(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD, der Grünen, der CDU und der FDP/DVP – Abg. Rein hold Gall SPD: Wir fühlen uns angesprochen! – Abg. Winfried Mack CDU: So viele sind es nicht! – Ge genruf des Abg. Dr. Stefan Fulst-Blei SPD: Wir ar beiten daran! – Weitere Zurufe, u. a. des Abg. Dr. Wolfgang Reinhart CDU)
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, was ist passiert? Was sind die Ursachen für das Auseinanderdriften, insbesondere auch dieser Gesellschaft? Ich befürchte, wir können die Auswir kungen dieses Referendums heute weder für Großbritannien noch für Europa klar fassen. Was aber deutlich wird: Da ist eine Gesellschaft tief gespalten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei aller Spekulation darü ber, was kommen wird, müssen wir eines ganz klar sagen: Ein Austritt aus der Europäischen Union kann nicht darin enden, dass ein Land nur so weit austritt, wie es um die eigenen Bei träge geht, dass dies aber dort, wo es um die Privilegien des europäischen Marktes geht, keine Folgen haben soll.
Es muss hier an dieser Stelle ganz klar gesagt werden: Ein Austritt aus der Europäischen Union ist ein Austritt aus der Europäischen Union.
(Beifall bei der SPD sowie Abgeordneten der Grü nen, der CDU und der FDP/DVP – Kopfschütteln des Abg. Dr. Jörg Meuthen AfD)
Ich sage das ganz bewusst, ohne Schaum vor dem Mund. Denn die Gefahr bei den Kräften, die Europa auseinandertrei
ben, liegt doch gerade darin, dass man Europa immer dort, wo es für einen günstig ist, braucht, dass aber dort, wo es in der innenpolitischen Debatte günstig ist, die Verantwortung an derswohin zu schieben, Europa der Böse ist. Liebe Kollegin nen und Kollegen, das kann nicht unser Bild von Europa sein.
Erinnern wir uns zurück: Was war denn die Idee Europas, ei nes europäischen Hauses, in dem die verschiedenen Völker sicher und in Frieden und Freiheit leben können? Diese ge meinsame Idee ist durch die beiden Weltkriege geprägt wor den. Churchill hat 1946 von den „Vereinigten Staaten von Eu ropa“ gesprochen. Ich erinnere aber an das Heidelberger Pro gramm der SPD von 1925. Darin ist nämlich, noch unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs, von den „Vereinigten Staa ten von Europa“ als Antwort auf nationalstaatliche Aggressi on und als Antwort auf Krieg die Rede, meine sehr geehrten Damen und Herren. Europa war eine sozialdemokratische Idee.
Die Gründungsversprechen der Europäischen Union lassen sich letztlich mit drei Begriffen beschreiben: zum einen na türlich die Idee des Friedens, und zum Zweiten die gemein same Überzeugung, dass demokratische Staaten die richtigen Staaten sind, um den Menschen Freiheit, aber auch Wohlstand geben zu können. Das dritte Gründungsversprechen – deswe gen habe ich den Wohlstand erwähnt – ist die Mehrung des Wohlstands der Menschen in einer Europäischen Union.
Diese drei Gründungsversprechen sind die Basis und das Fun dament, auf dem das europäische Haus steht. Wir müssen heu te aber kritisch fragen: Haben diese Gründungsversprechen noch Faszination für die Menschen in Europa? Ich kann Ih nen sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen, bei all diesen Be griffen finden bereits Prozesse statt, bei denen Menschen ebendiese Begriffe infrage stellen.
Ich nenne Ihnen den Begriff des Friedens. Die Frage der au ßenpolitischen Sicherheit oder auch der Sicherheit innerhalb Europas ist etwas, was aus Sicht der Menschen relativ sicher ist. Der Balkankrieg hat uns überrascht: dass nahe vor unse rer Haustür ein solcher Krieg passieren kann. Gleichzeitig ist das aber auch ein Anreiz, zu sagen: Wir brauchen eine Euro päische Union, die dort, wo zwischen Staaten, zwischen Völ kern noch Konflikte herrschen, diesen europäischen Friedens- und Einigungsprozess unterstützt.
