Protokoll der Sitzung vom 30.06.2016

(Beifall bei der SPD)

Wenn der Ministerpräsident, der sich ja gestern noch einmal von der Presse feiern ließ für das, was er gesagt hat, gelegent lich von der komplementären Koalition spricht, dann meint er wahrscheinlich, dass man sich in diesen Fragen arrangiert, aber nichts groß begründen muss. Es gibt kein Konzept der Europapolitik zu lesen, und das ist kein gutes Signal.

(Beifall bei der SPD – Abg. Josef Frey GRÜNE hält den Bericht über aktuelle europapolitische Themen hoch.)

Zur Lage selbst: Die Flüchtlingsbewegungen und der „Bre xit“ dominieren die Debatte. Der Bericht bezieht sich übri gens auf das letzte Quartal der früheren Landesregierung, über das man auch sagen kann, Kollege Frey: Es wird ein gutes Zeugnis ausgestellt für das erste Quartal 2016, auf das sich der Bericht bezieht, z. B. gerade im Hinblick auf die Südflan ke. Die Schweizstrategie wurde im Kabinett verabschiedet. Es ging darum, zu schauen: Was kann man am Oberrhein ma chen? Da sind gute Sachen geschehen, auf denen man jetzt aufbauen kann.

Aber es ist eben so, dass wir merken: Jetzt ist ein offenes Feld da. Wohin geht die Sache?

Da sage ich jetzt einmal: Da sind wir gefordert, ein paar The men tatsächlich anzusprechen und Baden-Württemberg ein zubringen. Die Flüchtlingspolitik ist hier ein Stichwort gewe sen. Ich glaube, dass es richtig ist: Schengen muss besser funktionieren, und wir sollten Dublin ergänzen. Dafür muss sich die baden-württembergische Politik einsetzen. Ein bes serer Verteilungsmechanismus bei Dublin ist gefordert. Der „Fairness-Mechanismus“ ist angesprochen worden, nach dem andere eintreten. Aber es gibt auch noch andere Dinge, die ei ne Rolle spielen. Die Blue Card hat sich bisher nicht bewährt – ein bisschen hat sie sich in Deutschland bewährt, in ande ren Ländern nicht. Hier ist es notwendig, für die Hochquali fizierten bessere Zugänge nach Europa zu finden. Das ist im Interesse Baden-Württembergs, meine Damen und Herren.

Ich bin auch dafür, dass das, was angesprochen worden ist, gemacht wird, vor allem die Verkürzung der Verfahrensfrist für die Blue Card in Europa von 90 auf 60 Tage. Das ist das eine.

(Vereinzelt Beifall)

Das andere ist: Es gibt in diesem Haus ebenso wie im Bun destag eine Mehrheit für ein Einwanderungsgesetz, und es liegt im Interesse Baden-Württembergs, dass in Berlin end lich ein Einwanderungsgesetz beschlossen wird, meine Da men und Herren.

(Beifall bei der SPD und der FDP/DVP sowie Abge ordneten der Grünen)

Wir brauchen eine Bekämpfung der Fluchtursachen in den Herkunftsländern. Wenn ein Drittel der Bevölkerung im Li banon oder in Jordanien Flüchtlinge sind, dann ist das eine massive Situation – genauso wie in Nordafrika –, und das, was in Nigeria geschieht, wo ich mich ein kleines bisschen besser auskenne, mit Boko Haram ist schrecklich. Europa kann nicht einfach zusehen. Deshalb ist die Bekämpfung der Fluchtursa chen eine der großen europäischen Aufgaben, die hier in die sem Land angemahnt werden, und dafür braucht Europa auch die Möglichkeiten, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Ich war gestern von einigen Aussagen der Regierung, insbe sondere des Ministerpräsidenten, enttäuscht, weil es wieder einmal um Subsidiarität ging und gesagt wurde: Wie wunder bar, dass wir alles selbst regeln können – das wollen wir auch –, und das Große macht dann Europa.

