Noch einmal für die vielen Skeptiker hier im Raum: Ich darf auf einen der renommiertesten Volkswirtschaftler Großbritan niens hinweisen, auf Patrick Minford, der ein ganz anderes Szenario darstellt, als Sie sich erhoffen, hier verbreiten zu wollen.
Werte Frau Präsidentin, werte Kol leginnen und Kollegen! Kollege Sänze, um gleich mal Ihre brillanten Anglizismen hier fortzusetzen: Sie wollen hier ei ne Situation des Make Believe.
Sie hätten gern, dass es so ist, wie Sie es beschreiben. Aber ich sage Ihnen: Dieses Parlament lebt in seiner Mehrheit in der Realität – und Sie nicht. Das wollte ich Ihnen einmal sa gen.
(Beifall bei der SPD und der CDU sowie Abgeord neten der Grünen und der FDP/DVP – Zurufe von der AfD)
Ich habe als Schüler erlebt, unter welchen Mühen und Kont roversen Großbritannien der Europäischen Union beigetreten ist. Edward Heath hatte ebenso wie Premierminister Wilson dafür geworben. Dass es eine gelingende und gewichtige Part nerschaft wird, dafür haben in den Siebzigerjahren James Cal laghan und Helmut Schmidt viel getan.
Dann kam Margaret Thatcher mit: „I want my money back!“ und der Idee einer Special Relationship mit den Vereinigten Staaten, die bis heute noch die britische Politik bei den Kon servativen durchdringt. Das war, wenn man so will, auch schon der Beginn des Dramas.
Umso schmerzlicher ist es übrigens nun heute, dass mit Ab lauf des 29. März 2019 das Vereinigte Königreich nicht mehr Mitglied der EU sein wird. So oder so, geregelt oder ungere gelt, das Schicksal heißt dann: Drittland. Dass wir heute auch in Baden-Württemberg ein Brexit-Übergangsgesetz für die
Zeit nach diesem Austritt in Ungewissheit beschließen müs sen, ist auch Ergebnis einer verfahrenen Situation auf der In sel, in die die Populisten diesen Kontinent und ihr Land hin eingetrieben haben. Das Schlimme: Diese verantwortungslo sen Täuscher sind bislang ohne jede Einsicht, meine Damen und Herren –
(Beifall bei der SPD – Vereinzelt Beifall bei den Grü nen, der CDU und der FDP/DVP – Zuruf des Abg. Dr. Heinrich Fiechtner [fraktionslos])
Ich möchte hier an dieser Stelle – Herr Minister, Sie haben es auch angedeutet – Michel Barnier ein Kompliment machen. Er hat die Verhandlungen gut geführt, auch in unserem Sinn. Das Land Baden-Württemberg hat sich eingebracht – das darf man attestieren –, und Michel Barnier hat auch immer eine ruhige Hand bei dieser Sache bewiesen. So stelle ich mir üb rigens eine europäische Vertretung vor.
Wir, die SPD-Landtagsfraktion, begrüßen den von der Lan desregierung vorgelegten Gesetzentwurf. Er regelt das, was jetzt geregelt werden muss, insbesondere ohne Übergangsre gelung das Ende des aktiven und des passiven Wahlrechts für Briten hier bei den Kommunalwahlen, den Kreistags- und Ge meinderatswahlen. Den Briten, die in Deutschland leben und keinen EU-Pass als zweiten Pass mehr haben, entgeht damit natürlich jetzt die Freude des Kumulierens und Panaschierens, was für diese Briten, die eine gewisse Wett- und Spielleiden schaft haben, natürlich ein herber Verlust sein muss.
Der Übergang soll auf einer gesetzlichen Grundlage des Bun des mit Verordnungen konkretisiert werden. Der Bundestag hat das bereits beschlossen, in der Ungewissheit eines unge regelten Austritts, dessen Wahrscheinlichkeit wegen der un fähigen Taktiererei der Regierung May fast jeden Tag steigt.
Die einzige Strategie, die man erkennen kann, ist die, dass man so viel Zeit zusammenpresst, dass die Leute am Ende schwach werden und irgendwie dann kurz vorher noch zu stimmen. Das ist wirklich hohe Regierungskunst in Großbri tannien; das muss man schon sagen. Wenn das so ist, kann man nur darauf hoffen, dass eintritt, was der Minister sagt, dass es zu einem geregelten Übergang kommt. Uns allen fehlt aber im Augenblick die Zuversicht, wie das im britischen Par lament wirklich gelingen soll.
