Protokoll der Sitzung vom 06.05.2003

Lina Ammon, Arbeiterin aus Nürnberg, Erhard Auer, Redakteur in München, Alfons Bayerer, Spengler aus Passau, Franz Bögler, Angestellter aus Ludwigshafen, Georg Dewald, Tapezierer aus Aschaffenburg, Konrad Eberhard, Stadtrat aus Fürth, Fritz Endres, Geschäftsführer aus München, Hans Gentner, Landwirt aus Pegnitz, Karl Giermann, Parteisekretär aus Nürnberg,

Clemens Högg, Metallarbeiter aus Augsburg, Dr. Wilhelm Hoegner, München, Josef Laumer, Arbeiter aus Straubing, Adolf Ludwig, Angestellter aus Pirmasens, Albert Roßhaupter, Eisenbahner aus Olching, Hans Seidel, Hof, Josef Strobel, Steuersekretär aus Ingolstadt

Wilhelm Hoegner hat über einen Abgeordneten in seinen Erinnerungen „Flucht vor Hitler“ berichtet, der damals laut Protokoll zu den Entschuldigten gezählt wurde. Es handelt sich um den Abgeordneten Michael Poeschke aus Erlangen, den Herr Präsident Böhm eben schon genannt hat. Er war in Schutzhaft in Dachau. Was Schutzhaft damals bedeutete, möchte ich Ihnen in einem längeren Zitat aus den Erinnerungen von Prof. Hoegner nahe bringen. Wilhelm Hoegner schreibt:

In unserer Fraktionssitzung, die vor der Landtagseröffnung stattfand, bekamen wir zum ersten Mal ein Bild, wie es in den Konzentrationslagern des Dritten Reichs zuging. Der sozialdemokratische Journalist Poeschke aus Erlangen, der eben aus Dachau entlassen war, humpelte mühsam, verbeult und zerschlagen ins Zimmer. Wir sprangen von unseren Stühlen auf. Wir zogen ihm das blutige Hemd vom Leib. Vom Nacken bis zu den Oberschenkeln und Ellenbogen war die Haut blauschwarz verfärbt, an vielen Stellen geplatzt, das rohe Fleisch von Blutgerinnseln verklebt. Entsetzen kam über uns, knirschender Zorn. Wir schrien wie kleine Kinder vor Wut. Der Mann war völlig verstört, er zitterte an allen Gliedern und weinte immer wieder dazwischen, während er uns erzählte, was mit ihm geschehen war.

Man hatte ihn schon im März in Schutzhaft genommen, aber erst vor wenigen Tagen, als der Befehl, die Landtagsabgeordneten freizulassen, schon erteilt war, mit vielen anderen politischen Gefangenen nach Dachau gebracht.... Man ließ ihn dort über eine Stunde lang stehen, Gesicht gegen die Wand. Hinter ihm, unter der offenen Zellentür, stand ein SS-Mann mit geladenem Gewehr. Von Zeit zu Zeit knackte er am Gewehrschloss herum. Dazu drohte er, bei der geringsten Bewegung des Gefangenen zu schießen.

Dann wurde der Häftling in einen abgelegenen Raum im Lager gebracht. Riesige SS-Kerle, lange, derbe Stecken in den Händen, warteten bereits. Die Stöcke waren an der Spitze gespalten und mit Geigenharz verschmiert. Zitternde Gefangene standen in einer Ecke gedrängt. Dann ging es los.

Man riss den Opfern die Hemden und Hosen herunter. Dann wurde einer nach dem anderen auf den Boden gelegt und vor den Augen seiner Leidensgefährten geschlagen. Je mehr einer schrie, je wilder sich sein zitternder Leib aufbäumte, umso wütender schlugen die Henkersknechte zu.

Ein früherer kommunistischer Landtagsabgeordneter aus Franken, ein lungen- und nervenkranker, ganz abgemagerter Mensch, wurde geprügelt, bis

ihm die Haut nur noch in Fetzen um die herausstehenden Knochen hing. Einem kleinen Juden schlugen sie die Hoden zu Brei. Glücklich das Opfer, das früher aus der Reihe geholt und nicht bis zuletzt aufgespart wurde.

Die Geschlagenen lagen wie Lumpenbündel in den Ecken und wussten nichts mehr. Als alles vorüber war, wurden die Misshandelten in ihre Zellen geworfen. Am Fensterkreuz hing ein Strick. Die Gefangenen sollten sich aufhängen, so lautete der Befehl. Der kleine Jude tat es, seine Peiniger schnitten ihn hohnlachend ab.

Die Opfer wälzten sich in dieser Nacht schlaflos, von brennenden Schmerzen gequält, auf dem bloßen Stroh.

