Das Friedens- und Freiheitsversprechen der europäischen In tegration hat seine Strahlkraft scheinbar verloren. Das histo rische Narrativ, die politische Vision der Einigung Europas funktioniert in den Augen vieler europäischer Bürger nicht mehr. Freizügigkeit und Rechtssicherheit in ganz Europa, das ist vielen in der Tat mittlerweile selbstverständlich geworden. Europa wird fast zum Opfer seines eigenen Erfolgs.
Manch einer sieht Europa stattdessen nur noch als anonyme Superbehörde, die vertraute und bewährte regionale und na tionale Eigenheiten bedroht. Wenn ich z. B. an die aktuelle Diskussion über die europäische Einlagensicherung denke, dann kann ich diese Wahrnehmung sogar verstehen. Unsere soliden Sparkassen- und Genossenschaftsbanken sollen per Order aus Brüssel in ein einheitliches Haftungssystem ge zwungen werden.
Oder – was der Ministerpräsident ansprach – die Gebäude brandpflichtversicherung, ein weiteres sinnvolles Beispiel.
So wird aus Vertrauen in Europa eventuell auch Verdruss oder Unverständnis. Viele Menschen erleben die komplizierten Entscheidungswege in der EU dann oft als intransparent, und sie ärgern sich ganz praktisch über Regeln wie das Glühbir nenverbot oder anderes. Deshalb: Das Klein-Klein der euro päischen Technokratie hat mit der Brüderschaft zwischen den Nationen, wie sie 2012 bei der Verleihung des Friedensnobel preises betont wurde, dann eben nichts mehr zu tun, und dar über müssen wir bei Reformen reden.
Vielleicht hat man manchmal im Paragrafendschungel der EUVerordnungen den freien Blick auf das eigentliche Ziel verlo ren, vielleicht ist über die Agglomeration europäischer Ver träge gemeinsames politisches Verständnis auch von Europa in der jüngsten Zeit etwas verkümmert. Zu beheben ist das nicht mit bürokratischem Feintuning. Wir müssen uns trauen, Europa neu zu denken.
Diese „Brexit“-Zäsur könnte eine Chance sein für einen neu en europäischen Reformprozess, der die EU am Ende besser, effizienter und attraktiver macht. Der Acquis communautaire, der Gesamtbestand des EU-Rechts, muss deshalb auf den Prüfstand, und er muss auf den eigentlichen Kern hin neu aus gerichtet werden, auch wenn damit im Brüsseler Berlaymont vielleicht ein paar Besitzstände wegfallen.
Zentralisierungen und Vereinheitlichungen müssen in Zukunft wieder präziser und nachvollziehbarer begründet werden. Dass die EU-Seilbahnrichtlinie auch im Flachland umgesetzt werden muss oder selbst der Pizza-Durchmesser per EU-Ver ordnung geregelt ist – das macht dann aus Europa eine fast traurige Realsatire, und dagegen müssen wir angehen.
Insoweit meine ich schon, wir dürfen uns nicht im Kleinge druckten verstricken. Die EU muss die großen Probleme an gehen und daraus wieder ihre Legitimation beziehen. Und wir haben große Themen. Mit der Migrationskrise, mit der Schul denkrise, mit der Terrorabwehr und in der Gemeinsamen Au ßen- und Sicherheitspolitik gibt es genug Aufgaben für Brüs sel, für die die Nationalstaaten zu klein sind. Bell hat gesagt: Es gibt große Aufgaben, dafür ist der Nationalstaat im Grun de genommen zu klein, und für die kleinen Aufgaben ist er zu groß.
Deshalb brauchen wir auch das Europa der Regionen und der Landesparlamente. Dafür haben wir uns immer eingesetzt, und es steht in unserer Verfassung – der Ministerpräsident hat es wörtlich zitiert. Darum muss es gehen.
Wir sind doch – wenn man in die Welt hinausgeht – die zivi lisatorische Kraft, mit der Europa in die Welt hineinwirkt. Deshalb darf Europa nicht als Gängelungsmaschine erschei nen, sondern es muss wieder Problemlösungsagentur werden. Es ist also aus meiner Sicht höchste Zeit für eine Renaissance der Subsidiarität und der Dezentralität. Europa wird blühen und leben, wenn es den Kräften der Spaltung, auch der Nati onalismen, ein verbindendes Europa der Regionen entgegen setzt mit Raum, auch mit Respekt für Verschiedenartigkeit und Vielfalt.
