen Mehrheit in Großbritannien zu Europas Schicksal wird. Ganz im Gegenteil: Wir werden aus diesem Brexit und seinen Folgen auch neue Kraft für Europa schöp fen, und wir werden näher zusammenrücken, wenn es darum geht, Europa auch wieder als Wertegemeinschaft und als Rechtsgemeinschaft in die Köpfe und in die Herzen der Men schen zu bringen.
Die eigentlichen Brexit-Verhandlungen nehmen nun konkre te Gestalt an, auch wenn sie en détail erst nach den Unterhaus wahlen am 8. Juni richtig beginnen werden.
Geschätzter Kollege Dr. Weirauch, als Sie hier sprachen, fühl te ich mich an Gespräche in London mit Vertretern Großbri tanniens erinnert, die mich allesamt gefragt haben, wie ich mir denn den Brexit vorstelle. Das hat mich jeweils zu der Bemer kung veranlasst: Das war nicht unsere Idee; das war die sou veräne Entscheidung der Briten, und jetzt sind zunächst ein mal die Briten gefragt, uns zu sagen, wie s i e sich den Bre xit vorstellen. Dann werden wir unsere Antworten darauf ge ben.
Im Übrigen war und ist es die baden-württembergische Lan desregierung, die wie keine andere Landesregierung in Deutsch land diesen Brexit als eigene Verantwortung begriffen hat und begreift. Es war die baden-württembergische Wirtschaftsmi nisterin Dr. Nicole Hoffmeister-Kraut, die bereits im Februar dieses Jahres mit einer Delegation der Wirtschaft nach Groß
britannien gereist ist, um Gespräche zu führen, Präsenz zu zei gen und natürlich auch dort Perspektiven für die Wirtschaft in anderen Ländern aufzuzeigen. Denn mangelnde Kalkulierbar keit, mangelnde Planbarkeit ist Gift für die Wirtschaft. Des halb ist das natürlich eine Situation, in der sich Unternehmen in Großbritannien Gedanken machen, wie es für sie weiter geht.
Dass wir uns in dieser Situation als potenzielle Partner anbie ten, ohne aggressiv abzuwerben, versteht sich von selbst. Da ist die baden-württembergische Landesregierung seit Mona ten erfolgreich unterwegs.
Das Zweite: Ich selbst war im März in Großbritannien, übri gens genau an dem Tag – das war ja nicht planbar –, als The resa May den Austrittsantrag Großbritanniens überreicht hat.
Das war abgesprochen, richtig, Kollege. – Das war eine be klemmende Situation. Ich habe in Großbritannien viele Men schen erlebt, die sich Sorgen über die Zukunft ihres eigenen Landes machen. Den eigentlichen Brexit-Gegnern wird dort kaum mehr gestattet, sich in der Öffentlichkeit zu positionie ren.
Als der Supreme Court entschieden hat, dass im Zuge der Bre xit-Verhandlungen das Unterhaus zu beteiligen ist, haben bri tische Medien am nächsten Tag die Richter in Großbritanni en als „Volksverräter“ bezeichnet. Das ist ein Skandal an sich. Noch schwieriger aber ist, dass sich am Tag danach kein Mi nister, keine Ministerin, keine Premierministerin veranlasst fühlte, sich schützend vor die Justiz, vor die Neutralität und Unabhängigkeit der Justiz zu stellen.
Dies sage ich, um deutlich zu machen, wie die aktuelle Stim mungslage in Großbritannien ist. Es gibt viele, die sich über die Zukunft Sorgen machen. In der politischen Diskussion in Großbritannien ist es derzeit aber nicht angezeigt, dies auch wirklich öffentlich zu tun.
Bei den Unterhauswahlen, die in Kürze stattfinden – Theresa May hat sie für den 8. Juni ausgerufen –, gibt es keine politi sche Kraft, die die Brexit-Gegner derart binden könnte, dass man damit noch einmal ein starkes Gegengewicht zu den an stehenden Austrittsverhandlungen setzen könnte. Das ist mei ne Sorge. Ich habe die Sorge, dass diese Unterhauswahlen der Premierministerin noch einmal ein starkes Mandat für harte Brexit-Verhandlungen geben werden. Das ist Teil der großen Herausforderung, vor der wir stehen.
Die EU der 27 geht mit einer klaren Linie in die Verhandlun gen, die jetzt anstehen. Für uns ist völlig klar: Oberste Maxi me ist, dass wir uns in diesen Verhandlungen mit Großbritan nien nicht auseinanderdividieren lassen. Das wird seitens Großbritanniens da und dort versucht. Dazu darf es nicht kom men.
Das Zweite: Heute ist mehrfach angeklungen – auf Deutsch oder auf Englisch –, dass es Rosinenpickerei oder Cherry-Pi
cking nicht geben darf. Deshalb ist die Antwort des Präsiden ten des Europäischen Rats, Tusk, richtig.
Wir werden zunächst die Austrittsverhandlungen führen. Erst wenn die Scheidungsgespräche abgeschlossen sind, werden wir in einer zweiten Stufe darüber befinden, in welcher Wei se wir künftig mit Großbritannien zusammenarbeiten. Wir wollen zuerst das eine zum Abschluss bringen, Rechtsklarheit und Rechtssicherheit schaffen, und danach in einem zweiten Schritt überlegen, auf welche Weise wir künftig gute Bezie hungen zu Großbritannien pflegen.
Es kann nicht sein, bereits jetzt, im Zuge der Austrittsverhand lungen, darüber zu befinden, wo man sich weiterhin die Vor teile der Europäischen Union sichert. Wer sich für den Aus stieg entschieden hat, der muss ihn zunächst einmal auch in allen Konsequenzen realisieren.
Herr Minister, ich hätte das vielleicht auch an einer anderen Stelle fragen kön nen. Es geht ja auch darum, dass ein erheblicher Teil der be troffenen Bürgerinnen und Bürger, die bei uns wohnen, noch die britische Staatsbürgerschaft haben. Ich denke gerade an den Fall eines hervorragenden Beamten im Wirtschaftsminis terium. Ist auch entsprechend zu berücksichtigen, welche Möglichkeiten diese Menschen haben? Nicht dass man dann womöglich diese Bürger aufgrund dieser Fehlentscheidung in Großbritannien abstraft.
Das war das Ergebnis eines Gesprächs, das wir in London mit Vertre tern des Oberhauses geführt haben: Von dort wird der An spruch erhoben, dass die in Großbritannien lebenden Europä er in gleicher Weise rechtssicher behandelt werden, wie es un ser Anspruch ist, dass die Briten, die bei uns – auch in BadenWürttemberg – leben – das sind etwa 11 000 bis 12 000 Bür ger –, Rechtssicherheit bekommen.
Wir erleben durchaus den einen oder anderen Einbürgerungs antrag von Briten, die ihr Schicksal jetzt selbst in die Hand nehmen und für klare Rechtsverhältnisse sorgen, weil sie nicht wissen, inwieweit sich durch die Austrittsverhandlungen Rah menbedingungen verändern können.