Am anderen Tag traf die Weisung, unseren Kollegen Poeschke freizulassen, im Lager ein. Seine Kameraden mussten ihn unter die Arme nehmen und stundenlang auf und ab führen, bis er sich wieder fortbewegen konnte. Jetzt schluchzte er und klagte über die Schreckensbilder, die ihn verfolgten.

Unter diesem Eindruck standen die sozialdemokratischen Abgeordneten an diesem 29. April 1933, als es in diesem Hause zur Abstimmung kam, und unter diesem Eindruck begründete der damalige Fraktionsvorsitzende, Albert Roßhaupter, in einer mutigen Rede, warum seine Fraktion und die verbliebenen 16 dem Ermächtigungsgesetz nicht zustimmen würden. Er begründete es unter anderem mit der Tradition seiner Partei und mit den Worten: „Eine Partei mit dieser Vergangenheit kann man mit Zwangsgewalt vorübergehend unterdrücken, man darf aber von ihren überzeugten Anhängern nicht erwarten, dass sie feige ihre Fahne verraten.“

Liebe Kolleginnen und Kollegen, für mich sind die 16 sozialdemokratischen Abgeordneten demokratische Vorbilder. Ich meine, sie sind es für uns alle in diesem Haus, egal auf welcher Seite. Ich frage uns deshalb: Hätten sie es denn nicht verdient, dass ihrer für die Nachwelt sichtbarer gedacht wird? Wäre es nicht angebracht, ebenso wie an Sophie Scholl stellvertretend für den Widerstand in der Spätzeit des Nationalsozialismus auch etwa an die frühen Oppositionellen wie Albert Roßhaupter oder andere zu erinnern? Warum nicht in diesem Haus, so wie das ja auch im Berliner Reichstagsgebäude geschieht? –

Nicht verschwiegen werden soll hier, dass Sozialdemokraten natürlich nicht die einzigen Verfolgten waren, sondern verfolgt wurden auch überzeugte Kommunisten, Christen und aufrechte Demokraten. Ihnen allen gilt unser Erinnern und unser Respekt.

Wie es nach dem 29. April 1933 weitergehen würde, konnten die Bedrängten und Verfolgten damals nur ahnen, wenngleich sicher nicht in seinen fürchterlichsten Dimensionen. Was für die Arbeiterbewegung unmittelbar folgte, wissen wir: Am 2. Mai erfolgte die reichsweite Auflösung der freien Gewerkschaften. Am 22. Juni erklärten die Nazis sämtliche sozialdemokratischen Mandate auf

allen Ebenen für ungültig und untersagten der SPD jegliche Betätigung. Am 24. Juni 1933 stand darüber auf der Titelseite des „Völkischen Beobachters“ in großen und fetten Buchstaben zu lesen: „Wohlverdientes Ende der marxistischen Landesverräterpartei. Keine Sozialdemokraten mehr in den Parlamenten. Dauerverbot der SPDPresse – Beamte und Staatsangestellte dürfen nicht mehr der SPD angehören.“

Dann ging es weiter. Am 28. Juni ordnete die Polizei für die Morgenstunden des 30. Juni 1933 an, sämtliche SPD-Reichstags-, -Landtags-, -Bezirkstags- und -Kreistagsvertreter sowie alle Stadträte und alle führenden SPD-Funktionäre in Schutzhaft zu nehmen. Auch der Bayerischen Volkspartei sollte ihr verblendetes Ja zum Ermächtigungsgesetz nichts bringen. Sie musste sich am 4. Juli 1933 selbst auflösen.

Der letzte Akt, die Abschaffung der Länderparlamente und die Auflösung der Länder, sollte noch folgen. Damit ging die Selbstaufgabe des Parlaments Hand in Hand mit der faktischen Beseitigung der Länder und des Föderalismus in Deutschland. Weit davon entfernt, die heutige demokratische mit der damaligen diktatorischen Zeit vergleichen zu wollen, sage ich doch: Achten wir auf den Föderalismus wie auf unseren demokratischen Augapfel. Achten wir auf den Föderalismus der Länderparlamente. Achten wir auf die Selbstständigkeit der Parlamente und auf die Demokratie. Achten wir darauf, dass die Legislative in den Ländern wieder mehr zu ihrem Recht kommt, wenn wir den Föderalismus stärken und nicht schwächen wollen.

Der jüngst in Lübeck stattgefundene Kongress ist, wie ich meine, ein ermutigendes Zeichen. Darauf wollen wir aufbauen und in unserer 110-jährigen Tradition als SPDLandtagsfraktion in diesem Haus weiterarbeiten für ein demokratisches, soziales und tolerantes Bayern im Herzen Europas.

