Guten Morgen, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kolle gen! Ich eröffne die 37. Sitzung des 16. Landtags von BadenWürttemberg.
Zunächst möchte ich im Hinblick auf die Aktuelle Debatte un ter Tagesordnungspunkt 1 einige Worte im Gedenken an den verstorbenen Altbundeskanzler Dr. Helmut Kohl an Sie rich ten.
Als „Kanzler der Einheit“ hat Dr. Helmut Kohl seinen unver rückbaren Platz in der Geschichte. Die Wiedervereinigung Deutschlands ist zugleich eine gesamteuropäische Erfolgsge schichte. Auch diese bleibt mit dem Namen von Dr. Helmut Kohl für immer verbunden.
Das Aufhebeln des Eisernen Vorhangs und die Öffnung der innereuropäischen Grenzen waren die Voraussetzungen für die friedliche Revolution in der DDR. Der Fall von Mauern und Stacheldraht, die Nationen brutal voneinander abgeschot tet hatten, hat die deutsche Einigung überhaupt erst ermög licht. Die deutsche Vereinigung war wiederum von entschei dender Bedeutung für den europäischen Einigungsprozess. Beides gehört untrennbar zusammen. Das sagt uns heute die Geschichte.
Dr. Helmut Kohl hat schon früh verstanden, dass die Zusam menarbeit in Europa im besten Interesse der europäischen Staaten ist. Das war sein Leitmotiv. Sein politisches Werk ist getragen vom Idealismus, nach der Erfahrung von Krieg und Zerstörung ein europäisches Friedensprojekt zu schaffen, und gleichzeitig vom Pragmatismus, dass sich gesamteuropäische Probleme am besten europäisch lösen lassen. Diese Denkwei se hat den europäischen Geist belebt und in den Neunziger jahren Fortschritte der europäischen Einigung ermöglicht, die zuvor undenkbar erschienen. Seine Sichtweise kann heute da zu beitragen, diese Errungenschaften für künftige Generatio nen zu sichern.
Am 11. Dezember 1998 ist Dr. Helmut Kohl als zweiter Ge ehrter überhaupt – nach Jean Monnet im Jahr 1976 – zum Eh renbürger Europas ernannt worden.
Von der Teilnahmepflicht befreit sind heute Herr Abg. Stefan Herre, Herr Abg. Ernst Kopp und Frau Abg. Andrea Lindlohr.
Aus dienstlichen Gründen entschuldigt haben sich ganztägig Herr Minister Manfred Lucha, Herr Minister Guido Wolf, Frau Staatsrätin Gisela Erler, Frau Staatssekretärin Dr. Gisela Splett, Herr Staatssekretär Dr. Andre Baumann und Herr Staatsmi nister Klaus-Peter Murawski. Außerdem sind aus dienstlichen Gründen die Herren Abg. Dr. Gerhard Aden und Thomas Hentschel entschuldigt, die Frau Staatsrätin Gisela Erler auf ihrer Delegationsreise nach Italien begleiten.
Jetzt ein Wort an die lieben Kollegen im Saal: In Anbetracht der Temperaturen, die wir gestern hatten und heute haben, be freie ich Sie von der Sakkopflicht.
Aktuelle Debatte – „Europa ist unsere Zukunft, Europa ist unser Schicksal“ – Das Erbe Helmut Kohls als Auftrag – beantragt von der Fraktion der CDU
Meine Damen und Herren, das Präsidium hat für die Aktuel le Debatte eine Gesamtredezeit von 50 Minuten festgelegt. Darauf wird die Redezeit der Regierung nicht angerechnet. Für die Aussprache steht eine Redezeit von zehn Minuten je Fraktion zur Verfügung. Ich darf die Mitglieder der Landes regierung bitten, sich ebenfalls an den vorgegebenen Rede zeitrahmen zu halten.
Herr Präsident, verehr te Kolleginnen und Kollegen! Ich stimme der eben geäußer ten Wertung des Präsidenten zu. Helmut Kohl hat einen un verrückbaren Platz in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und Europas. Daher hat die CDU-Fraktion die se Debatte beantragt, um auch hier im Landtag das politische Lebenswerk von Helmut Kohl zu würdigen. Er hat unsere Re publik geprägt wie vielleicht kein anderer. Als Pater patriae hat ihn die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ am ver gangenen Wochenende in ihrem Nachruf gewürdigt.