Mit dem Brexit sind nicht nur in Großbritannien Arbeitsplät ze und Prosperität gefährdet. Er ist auch eine reale Bedrohung, die allerdings – die Zahlen des Leibniz-Instituts in Halle sind hier zitiert worden – mit 100 000 Arbeitsplätzen eine gewis se Scheingenauigkeit hat, sage ich mal. Ich wundere mich im mer, wie die Wirtschaftsforschungsinstitute auf runde Zahlen kommen. Es könnte bei ihren Schätzungen auch eine andere Zahl herauskommen.
Es hat sich aber herumgesprochen, dass Baden-Württemberg mit seinem hohen Anteil an Zulieferindustrie im Automobil bereich und im Maschinenbau und der internationalen Ver flechtung natürlich besonders gefährdet ist – keine Frage. Das Gute ist: In einer guten wirtschaftlichen Lage können wir das kompensieren. Die Zeiten sind aber nicht mehr ganz so ein fach.
Vor dem Hintergrund der Exporte von Baden-Württemberg nach Großbritannien in Höhe von 12,3 Milliarden € und der Importe aus Großbritannien nach Baden-Württemberg in Hö he von 4,4 Milliarden € wird das Hauptthema sein, dass all diejenigen Branchen, die – wenn man so will – zeitkritisch sind, mit den neuen Zollformalitäten ein größeres Problem ha ben werden. Da wird es sicherlich Aufholbedarf geben, wie wir das regeln können.
Es bleibt also erhebliche Unsicherheit. Wir schlittern in eine Situation hinein, die wir alle nicht wollten. Denn natürlich ge hört Großbritannien zu dem Wirtschaftsraum, den wir Euro pa nennen. Wir ziehen Lehren aus der Situation.
Viel stärker gilt es, auf die Kraft der Aufklärung zu setzen. Gerade der ökonomische Riese Europa braucht die Besinnung auf die Ideen der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Vernunft, meine Damen und Herren. Wir brauchen das, weil ein wirt schaftlich starker Kontinent auf einer rationalen Grundlage funktionieren muss und nicht auf den Emotionen gründen darf, die hier geschürt werden.
Wir brauchen übrigens auch mehr Balance in den Regierungs formen: Föderal hilft, Extreme zu vermeiden. Westminster hat es versemmelt, nicht Schottland – das möchte ich an dieser Stelle auch einmal sagen.
Wir brauchen eine kritische europäische Öffentlichkeit, einen wirklichen europäischen Dialog, auch über die Grenzen hin weg, und nicht nur nationale Europainterpretationen, in de nen wir weitestgehend noch immer verfangen sind.
Wir brauchen aber auch Lehren für die inländische Politik. Das Brexit-Votum auf der Insel war auch eine ungelöste Span nung zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen City of London mit dem Financial District und, sagen wir mal, Shef field und Leeds mit den alten Stahlrevieren, zwischen den gro ßen Weltbürgern auf der einen Seite und den in ihrem Schat tendasein ventilierenden Polenhassern auf der Insel auf der anderen Seite.
Deshalb ist es wichtig, sich über die falsch geleiteten Stimmbürger nicht moralisch zu erheben, sondern dort zu sein, Frau Präsidentin, wo soziale und tatkräf tige Politik Menschen aus ihrer Marginalisierung herausholt. Das sind auch der Auftrag und das Erbe, die wir aus dieser un glücklichen Situation hier ziehen werden. Es geht darum – das muss ich jetzt einmal in der Fußballsprache sagen –, dass wir auch dort den Wettbewerb um Europa aufnehmen, wo es weh tut. Tore werden in der Regel von dort aus geschossen, wo es wehtut. Europa braucht Kämpfen und nicht nur Argumentie ren.
Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dem derzeitigen Stand wird Großbritannien in 1 000 Stunden die EU verlassen. Nachdem das britische Unterhaus die Zustimmung zum Brexit-Überein kommen abgelehnt hat, droht nun ein ungeregelter Brexit.
Das würde natürlich der Wirtschaft, aber auch den Menschen in Großbritannien und selbstverständlich auch in der übrigen EU einen maximalen Schaden zufügen. Das Spiel, das, wie ich sehe, Frau May in Großbritannien inszeniert, erinnert mich etwas an den Film „... denn sie wissen nicht, was sie tun“, in dem zwei pubertierende Kids auf eine Klippe zufahren und derjenige als Feigling ausgelacht wird, der zuerst abspringt. Solch ein Angsthasenspiel scheint Frau May nun auch hier durchzuführen – mit dem einen Unterschied: Der Schaden droht jetzt nicht den beiden Zockern im Auto, sondern 64 Mil lionen Briten und – das ist aus unserer Sicht vielleicht noch wichtiger – 443 Millionen Menschen im Rest der EU.
