Von August 1952 bis Januar 1953 kam es zu 1250 politisch motivierten Prozessen gegen Bauern, die das erhöhte Ablieferungssoll nicht erreicht hatten oder daraus resultierende Steuerschulden nicht begleichen konnten. Ich nenne ein Beispiel: In Prenzlau wurde ein Bauer zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt und zugleich enteignet, weil er aus Krankheitsgründen das Soll nicht erfüllt hatte. Mehr als 15000 Bauern sind in diesem Jahr nach Westen geflohen, so dass im Mai 1953500000 ha
brach lagen. Aufgrund des Gesetzes zum Schutze des Volkseigentums wurden bis Ende 1953 etwa 10000 Personen verurteilt, meistens Arbeiter. Auch dafür ein Beispiel: Ein Lagerarbeiter aus Luckenwalde wurde zu drei Jahren Haft verurteilt, weil er den Diebstahl von einem Paar Hausschuhe nicht etwa begangen, sondern geduldet hatte. Ein anderer hatte diese Schuhe gestohlen, und der Lagerarbeiter hatte das gesehen.
Der private Handel und der Großhandel wurden mittels verweigerter Kredite, Zulieferungsverboten und systematisch eingesetzter schikanöser Steuerprüfverfahren zerschlagen. Bei der Zerschlagung des Großhandels, der damals natürlich noch privat war, wurden in 3000 Betriebsprüfungen 2100 Strafverfahren eingeleitet, 2300 Personen verhaftet und ein Vermögen von 335 Millionen Mark eingezogen. Ich kann Ihnen diese Zahlen nicht ersparen. Das habe ich sogar selbst erlebt. Auch bei meinem Vater waren die Steuerprüfer. Unser Steuerberater konnte jedoch die angebliche Steuerschuld auf einen Kopfrechenfehler des Steuerprüfers zurückführen, so dass mein Vater ungeschoren geblieben ist.
Im März und im April 1953 kam es zu einem regelrechten Kirchenkampf. Die Junge Gemeinde wurde als Tarnorganisation des US-Imperialismus denunziert. 3000 Jugendliche wurden von den Oberschulen verwiesen, weil sie nicht bereit waren, sich vor versammelter Schülerschaft von der Jungen Gemeinde zu distanzieren. Lehrer wurden strafversetzt oder entlassen. Etwa 70 Pfarrer und Jugendleiter wurden inhaftiert. 600 Studenten wurden exmatrikuliert, weil sie zur Studentengemeinde gehalten hatten. Gegen den Studentenpfarrer in Halle, Johannes Hamel, und den Generalsekretär der Studentengemeinden in der DDR, Johannes Althausen, wurden publizistisch Schauprozesse vorbereitet. Beide waren bereits inhaftiert. Zu jener Zeit wurde auch der Religionsunterricht in den Räumen der Schule abgeschafft, der durch die DDR-Verfassung garantiert wurde.
In diesem einen Jahr „Aufbau des Sozialismus“ hat sich die Zahl der Häftlinge auf 64400 verdoppelt. Mehrere Hunderttausend sind in diesem Jahr über Westberlin mit unauffälligem Handgepäck aus der DDR geflohen. Der Klassenkampf richtete sich übrigens auch gegen SEDMitglieder. Es gab nicht nur den Ketzernamen „Sozialdemokratismus“. Sie wissen, dass die SED aus der Zwangsvereinigung von Kommunisten und Sozialdemokraten entstanden ist. Eine „Säuberung von feindlichen Elementen“ wurde vorbereitet. Im Januar 1953 wurden Juden als „zionistische Agenten“ aus der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes ausgeschlossen. Seit dem 11. September 1952 wurden an die SED-Funktionäre bis auf die Kreisebene hinab persönliche Waffen ausgegeben, die erst im November 1989 unter Protest der Betroffenen wieder eingesammelt wurden.
Nach Stalins Tod am 7. März 1953 beobachtete die neue sowjetische Führung die repressive Politik der SED mit wachsender Sorge, weil sie um die Stabilität der DDR fürchtete. Deshalb wurde die SED-Führung vom 2. bis 4. Juni nach Moskau zitiert. Hier wurde ein umfangreiches Schriftstück zur Stellungnahme vorgelegt, in dem als Hauptursache für die Massenflucht der DDR-Bürger
und für die Wirtschaftskrise der Kurs auf einen beschleunigten Aufbau des Sozialismus in Ostdeutschland verantwortlich gemacht wurde. Das Dokument ist erst nach 1990 bekannt geworden. Ich empfehle es Ihrer Lektüre, weil es einen ziemlich vollständigen Katalog der Repressionen enthält.