Wahrscheinlich uns alle hier in diesem Parlament hat er auf dem Weg in die Politik und in der Politik auf die eine oder an
dere Weise beeinflusst. Helmut Kohl hat mit seinen mutigen Entscheidungen, mit seiner umsichtigen Diplomatie und mit der Glaubwürdigkeit seiner Person Weltgeschichte geschrie ben. Die Einheit unseres Vaterlands und die Einigung Euro pas waren für sein gesamtes politisches Wirken prägend. Bei des hat ihn angetrieben. In jeder Rede – ich erinnere mich an viele Parteitage – zitierte er gern Adenauer, nach dem die deut sche Einheit und die europäische Integration stets zwei Sei ten der gleichen Medaille sind.
Heute hat sich der neue französische Präsident Macron vor dem heutigen Gipfel in Brüssel auf Helmut Kohl und auf Mit terrand berufen und geäußert, dass Europa für ihn auch in Zu kunft vor allem, wie es Kohl einmal gesagt hat, eine Schick salsgemeinschaft darstellt.
Natürlich, auch Helmut Kohl war nicht fehlerfrei. Wer ist schon ohne Fehler? Niemand darf sich über das Gesetz stel len. Ich will persönlich hinzufügen: Seine familiäre Tragödie stimmt uns alle auch traurig. Aber all das kann seine große politische Lebensleistung nicht verdunkeln. Künftige Gene rationen werden sich an ihn erinnern als den Vater der deut schen Einheit in Frieden und Freiheit und als den Erbauer des vereinten Europas.
Das „Haus Europa“, von dem er gern sprach, wäre unter den Krisen der vergangenen Jahre vielleicht längst eingestürzt ohne die europapolitischen Leistungen von Helmut Kohl. Deutsch land wäre ohne ihn heute nicht das einige, starke, verlässliche und weltoffene Land, in dem wir so gern leben.
Ich erinnere mich, als er – ich war damals junger Kreisvorsit zender – sein Zehnpunkteprogramm zum Jahresende 1989 präsentiert hat, das er in seinem Wohnhaus in Oggersheim selbst geschrieben hatte. Er hat damals versprochen, das ge einte Deutschland werde ein blühendes Landschaftsbild ge ben. Die Wahrheit ist – darauf können wir alle gemeinsam und parteiübergreifend stolz sein –: Es ist tatsächlich ein blühen des Land geworden.
Das Gedenken an ihn erfüllt uns heute wenige Tage nach sei nem Tod deshalb vor allem mit Dankbarkeit für sein großes politisches Lebenswerk. Es erfüllt uns auch mit Dankbarkeit für eine deutsche Gegenwart, in der es – das will ich heute auch einmal sagen – den Deutschen so gut geht wie nie zuvor.
Aber die Erinnerung an Helmut Kohl richtet unseren Blick nicht nur zurück, sondern vor allem nach vorn, in die europä ische Zukunft. Europa ist unsere Zukunft, Europa ist unser Schicksal. Diese Worte haben wir deshalb für den Titel dieser Aktuellen Debatte gewählt. Diese Überzeugung hat uns Kohl bis zuletzt mitgegeben. Es ist die bleibende Mahnung und der dringende Appell eines großen Europäers an alle, die nach ihm kommen.
Wir müssen uns unserem europäischen Schicksal neu stellen. Wir müssen die europäische Räson und die europäische Lei denschaft auch von Helmut Kohl – die hatte er wirklich – wie der neu entdecken. Denn für ihn war für alle Zeiten klar: Au ßerhalb des erwähnten gemeinsamen europäischen Hauses gibt es für Deutschland keinen sinnvollen Ort in der Weltge schichte.
Wir wissen heute: Nur durch die Entschlossenheit von Hel mut Kohl zur europäischen Einigung ist die deutsche Einheit möglich geworden. Mehr noch: Auch durch seine vorherige Einwilligung in Bezug auf die Europäische Währungsunion hat sich das kurze geschichtliche Fenster für die Wiederver einigung bei den europäischen Partnern überhaupt erst geöff net. Wir dürfen nicht vergessen: Der Euro ist damit auch Teil der historischen Wegbereitung der deutschen Einheit. Deutsch land profitiert auch aktuell – das muss man in diesen Tagen sagen – vom Euro.
Natürlich gab es damals zwei Theorien: die Theorie von der Lokomotive, wonach es später zur politischen Union kommen werde, und die Krönungstheorie, wonach der Euro erst am Abschluss der politischen Union stehen sollte. Darüber kann man streiten, aber das ist Realität.
Eine gute Zukunft Deutschlands ist nur möglich, wenn auch das gemeinsame Europa eine gute Zukunft hat. Das ist das po litische Vermächtnis von Helmut Kohl, das wir in diesen Ta gen eindrucksvoll spüren.