Die Menschen fühlen sich in ihrer persönlichen Situation trotzdem nicht mehr unumschränkt sicher. Die Frage des Frie dens stellt sich heute auch unter dem Gesichtspunkt einer Si cherheit im Inneren – der Bedrohung durch Terrorismus.
Die Frage nach Frieden stellt sich für viele Menschen aber ge rade auch in sozialer Hinsicht, wenn nämlich nach dem sozi alen Frieden gefragt wird, wenn Gesellschaften auseinander zudriften drohen. Dann ist der Frieden in einer Gesellschaft bedroht. Deswegen muss die Friedensidee von uns in dieser Weise neu interpretiert werden, liebe Kolleginnen und Kolle gen.
Natürlich spielt bei dem Begriff „Demokratie“ auch die Er fahrung der letzten 70 Jahre eine ganz entscheidende Rolle. Viele Menschen auch bei uns, gerade auch junge Menschen, scheinen sich nicht nur an das Vorhandensein von Frieden ge wöhnt zu haben, sie scheinen sich auch an das Vorhandensein von Demokratie gewöhnt zu haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, darin steckt auch eine Gefahr: zum einen, dass wir in Selbstzufriedenheit verfallen, zum anderen, dass wir das, was in vielen Regionen dieser Erde eben nicht selbstverständ lich ist, nicht mehr schätzen. Deswegen ist diese Debatte in England für mich auch Anlass für die Frage: Können wir den Menschen den Wert der Demokratie in unseren Ländern – auch in Deutschland, auch in Baden-Württemberg – eigent lich in genügender Weise nahebringen? Deswegen halte ich das Ergebnis des Referendums in England auch für den Aus druck einer Krise der Demokratie in Europa.
Ich möchte an dieser Stelle ganz deutlich betonen, dass wir in Europa wieder einen intensiveren Diskurs über demokratische Werte und auch über Grundwerte und Eckpfeiler der Demo kratie brauchen.
Wenn europäische Staaten, Mitglieder der Europäischen Uni on – ich nenne als Beispiele Ungarn und Polen –, Züge auto kratischer Regierungen zeigen, in denen z. B. die Meinungs- und Pressefreiheit eingeschränkt und die Frage der Gewalten teilung nicht mehr beachtet wird, dann müssen wir ernsthaft über die Zukunft Europas diskutieren. Dann müssen wir fra gen, ob alle Länder auch bereit sind, die europäischen Stan dards zu erfüllen, die wir brauchen, um Freiheit und Frieden gewährleisten zu können.
Ich komme zum dritten Eckpfeiler. Dieser ist für uns Sozial demokraten ein ganz wesentlicher Teil des europäischen Ver sprechens: Das ist das Versprechen des Wohlstands. Ich schlie ße mich den Worten des Ministerpräsidenten an, der betont hat, dass Baden-Württemberg in der Geschichte der letzten 70 Jahre in ganz erheblichem Umfang von diesem europäischen Einigungsprozess profitiert hat – natürlich auch in außenpo litischer Hinsicht, aber insbesondere in wirtschaftspolitischer und in arbeitsmarktpolitischer Hinsicht.
Baden-Württemberg ist inzwischen ein Standort, eine Region innerhalb Europas, die eine der wirtschaftsstärksten, wenn nicht sogar die wirtschaftsstärkste in ganz Europa ist. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, dies ist auch nicht vom Himmel gefallen. Baden-Württemberg ist kein Land, das durch Roh stoffe einen großen Vorsprung vor anderen hatte. Die Innova tionsfähigkeit, der Erfindergeist, der Fleiß, aber auch die Iden tifizierung der Menschen mit ihrer Heimat sind die Träger, auf denen der Wohlstand der letzten Jahre und Jahrzehnte in Ba den-Württemberg erarbeitet wurde.
Aber wir müssen bei dieser Frage eines kritisch beleuchten: Wenn wir hier von einem Wohlstandsversprechen der Euro päischen Union sprechen, dann haben wir dort, wo sich die
ses Wohlstandsversprechen offensichtlich nicht erfüllt hat, ein Problem, vor die Menschen zu treten. Wir haben nämlich in Europa Regionen, in denen die Jugendarbeitslosenquote bei über 40 % liegt. Wir stellen fest, dass in Großbritannien ein überwiegender Teil der jungen Wähler für den Verbleib in der Europäischen Union gestimmt hat. Wir stellen aber gleichzei tig fest, dass nur die allerwenigsten der jungen Leute tatsäch lich von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht haben.