Ich bin selbst ein Anhänger davon, dass Subsidiarität funkti oniert. Kollege Stoch hat aber darauf hingewiesen, dass Sub sidiarität nur im Spannungsverhältnis mit der Solidarität, die immer dazugehört, funktionieren wird und nicht eines allein.

Natürlich wollen wir für die Wasserversorgung selbst zustän dig sein. Aber es ist doch klar, dass wir Standards für saube res Wasser nicht nur in Baden-Württemberg, sondern auch an anderer Stelle haben wollen. Deswegen wird man immer über legen müssen: Welche Aufgaben können trotzdem nicht in Berlin, sondern müssen in Brüssel erledigt werden?

Meine Redezeit ist zu Ende. – Ich bin dafür – ohne dieses plat te Subsidiaritätsverständnis, im Landtag, aber auch beim Land kreistag zu meinen, unbedingt gefällig reden zu müssen –, hier

in der Europapolitik zu einem anderen Weg zu kommen als dem, den der Ministerpräsident leider zwischenzeitlich einge schlagen hat, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Flexible Formate für Europa – ich komme zum Ende, Herr Präsident –, wie sie Kollege Reinhart in seiner beachtlichen Rede angesprochen hat, mögen eine richtige Richtung sein: etwa Europa der zwei Geschwindigkeiten, Eurozone etc. Trotz dem ist auch hier eine Debatte notwendig: Was heißt „flexib le Formate“, wenn es um Freiheit geht?

(Abg. Wolfgang Drexler SPD: Jawohl!)

Gibt es da etwas Flexibles? Ich glaube nicht. Was heißt „fle xible Formate“, wenn es um die Frage geht, ob Korruption ein Vergehen oder nur eine bestimmte Kultur in gewissen Län dern ist?

(Abg. Wolfgang Drexler SPD: So ist es!)

Ich glaube nicht, dass es da Flexibilität gibt. Deswegen: Ach tung! Europa braucht hochstehende Standards für sich selbst in Demokratie, in Freiheit, in sozialer Gerechtigkeit. Das ist entscheidend.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der AfD)

Deswegen würde ich mich freuen, wenn wir Europa in Ba den-Württemberg so buchstabieren, dass wir nicht sagen: Wir Baden-Württemberger erklären alles noch einmal, erklären, wie es gut geht. Die gestrige Diskussion ging so ein bisschen in die Richtung, man müsse es besser erklären. Da das Sein das Bewusstsein bestimmt, müssen wir vielmehr dafür sor gen, dass die Bürger in Europa mit sozialer Gerechtigkeit und mit Freiheit tatsächlich etwas anfangen können und dafür po litisch arbeiten.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der AfD)

Für die Fraktion der FDP/ DVP erteile ich dem Kollegen Professor Dr. Schweickert das Wort.

Herr Präsident, mei ne Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin dem Kollegen Hofelich sehr dankbar für die Rede, weil sie sich fachlich mit dem Thema „Wo stehen wir gerade in Eu ropa?“ und den Themen, die jetzt auch zur Beschlussfassung – zur Kenntnisnahme – anstehen, befasst.

Herr Kollege Berg, man kann über das Europa der Vaterlän der diskutieren; aber dann muss man es ausführen.

(Zuruf von der SPD: Nur Sprüche!)

Man kann auch am Europäischen Parlament Kritik üben und sagen: „Wir haben eine andere Vorstellung von Parlament mit Opposition und Regierung.“ All das kann man tun.

(Zuruf von der SPD: Aber man muss es begründen!)

Aber man kann nicht sagen, die wenigen Positionen, die tat sächlich demokratisch legitimiert sind, erkenne man nicht an.

Ich bin kein persönlicher Freund von Herrn Schulz. Aber da sind Sie zu weit gegangen.