Tatsache ist: Der Tod von Helmut Kohl hat viele plötzlich emotionaler und engagierter über die Zukunft Europas nach denken lassen als etwa das Jubiläum der Römischen Verträge vor einigen Wochen – auch in den Leitartikeln, in den sozia len Medien, in den Familien. Mit den Rückblicken auf seine Kanzlerschaft treten uns der Wert und die Bedeutung des eu ropäischen Einigungswerks auf einmal wieder neu vor Augen.
Das sagt viel darüber, wie wir Europa sehen und wahrnehmen. Europa braucht Menschen, die ihre europäische Idee politisch leben und vor allem auch verkörpern. Europa braucht noch mehr echte Europäer; darüber haben wir hier oft gesprochen. Als echte Europäer müssen wir um und für unser Europa kämpfen.
Wir müssen uns um die großen Fragen, also um Migration so wie – heute geht es beim neuen Gipfel in Brüssel um die Ver teidigungsunion – um die Gemeinsame Außen- und Sicher heitspolitik und auch um die Währung kümmern. Wir dürfen aber nicht erlauben, dass Kleingeister und Populisten wie trot zige Kinder einreißen, was Helmut Kohl und andere aufge baut haben.
Im politischen Denken von Helmut Kohl gab es ganz sicher keinen Platz für nationale Egoismen, für Abschottungsideen oder deutsche Sonderwege. Er stand für Verlässlichkeit und Partnerschaft im transatlantischen Rahmen, in der deutschfranzösischen Freundschaft und auch bei der Einigung Euro pas nach dem Ende des Eisernen Vorhangs.
Er hatte immer den Respekt und das Gespür für das Recht der kleineren Partner in Europa. Übrigens war er als langjähriger
Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz für einen Föderalis mus, in dem die Länder ihren Stellenwert haben. Ich füge hin zu: Den Artikel 21 des Grundgesetzes, nach dem politische Parteien bei der Willensbildung mitwirken, hat er immer ge lebt. Auch das ist das Wesen der Demokratie, der repräsenta tiven Demokratie, die wir haben.
Von diesem partnerschaftlichen, ausgleichenden, integrativen, vertrauensstiftenden Politikstil können wir auch heute in Eu ropa viel lernen –
gerade heute umso mehr. Ich sage mal: Ein gewisser „Kohlis mus“ auf allen Seiten würde Europa und der Welt aktuell in der Krise guttun. Denn wir dürfen uns im europäischen All tagsgerangel nicht den Blick für das große Ganze verstellen lassen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die kleinen und gro ßen Krisen Europa zermürben oder auseinandertreiben. Wir müssen uns darauf besinnen, dass das einige, freie und fried liche Europa nicht selbstverständlich ist, sondern mit politi schem Geschick und auch mit Weitsicht erbaut worden ist.
Wir sehen jetzt an Großbritannien: Der Weg hinaus aus Euro pa führt ins Nirgendwo. Seit der Brexit-Entscheidung schlin gert und taumelt das Königreich. Europa hat dennoch den Bre xit-Schock verdaut, sich gesammelt, es formiert sich wieder gegenüber den neuen Unsicherheiten der Welt, es baut jetzt wieder an der eigenen Zukunft. Das wird uns die nächsten Jah re hier beschäftigen, z. B. das Juncker-Weißbuch zu der Fra ge: Wohin wollen wir?
Mit dem neuen französischen Präsidenten Macron ist der deutsch-französische Motor endlich auch wieder bereit, neu durchzustarten. Wir erinnern uns alle an den Motor der deutsch-französischen Freundschaft, an die Bilder von Kohl und Mitterrand, die Hand in Hand vor den Gräbern der gefal lenen Soldaten in Verdun standen. Auch das muss man immer sehen, wenn man über Europa spricht.
Und noch wichtiger: Die Zustimmung – damit will ich zum Schluss kommen – zur Europäischen Union ist im letzten Jahr nach ganz aktuellen Daten, auch amerikanischer Meinungs forscher, massiv gestiegen: in Spanien um 13, in den Nieder landen um 15, in Frankreich und Deutschland sogar um 18 Punkte. Das sollte uns ermutigen. Die Menschen haben wie der Lust auf Europa. Das ist auch eine gute Nachricht in die ser Stunde, über die sich Helmut Kohl freuen würde. Das Haus Europa – es wird wahrscheinlich immer unfertig bleiben, aber es lohnt sich unbedingt, weiter daran zu bauen und zu arbei ten.