Meine Partei, die Union, versteht sich seit ihrer Gründung als Europapartei. Für uns liegen Deutschland und Baden-Würt temberg nicht nur geografisch im Herzen Europas. Wir waren und sind immer zugleich Herzenseuropäer gewesen und wer den das auch bleiben, auch in Zukunft.
Nur wenn wir die Menschen auch mit diesem Thema wieder im Herzen erreichen, werden wir neue Akzeptanz erzielen. Gerade weil das so ist, weil wir aus Überzeugung Ja zu Euro pa sagen, wollen wir die europäische Integration, wie es Er win Teufel gesagt hat und wie es heute mehrere Redner wie derholt haben, wieder vom Kopf auf die Füße stellen. Wir flüchten uns nicht in nationale Gefühle und Parolen, wenn es ungemütlich wird. Vor allem lehnen wir Nationalismus sowie rechten und linken Populismus ab – auch und gerade bei die sem Thema, wenn es um Europa geht.
Vielmehr wollen wir um die Zukunft dieses Europas kämp fen. Denn für uns steht außer Zweifel – das wurde zu Recht auch mit der Wirtschaft begründet; jeder dritte Arbeitsplatz hängt vom Export in die EU ab –: Wir Baden-Württemberger brauchen Europa.
Wir wären doch die größten Nettozahler von geschlossenen Grenzen, von Zollschranken, von Handelshindernissen. Der „Brexit“ wird möglicherweise auch bald seine Spuren in den Auftragsbüchern von Unternehmen hinterlassen. Es darf des halb keine lange Hängepartie geben. Das würde die engen Wirtschaftsbeziehungen nur strapazieren.
Die Wirtschaftsministerin hat gestern ein Gespräch mit den Verbänden der Wirtschaft geführt. Sie sind noch zuversicht lich. Es wird darum gehen, bei diesem Thema die Bedeutung unserer Exportwirtschaft immer auch mit ihren Vorteilen im Auge zu behalten.
Europa ist kein Selbstbedienungsladen. Wie die Kanzlerin auch gestern gesagt hat, darf es jetzt keine Rosinenpickerei – auch nicht für die Briten – geben. Auch das muss man in die sem Zusammenhang sagen.
Die Briten können nicht gegen die Verpflichtungen aus der EU-Mitgliedschaft stimmen und gleichzeitig die Vorteile des Binnenmarkts am liebsten unbeschränkt weiter nutzen.
Ich warne dabei jetzt aber auch dringend vor Frustfouls. Ich glaube, das sind die Gefühle am Anfang. Gerade wenn jetzt mancher davon spricht, in den Ausstiegsverhandlungen an Großbritannien ein Exempel zu statuieren, dann ist das eher spontaner Trotz als kluges politisches Denken. Wir können und werden die Zugbrücken nicht hochziehen, auch nicht ge genüber Großbritannien.
Es geht jetzt aber darum, für das Vereinigte Königreich einen sinnvollen Zugang zum Binnenmarkt zu schaffen. Ob dabei das Modell Norwegen oder andere Modelle die Zukunft sein werden, wird sich bei den Verhandlungen zeigen. Wir brau chen aber mehr Spielräume, mehr Differenzierung, mehr Fle xibilität. Da geht es nicht nur um Extrawürste oder Rabatt schlachten. Wir brauchen flexiblere Formate, um die erwähn ten europäischen Fliehkräfte besser und klüger ausgleichen zu können, damit Europa dynamisch, attraktiv und vor allem auch handlungsfähig bleibt.
Wolfgang Schäuble hat es in der jüngsten Zeit und auch frü her schon öfter beschrieben – diese Meinung teile ich –: Eine flexible Lösung kann auch ein Weg unterschiedlicher Ge schwindigkeiten sein. Da wird man auch über das Thema „Kerneuropa und Kooperation mit weiteren Ländern“ disku tieren müssen.