(Beifall bei der FDP/DVP sowie Abgeordneten der Grünen, der CDU und der SPD)

Wenn Sie sich, meine Damen und Herren, das Haus Europa mit den 28 Wohnungen, die da sind, anschauen, müssen wir konstatieren, dass das Haus Europa außerhalb Europas eine große Anziehungskraft hat, die zu den Flüchtlingsströmen führt, die wir haben.

Mit der Anziehung meine ich auch die Schweiz, die ein Inte resse daran hat, mit Europa stark assoziiert zu sein. Ich teile die Einschätzung meines Vorredners, des Kollegen Kößler: Die vier Grundfreiheiten gibt es nur gemeinsam oder gar nicht – auch für die Schweiz, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP/DVP sowie Abgeordneten der Grünen und der CDU)

Wenn wir alle das Thema „Lösungen in der Flüchtlingspoli tik“ ansprechen, müssen wir ehrlich sein. Sie waren doch auch schon in diesen Flüchtlingscamps vor Ort und haben sich mit den Leuten dort unterhalten. Wenn Sie sich mit denen auch einmal abseits der Presse unterhalten, hören Sie: Es gibt ei nen gewissen Prozentsatz – nicht alle –, der hierher geflohen ist, weil sie sich ein besseres Leben für sich selbst erhoffen. Das ist auch in Ordnung; ich kann das niemandem vorwerfen. Aber dann liegt es doch an uns, endlich dafür zu sorgen, dass wir für diese Menschen einen legalen Weg nach Europa eb nen, damit sie nicht aufs Boot müssen.

(Beifall bei der FDP/DVP sowie Abgeordneten der AfD und der SPD)

Dann lassen Sie uns darüber streiten, inwieweit wir da Sozi alromantik hineinpacken, wie viele Sozialfälle wir da aufneh men. Lassen Sie uns über die Quoten streiten. Aber seien wir ehrlich – das richtet sich insbesondere an die Kollegen der CDU/CSU im Bundestag –: Wenn ich mir diese Blue-CardRegelung anschaue, die wir nachher durchwinken, dann ist das eine klare Positionierung der EU, den Nationalstaaten die Kompetenz wegzunehmen, das zu regeln. Vielleicht ist das der Weg, dass endlich auch auf Ebene des Deutschen Bundes tags Bewegung in die Sache kommt. Wir brauchen legale Zu wanderung, wir brauchen ein Zuwanderungsgesetz, und wenn es das nicht gibt, dann muss es halt die EU-Blue-Card sein, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP/DVP – Zuruf von der AfD: La denhüter! – Zuruf des Abg. Emil Sänze AfD)

Dann sollte meines Erachtens auf der einen Seite mit der Ro mantik nach dem Motto „Jeder kann zu uns kommen“ aufge hört werden. Denn das kann mit der Blue-Card-Regelung auch nicht gemeint sein. Auf der anderen Seite sollte dann auch ak zeptiert werden, dass es Zuwanderung gibt, dass Deutschland ein Zuwanderungsland ist, genau wie die anderen Länder auch. Im Rahmen des europäischen Hauses müssen wir dann die Schwerpunkte setzen, die zu einer fairen Verteilung füh ren. Es kann nicht sein, dass die attraktivste Wohnung, viel

leicht das Penthouse, für jeden das Ziel ist. Da erwarte ich auch von unseren Vertretern – –

(Glocke des Präsidenten)

Herr Kollege Dr. Schwei ckert, die Kollegin Dr. Baum hat eine Zwischenfrage. Wür den Sie diese gleich zulassen?

Können Sie sich vorstellen, dass es große Teile der Bevölkerung gibt, die das anders se hen als Sie, die Deutschland nicht als Einwanderungsland se hen? Und wer bestimmt das? Wäre es nicht Zeit, eine Volks abstimmung darüber durchzuführen?

(Vereinzelt Beifall bei der AfD – Abg. Dr. Christina Baum AfD begibt sich in Richtung ihres Abgeordne tenplatzes.)

Wenn Sie möchten, dass ich Ihre Frage beantworte, bleiben Sie bitte am Mikro fon stehen.