Ich stimme dem Kollegen Hofelich zu – bei den Grünen, ge rade bei Beate Böhlen, ist es ja nicht gerade auf Freude gesto ßen, dass ich das das letzte Mal so gesagt habe –: Die May macht das, was man früher als „die Braut schöntrinken“ be zeichnet hat. Sie macht die Braut schönwarten.
Aber es kommt mir immer mehr so vor, dass einfach bis kurz vorher gewartet wird, und dann ist das so vorteilhaft, dass man vielleicht doch zustimmt. Dass diese Regierungskunst tatsäch lich keine hohe ist, dem kann man nur zustimmen.
Wenn man sich dieses Spiel anschaut, das die britische Wirt schaft hier treibt, dann sieht man: Der wichtigste Handelspart ner der Briten ist die EU. Aber wie soll denn ab April der Han del mit der EU stattfinden?
Im Moment verwenden die Firmen Unsummen dafür, sich mit Notfallplänen darauf vorzubereiten. Aber Produktivität ist de finitiv etwas anderes.
Wir müssen uns vorbereiten. Wir brauchen eine Möglichkeit, wie man nach dem 29. März mit Großbritannien umgeht. Das tut das Land, Herr Minister, indem wir das Thema Wahlen klä ren. Das finden wir auch gut; das unterstützen wir. Aber was wir im Moment halt noch nicht sehen, ist, wie es eigentlich an den Außengrenzen ablaufen soll, in den Häfen von Calais und Dover. Wie ist es denn mit dem Nachschub für Fabriken und Supermärkte? Wir wissen ja, dass auch bei uns in BadenWürttemberg Firmen von diesem Handel profitieren.
Heute ist es so, dass ein Schiff, das in Dover ablegt, in sechs Wochen in Japan ankommen wird. Da finde ich die Zwischen rufe der AfD „Warten wir mal ab!“ schon interessant. Herr Gögel, Sie kommen doch aus der Speditionsbranche. Haben Sie schon einmal einen Lkw weggeschickt, bei dem Sie nicht wissen, wie er überhaupt abgeladen werden soll?
(Abg. Udo Stein AfD: So ein Quatsch! – Abg. Bernd Gögel AfD: Wir haben Jahrzehnte mit England Han del betrieben!)
Sie müssen sich überlegen, dass man bei den Waren, die heu te losgeschickt werden, nicht weiß, ob sie am Zielort verzollt werden oder nicht. Wer dann, wie die AfD, einfach so tut und sagt, man könnte einfach auf die Zölle verzichten, der weiß nicht, dass es in der WTO Meistbegünstigungsklauseln gibt. Das heißt, die Länder haben gar keine andere Wahl, als die Zölle zu erheben. Denn dann, wenn sie das nicht täten, wür den sie alle WTO-Mitglieder mit diesem Nullsteuersatz gleich stellen.
Also, es liegt im Interesse der Menschen und der Wirtschaft, dass man sich heute darüber Gedanken macht, was dann pas siert, meine Damen und Herren.
Alles andere wäre hierzulande wirklich naiv. Über den unge regelten Brexit kann man sich jetzt ja streiten. Aber zumin dest haben wir Studien, die uns sagen, dass in Deutschland insgesamt 100 000 Arbeitsplätze – viele davon auch in Ba den-Württemberg – direkt betroffen wären. Und tatsächlich – Böblingen ist genannt worden – sind es IBM, Siemens. Das ist also ein Thema, das Baden-Württemberg betrifft. Wenn wir wissen, dass es in Baden-Württemberg um 15 000 Arbeits plätze geht, die direkt vom Handel mit Großbritannien abhän gen, dann haben wir ein ureigenes Interesse, dass wir uns als Vertreter des Landes Baden-Württemberg klar positionieren und wissen, was dann zu tun ist.
Diese Szenarien, die auf dem Tisch liegen, sind keine Schwarz malerei. Wenn die Exporte in einer Größenordnung von un gefähr einem Viertel zurückgehen, dann bedeutet das für das baden-württembergische Ausfuhrvolumen, das 2017 bei 11 Mil liarden € lag, einen Rückgang um 4,4 Milliarden €. Das muss man erst einmal wegpuffern.