In der Regierungserklärung wurde aber zu Recht gesagt: Es gibt in diesen Tagen auch viele gute Nachrichten für Europa, auch bei uns in Deutschland. Das Bild der Deutschen von Europa hat sich nach Umfragen erneut verbessert. Nach dem aktuel len ZDF-Politbarometer vom Wochenende sagen nur 14 %, dass die EU-Mitgliedschaft Deutschland eher Nachteile bringt.
Auch dass drei Viertel der jungen Wähler in Großbritannien – das wurde erwähnt – für „Remain“ gestimmt haben,
ist eigentlich – Herr Kollege Schwarz, Sie haben es angespro chen – ein Zeichen der Hoffnung. Denn das ist die Zukunft.
Auch der Ausgang der Parlamentswahl in Spanien vom Sonn tag könnte ein erstes leises Signal der Besinnung auf den Wert Europas sein. Denn die europakritische Podemos-Bewegung ist dort doch weit unter den Erwartungen geblieben.
Vielleicht wurde der Weckruf also schon gehört, vielleicht auch verstanden. Denn auch in den Niederlanden scheiterte Wilders am Dienstag im Parlament mit einem Antrag auf ei ne Volksabstimmung über den EU-Austritt der Niederlande.
Vielleicht ist in den Tagen nach dem „Brexit“-Schock schon bei manchen der Gedanke gereift, dass wir mit nationalem Kirchturmdenken in unserer Zeit auf jeden Fall nicht mehr weiterkommen werden.
Aber allen, die jetzt auch hierzulande trotzdem mit den nati onalen Tönen der „Brexit“-Kampagne liebäugeln, will ich sa gen: Die europäische Integration ist keine Bedrohung für die europäischen Nationen, im Gegenteil. Sie war es doch viel mehr, die die europäischen Völker nach 1945 aus den Trüm mern des Nationalismus gerettet hat. Sie war es doch auch, die Deutschland die Rückkehr in die Gemeinschaft der ehr baren Nationen ermöglicht hat, und sie ist heute und morgen doch die einzige Form, mit der die europäischen Staaten in ei ner Welt noch hörbar bleiben, in der 90 % der Menschen kei ne Europäer sind.
Als Karthago 146 vor Christus zerstört wurde, hatte dieser Planet 200 Millionen Einwohner. Rom war die einzige Stadt mit einer Million Menschen, dann kam Karthago als zweit größte Stadt mit einer halben Million. Als Adenauer Europa mit Schuman und De Gasperi aufgebaut und gegründet hat, gab es weltweit 2,5 Milliarden Menschen. Heute sind es 7,5 Milliarden Menschen. Die Frage der Zukunft wird sein: Ent wickelt sich diese Welt bipolar oder tripolar? Amerika und Asien oder Europa, Amerika und Asien? Darum geht es bei diesen Fragen, liebe Freundinnen und Freunde.
Deshalb ist dies auch heute und morgen noch die einzige Form, mit der die europäischen Staaten hörbar bleiben.
Nach dem Rausch des Triumphs kommt jetzt natürlich auch in Großbritannien das böse Erwachen. Wir haben in Brüssel gestern schon gehört: Die Schotten, die Nordiren rücken bereits von England ab – und sehen ihre Zukunft wo? In der Europä ischen Union. So wird das nationale Tremolo der „Brexit“Bewegung am Ende vielleicht sogar die britische Nation selbst gehörig ins Wanken bringen.
Wer Zweifel an Europa hat, dem möchte ich zum Schluss et was empfehlen. Der Sommerurlaub naht. Machen Sie auf dem Weg in den Sommerurlaub doch einmal einen Abstecher nach Verdun. Besichtigen Sie die Schlachtfelder, wo vor genau 100 Jahren mehr als 300 000 junge Europäer im sinnlosen Grana tenhagel gestorben sind. Mein Urgroßvater war im Krieg. Mein Großvater war im Krieg. Mein Vater hat seine besten Jahre im Krieg verbringen müssen. Wir gehören zu einer Ge neration, die die längste Friedenszeit der modernen Geschich te erleben darf.