Deswegen müssen wir auch bei uns alles dafür tun, dass wir die junge Generation nicht nur abstrakt, sondern ganz konkret davon überzeugen, dass die Zukunft für sie selbst, was ihre persönlichen Perspektiven angeht, aber auch, was den Gedan ken der Solidarität in einem europäischen Haus angeht, in Eu ropa und nicht außerhalb Europas liegt. Dann können wir es auch schaffen, dass sich diese jungen Menschen nicht rechtspo pulistischen Rattenfängern öffnen, sondern dass sie auf dem Boden der Demokratie, des Friedens und der Freiheit verblei ben.
Wir dürfen nicht zulassen, dass Europa für viele Menschen heute – ich nenne ganz gezielt Staaten im Süden Europas wie Spanien, Italien und Griechenland – – Wir dürfen nicht zulas sen, dass diese europäische Idee viel von ihrer Faszination verliert und Europa stattdessen für viele gleichbedeutend ist mit Marktradikalismus, Neoliberalismus und einer Idee von Wirtschaft, in der der Stärkere obsiegt und der Schwächere auf der Strecke bleibt.
Wenn wir die jetzige innenpolitische Debatte in Spanien ver folgen, dann hören wir dort auf den Wahlkampfbühnen von Parteien, die mit einem Stimmenanteil von über 20 % in die Parlamente kommen: „Wir wollen ein solidarisches Europa, aber wir wollen kein deutsches Europa.“ Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich halte diese Aussagen für falsch und für zweifelhaft. Aber wir müssen alles dafür tun, dass die Men schen in anderen Staaten nicht das Gefühl bekommen, dass in Europa das Recht der Stärkeren gilt. Wir müssen alles dafür tun, dass Europa zusammenbleibt. Daran haben wir ein un mittelbares Interesse, sowohl aus wirtschaftspolitischer Sicht als natürlich auch aus gesellschaftspolitischer Sicht, was den europäischen Einigungsprozess angeht.
Wenn wir zulassen, dass Europa als ein Ort verstanden wird, wo sich der Marktradikalismus durchsetzt, wird Europa sei nen Zusammenhalt verlieren; dann wird Europa scheitern, lie be Kolleginnen und Kollegen.
Ein weiterer wichtiger Punkt – auch hierzu hat der Minister präsident bereits einige Worte gesagt – ist für mich die eige ne Verantwortung, die wir in unserer Gesellschaft, in unseren Parlamenten und Regierungen haben. Wie oft haben wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten erlebt, dass immer dann, wenn innenpolitisch schwierige Diskussionen aufgekommen sind, Europa, die Brüsseler Demokraten die Schuldigen wa ren. Ich möchte hier nicht einen Schutzmantel über Brüssel decken; bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Wir müssen in einer kritischen Analyse der europäischen Institutionen sehr exakt prüfen: Welche Zuständigkeiten, welche Kompetenzen
und welcher Teil nationaler Souveränität kann von europäi schen Institutionen besser wahrgenommen werden? Das ist der Grundansatz des Gedankens der Subsidiarität.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir dürfen aber nicht zu lassen, dass Europa die billige Entschuldigung dafür ist, wenn bestimmte Dinge innerpolitisch nicht funktionieren. Wir alle haben doch, gerade mit Blick auf Großbritannien, ständig ein Bild vor Augen, und zwar das Bild einer Dame, die mit ihrem Handtäschchen nach Brüssel marschiert ist und dort lauthals gewettert hat: „I want my money back!“
Wenn ich der Gesellschaft, den Menschen in meinem Land über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten immer das Schreckensbild Brüssel, das Schreckensbild Europa zeichne, wenn ich den Menschen den Eindruck vermittle, dass Europa etwas ist, was uns schadet, was uns unnötig Geld kostet und nichts oder nur wenig bringt, muss ich mich dann wundern, wenn sich die Menschen von Europa abwenden? Muss ich mich dann wundern, wenn sich die Menschen den Rattenfän gern an die Fersen heften, die den Menschen in der „Brexit“Kampagne mit Falschbehauptungen immer weitere Argumen te gegeben haben, um sich von Europa zu entfernen?