(Allgemeiner Beifall)

Das Wort hat der Vertreter der CSUFraktion, Herr Kollege Glück.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die letzte Sitzung des frei gewählten Bayerischen Landtags fand am 10. Februar 1933 statt. Wie schon dargelegt, wurde die Zusammensetzung für die Sitzung am 29. April von den Nazis erzwungen. Maßstab war das Ergebnis der vorhergehenden Reichstagswahl vom 5. März 1933. Die Landespolitik war zu dem Zeitpunkt bereits nicht mehr eigenständig handlungsfähig. Das Umfeld und die Bedingungen dieser Sitzung wurden vom Herrn Landtagspräsidenten und soeben auch vom Kollegen Maget dargestellt. Umso bewundernswerter war der Mut der SPD-Abgeordneten, gegen dieses Ermächtigungsgesetz zu stimmen. Dies hat jenseits jeder Tagespolitik unseren bleibenden Respekt und unsere Anerkennung.

Dem Protokoll dieser Sitzung kann man auch entnehmen, dass es sich auch diejenigen aus den demokratischen Parteien, die in schmerzlicher Abwägung für die

ses Gesetz gestimmt haben, nicht leicht gemacht haben. Es ist ein exemplarischer Vorgang für das, was in der Nazidiktatur in vielfältiger Weise immer wieder erlebt wurde: die schwierige Abwägung, in der die einen glaubten, über diesen, und die anderen über jenen Weg vielleicht noch Schlimmeres verhindern zu können. Ich sage aber nochmals: Dies ändert nichts an dem Mut der Sozialdemokraten, in dieser Situation dieses Zeichen zu setzen.

Machtpolitisch war diese Abstimmung schon ohne Bedeutung. Der Rechtsstaat und die Demokratie waren bereits außer Kraft gesetzt. Trotzdem war diese Abstimmung von den Nazis gewollt und erzwungen; denn sie legten immer Wert auf eine Scheinlegalität.

Dieser Landtagssitzung ging auch in Bayern ein monatelanges Ringen voraus. Die Vorgeschichte beschreibt Dietrich Mittler in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 10. April dieses Jahres folgendermaßen – ich zitiere –:

Es gereicht Bayern zur Ehre, dass sich der damalige Ministerpräsident Heinrich Held den Plänen der braunen Horden bis zum Schluss ebenso verzweifelt wie hartnäckig widersetzte. Als Adolf Wagner, Heinrich Himmler und der SA-Stabschef Ernst Röhm am Mittag des 9. März im Amtssitz des Ministerpräsidenten erschienen und ultimativ dessen Rücktritt forderten, lehnte Held das Verlangen ab. Auch die Drohungen, dass SA-Abteilungen bereits zum Sturm auf die Landeshauptstadt bereitstünden, beeindruckten ihn nicht. Er könne ohne den Ministerrat keine Entscheidung treffen. Eine Stunde später erklärte er Röhm und seinen Begleitern bei ihrem zweiten Anlauf, der Ministerrat sehe überhaupt keine Veranlassung, dem Druck der SA nachzugeben und zurückzutreten. Held war bereit zum Äußersten. Die bayerische Reichswehr sollte sich den bewaffneten SA-Männern entgegenstellen, doch die Reichswehrführung in Berlin durchkreuzte die Pläne des bayerischen Ministerpräsidenten; die Reichswehr müsse sich aus innenpolitischen Dingen heraushalten. In einem letzten Aufbäumen schickte Held ein Protesttelegramm an den Reichskanzler Adolf Hitler – vergeblich. Die letzten Stunden der rechtmäßigen bayerischen Regierung waren gezählt. Ebenfalls per Telegramm setzte das Reichsinnenministerium Bayerns Ministerpräsidenten ab. Held musste erkennen, dass er diesen Kampf verloren hatte. Selbst nach seiner Absetzung hatte er seinen Glauben an Recht und Gesetz noch nicht verloren, aber fand keinen Beistand mehr. Reichspräsident Hindenburg ließ ihn nicht einmal mehr zu einem Gespräch vor.

Soweit dieser Bericht.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen: Warum habt ihr Hitler nicht verhindert? – Diese Frage der Nachkriegsgeneration hat bis heute von ihrer Aktualität nichts eingebüßt. Dabei sollte uns ein Ergebnis der Geschichtsforschung besonders zu denken geben: Das Scheitern der Demokratie war die Voraussetzung für die Diktatur. Wir müssen deshalb also immer wieder der Frage nachgehen: Warum scheiterte die Weimarer Demokratie? – Die His

toriker nennen dafür den Versailler Vertrag mit seinen Wirkungen, die Bedrohung durch den Bolschewismus als die andere schreckliche Alternative, die Bedrohung durch politische Extreme von Links und Rechts im Land, die sich gegenseitig hochschaukelten, die wachsende Not der Menschen und das Versagen der Parteien sowie die Unterschätzung der Gefahr Hitlers, die Illusion über seine Person, seine Ziele und die Möglichkeit, noch etwas beeinflussen zu können.

Unsere Aufgabe ist heute nicht die Bewertung der historischen Rahmenbedingungen. Ein solcher Gedenktag sollte jedoch durchaus Anlass sein, über zwei Aspekte nachzudenken, nämlich zum einen über die Gefahren der Fehleinschätzung radikaler Kräfte und die damit verbundenen Folgen und zum anderen über die Verantwortung der Parteien und der Verantwortlichen in der Politik. Die Gefahr, die von Hitler ausging, wurde weithin krass unterschätzt. Nicht wenige haben dafür später, als sie ihre Irrtümer erkannten und in den Widerstand gingen, diese Fehleinschätzung mit ihrem Leben bezahlt. Menschen wie Graf Stauffenberg zählen zu ihnen, aber auch viele andere aus allen gesellschaftlichen Gruppen, zum Beispiel den Kirchen, den Parteien, den Gewerkschaften, den Organisationen der Wirtschaft oder aus dem Militär.

Diese Realität muss uns im Urteil zu äußerster Vorsicht mahnen, aber ebenso zu großer Wachsamkeit. Der Münsteraner Historiker Hans-Ulrich Tammer schreibt:

Fehleinschätzungen und Illusionen haben Hitlers Weg zur Macht begleitet und erleichtert. Kein politisches Lager, keine soziale Gruppe, keine Konfession blieb vor solchen Irrtümern und falschen Deutungen bewahrt. Die wenigen Ausnahmen an Einsicht und Weitsicht bestätigten die Regel.

Joachim Fest beschreibt in seinem großen Werk „Staatsstreich – der lange Weg zum 20. Juli“ im ersten Kapitel unter der Überschrift „Der versäumte Widerstand“ analytisch und für mich bewegend anhand von einzelnen Schicksalen das Ausmaß von Fehleinschätzungen und damit verbundene Tragödien. Ich möchte aus diesem Beitrag zitieren:

Julius Leber war eine der charismatischsten und tatentschlossensten Figuren des deutschen Widerstands. Schon vor 1933 als Reichstagsabgeordneter für die SPD tätig, entging er am Tag nach der Machtergreifung im Januar 1933 nur knapp einem Mordanschlag der Nationalsozialisten. Anschließend verbrachte er vier Jahre im KZ. Im Jahre 1943 zog Stauffenberg ihn und seine Freunde ins Zentrum der Verschwörung und öffnete die gesamte Widerstandsbewegung nach links.

Als Hitler Reichskanzler wurde, äußerte Leber, Zitat: „Wir fürchten die Herren nicht. Wir sind entschlossen, den Kampf aufzunehmen.“ Im Streit um politische Tagesfragen übersah man in der Weimarer Republik die grundsätzlichen Gefahren für die Demokratie. Symptomatisch hierfür war das Auseinanderbrechen der letzten parlamentarisch gebilde

ten Regierung. Die Flügelparteien der Koalition standen jeweils unter starkem Einfluss von außen.

Die Sozialdemokratie unter dem – nach Einschätzung der Historiker schwachen – Reichskanzler Hermann Müller stand unter Gewerkschaftseinfluss, die Deutsche Volkspartei unter dem Einfluss der Großindustrie. Nun stritt man über die Finanzierung der Arbeitslosenversicherung, um die Frage, wer das fehlende halbe Prozent der notwendigen Beitragserhöhung tragen sollte, Arbeitgeber oder Arbeitnehmer. Daran scheiterte diese Regierung. Das war eine der Voraussetzungen für den Aufstieg des Nationalsozialismus.

Zu den Irrtümern und dem Versagen der Parteien haben sich bemerkenswert übereinstimmend Franz Josef Strauß und Hoegner geäußert. Strauß schrieb einmal, ich zitiere:

Die demokratischen Parteien von Weimar waren ausnahmslos nicht bereit, in der Stunde höchster nationaler Not über alle ideologischen und politischen Gegensätze hinweg zusammenzustehen, damit der braunen Flut Einhalt geboten würde. So sind sie schließlich alle von ihr überspült worden.