Liebe Kolleginnen und Kollegen – das sage ich ganz gezielt in unsere Reihen und vor allem mit Blick auf die konservati ven Parteien Europas –, allzu oft ist in Europa Brüssel der Sündenbock gewesen: Wir brauchen jedoch ein Europa der Ehrlichkeit und der Transparenz.
(Beifall bei der SPD sowie Abgeordneten der Grünen und der CDU – Abg. Anton Baron AfD: Dr. Martin Schulz!)
Es gibt derzeit – daran können keine Zweifel bestehen – in vielen europäischen Ländern Kräfte, die die europäische Idee, die damit verbundenen Werte von Frieden und Freiheit, De mokratie und Rechtsstaatlichkeit, aber auch von Wohlstand und Wachstum längst abgehakt haben und eben nicht am Fort bestand der Europäischen Union interessiert sind, sondern durch populistisches Geschwätz, durch Schlechtreden die Spaltung Europas aktiv betreiben. Millionen von Menschen in Europa haben in den letzten Jahren mit Europa, mit euro päischer Politik keine positiven Erfahrungen gemacht.
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, darf es an dieser Stelle kein einfaches „Weiter so!“ geben. Aber dieses „Es darf kein ‚Weiter so!‘ geben“ darf kein momentaner Aufruhr, kei ne momentane Aufregung sein, um dann wieder allzu schnell in die bisherigen Verhaltensweisen zu verfallen. Ein „Es darf kein ‚Weiter so!‘ geben“ muss zu einer sehr kritischen Be standsaufnahme des Zustands führen, einschließlich der Fra ge, ob im Rahmen der europäischen Institutionen auch bei der Zuweisung von Kompetenzen in der Vergangenheit alles rich tig gemacht wurde.
Vor allem müssen wir eines schaffen: Wir müssen es schaf fen, den Menschen die Idee Europas wieder nahezubringen. Die Idee Europas darf nicht nur in den Köpfen der Menschen bleiben. Die Idee Europas – nämlich eine Region von Frie
Es gibt viele Aspekte, bei denen die Menschen gar nicht so richtig merken, welche positiven Effekte Europa für sie hat. Denken Sie z. B. an die Freizügigkeit. Denken Sie z. B. an die Möglichkeit, in anderen Ländern zu arbeiten, zu studieren. Denken Sie z. B. daran, dass Sie im Ausland keine anderen Währungen brauchen. Denken Sie z. B. daran, dass Sie im Ur laub in einem EU-Staat krankenversichert sind. Denken Sie an verschiedene Bereiche, die unmittelbar unser Leben betref fen, die wir aber allzu schnell als selbstverständlich hinneh men.
Nehmen wir gleichzeitig die großen Themen dieser Zeit. Der Herr Ministerpräsident hat bereits einige angesprochen. Glau ben wir denn ernsthaft, dass wir auf national- und einzelstaat licher Ebene im Bereich der Steuer- und Finanzpolitik, gera de wenn es darum geht, den Steueroasen oder Briefkastenfir men Einhalt zu gebieten, erfolgreich sein können? Glauben wir ernsthaft, dass wir dies auf einzelstaatlicher Ebene regu lieren und lösen können? Glauben wir denn wirklich, dass wir im Bereich der Flüchtlings- und Migrationspolitik in den nächsten Jahren die Herausforderungen, die ja offensichtlich sind, allein einzelstaatlich bewältigen können? Glauben wir, dass wir in einem europäischen Haus, in dem sich nicht alle zur Solidarität verpflichtet fühlen, diese Probleme lösen kön nen?
Meine sehr geehrten Damen und Herren, eine solche Roman tisierung des Nationalstaats in diesem Kontext geht an der Re alität der Probleme und vor allem an der Größe der Probleme vorbei. Wir brauchen ein starkes Europa, um diese Probleme zu lösen, damit Europa auch im weltweiten Kontext nicht an Boden verliert. Wir brauchen deswegen ein starkes Europa.
Bei aller Kritik und auch den unzureichenden Antworten: Wir müssen auch auf europäischer Ebene besser werden. Es gibt keine Alternative zu Europa. Ein Zurück zum Nationalismus wäre ein verhängnisvoller Irrweg, gefährdete den Frieden nachhaltig und führte auch – so zeigt die Geschichte – nicht selten zu Krieg und Aggression.