Der spätere bayerische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner war davon überzeugt, dass ein rechtzeitiges Zusammengehen von Bayerischer Volkspartei und Sozialdemokratie in den entscheidenden Jahren nach 1928 zu einer Wende geführt hätte. Aus seinem Exil hat er diese Erkenntnis noch einmal zusammengefasst, als er schrieb, ich zitiere:

Der wahre Grund des Zusammenbruchs war, dass die beiden größten Parteien des Landes aus alter Gegnerschaft heraus sich nicht rechtzeitig einigen konnten. Für diejenigen, die nicht ins Exil gingen oder gehen konnten, blieben im Grunde nur zwei Möglichkeiten; entweder durch Mitarbeit als Opposition von innen zu versuchen, den Gang der Dinge zu beeinflussen und dabei all die Illusionen, Selbsttäuschungen und oft genug auch hoffnungslosen Verstrickungen in Kauf zu nehmen, die sich aus einem solchen Doppelleben fast zwangsläufig ergaben, oder aber den Schritt in die gesellschaftliche und nicht selten zugleich menschliche Isolierung zu tun und sich auszuschließen von der Aufbruchstimmung auf allen Seiten und dem neuen Gemeinschaftsgefühl, das im Selbstanpreisungsjargon der Machthaber dann als Wunder der deutschen Einigung gefeiert wurde.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, welche Lehren ziehen wir aus diesen Erfahrungen mit Blick auf unsere Verantwortung in unserer Zeit? – Ich möchte dazu einen Historiker, der ein aufmerksamer Beobachter unserer Zeit ist, zu Wort kommen lassen, nämlich Herrn Professor Dr. Horst Möller. Er schrieb uns mit seiner Rede am 9. April bei der Gedenkveranstaltung in der Staatskanzlei gewissermaßen ins Stammbuch, ich zitiere:

Täuschen wir uns nicht. Obwohl heute unter den Staaten der Welt rechtstaatliche liberale Demokra

tien in der Minderheit geblieben sind, gehen wir Europäer von der politisch und moralisch durchaus notwendigen, historisch aber zweifelhaften Voraussetzung aus, dass die Demokratie die geradezu zwangsläufige und selbstverständliche politische Organisationsform sei. Nach den historischen Erfahrungen ist aber nichts selbstverständlich, schon gar nicht die Dauerhaftigkeit politischer Systeme.

Der Kampf gegen Diktatur besteht nicht in der Selbstgerechtigkeit gegenüber früheren Generationen, sondern in der Stabilisierung der Demokratie. Weder die Wähler noch die Parteien können aus ihrer Verantwortung entlassen werden. Reflektierten die Weimarer Parteien ohne hinreichende Gestaltungskraft die gesellschaftlichen und politischen Probleme der Weimarer Republik, so besteht heute eine andere, aber in manchem analoge Gefahr. Im Grundgesetz steht: Die Parteien wirken an der politischen Willensbildung mit. Durch die Demoskopie, die nahezu wöchentlich Stimmungen und Tendenzen über wesentliche politische Sektoren reflektiert, wird aber, ohne dass dies verfassungsrechtlich greifbar wäre, ein quasi plebiszitäres Element eingeführt. Es gefährdet tatsächlich das repräsentative System, das ein freies Mandat auf Zeit benötigt, nicht aber ein hektisches Reagieren auf aktuelle Stimmungsschwankungen.

Die Parteien fühlen sich in der Zwickmühle, einerseits zwischen dem Druck, nicht nur bei Wahlen gewinnen, sondern ständig auf Stimmungen in der Bevölkerung reagieren zu müssen, andererseits aber kompetent zu regieren. Die zunehmend kompliziertere Politik, die oft auch langfristig wirksame Entscheidungen verlangt, deren Konsequenzen nur bei einer hohen Sachkompetenz überblickbar sind, ist bei dieser Kurzfristigkeit immer schwerer den Wählern zu vermitteln. Die Versuchung wächst also, auch in der Zukunft mehr auf aktuelle Wirkung als auf Sachangemessenheit zu setzen. Dieses Vermittlungsproblem besteht in allen Massendemokratien.

Soweit Prof. Dr. Möller. – Verehrte Kolleginnen und Kollegen, hier ist vor dem Hintergrund des Versagens der Parteien und des politischen Führungspersonals in der Weimarer Zeit unsere Aufgabe und unsere Verantwortung beschrieben. Wenn bei den gegenwärtigen Herausforderungen Parteien und Politiker versagen, könnte wieder der Weg für eine Radikalisierung bereitet werden. Das sollten wir bei diesem Anlass besonders bedenken.

(Allgemeiner Beifall)

Als Vertreterin der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN spricht Frau Kollegin Stahl.