In diesem Papier heisst es: „Der Kurs auf einen beschleunigten Aufbau des Sozialismus in Ostdeutschland ist für nichtig zu halten.“ Kritisiert werden namentlich die Repressionen gegen die Bauern, gegen das Privatkapital, die Forcierung der Schwerindustrie zulasten der Versorgung der Bevölkerung und die Einmischung in die Angelegenheiten der Kirche. Der SED werden Maßnahmen zur Stärkung der Gesetzlichkeit und Gewährung der Bürgerrechte auferlegt. Nicht erwähnt wird die Normerhöhung. Das liegt wohl an der Tatsache, dass dieses Papier erst im Mai fertiggestellt worden ist. Ich nehme an, dass die Normerhöhung erst nach der Fertigstellung des Papiers im sowjetischen Außenministerium von der SED erwogen worden ist.
Die sowjetische Seite hat erklärt: Die Kurskorrektur sollte der Stärkung unserer Position sowohl in Deutschland selbst als auch in der Deutschlandfrage auf der internationalen Ebene dienen. Die SED-Führung hat umgehend gehorcht. Noch von Moskau aus ließ sie die weitere Verbreitung ihres Propagandamaterials sperren und die pompöse Vorbereitung von Ulbrichts 60. Geburtstag stoppen, die die Sowjetunion als „Personenkult“ harsch kritisiert hatte. Am 9. Juni beschloss das Politbüro der SED ein Kommunique, das ab dem 10. Juni zunächst im Radio und dann im „Neuen Deutschland“ veröffentlicht wurde. Darin hat die SED ihre Fehler – wie gefordert – eingestanden, das ganze Inventar der Repressionen noch einmal aufgezählt und deren Rücknahme angekündigt, allerdings mit zwei Ausnahmen: Das Wort „Bürgerrechte“ fehlte – und die Normerhöhung. Die Arbeiter– und Bauernregierung hatte die Arbeiter vergessen, weil Moskau nichts Diesbezügliches angeordnet hatte. Weil sie sich zu Recht übergangen sahen, traten die Arbeiter in den Streik. Das ist der Grund für den 17. Juni.
Welche Folgen hatte der 17. Juni? – Eine paradoxe Folge, die weder die Demonstranten noch die Sowjetunion gewollt haben, war die Tatsache, dass der 17. Juni Walter Ulbricht rettete. Es war ziemlich deutlich, dass ihn die Sowjetunion ablösen wollte. Er triumphierte nun gegen seine innerparteilichen Widersacher und säuberte die Partei. Zwischen 1953 und 1954 wurde etwa die Hälfte aller Funktionäre bis nach unten ausgewechselt. Nicht wenige wurden aus der Partei ausgeschlossen. Kriterium war dabei die Frage, wie sich die Personen am 17. Juni verhalten haben. Alle, die zurückgewichen waren oder für einige der Forderungen Sympathie gezeigt hatten, mussten gehen.
Dagegen war es nun nicht mehr so wichtig, ob jemand früher Nazi war. Im Februar 1954 ermitteln die parteiinternen Statistiker, dass der Anteil ehemaliger NSDAPMitglieder in der SED zunimmt. Waren es bisher 8,6%, sind es nun bei den um Aufnahme ersuchenden Kandidaten 9,3%. Bei ehemaligen Mitarbeitern der SA und SS stieg die Zahl gar von 6,1% auf 9,9%. Als die SEDKreisleitung Pasewalk am 27. Januar 1954 eine Kom
mission bilden wollte, um den steigenden Anteil von Altnazis in der SED des Kreises zu untersuchen, wurde ihr das von oben strikt verboten.
Unmittelbar nach dem 17. Juni begann erneut der Justizterror. Ab 1954 wurde die Jugendweihe zum neuen Kirchenkampfinstrument. Ab 1958 wurde die Kollektivierung der Landwirtschaft wieder aufgenommen. Die Reste der privaten Industrie, inzwischen zu „halbstaatlichen Betrieben“ umgewandelt, zerschlug Honecker Anfang der Siebzigerjahre.
Seit dem 17. Juni 1953 begann die SED nun auch, die Lebensverhältnisse zu verbessern, um die Arbeiter für sich zu gewinnen. Später hieß das: „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik.“ Nichts gegen Sozialpolitik! Die SED betrieb sie aber als Gnadengabe für Wohlverhalten. Das Ziel waren zufriedene Knechte, nicht Bürgerrechte.
Der 17. Juni blieb das Trauma der SED. Sie zog die Konsequenz, man dürfe nie nachgeben. Wenn man das Ventil öffne, explodiere der Kessel. Das ist zwar physikalischer Unsinn, aber sie hat das dennoch so gesehen. Also nie wieder nachgeben! Daraufhin versteinerte die SED. Als Stasiminister Mielke am 31. August 1989 ein Bericht über die brisante Lage vorgelegt wurde, fragte er: „Ist es so, dass morgen der 17. Juni kommt?“
Aber auch für die Bevölkerung der DDR blieb der 17. Juni ein Trauma. Alle Losungen von damals waren seitdem tabu: Rücktritt der Regierung, freie Wahlen, Wiedervereinigung. Die Nachgeborenen wussten auch meist gar nichts vom 17. Juni; denn die Haftentlassenen mussten eine Schweigeerklärung unterzeichnen. Erst nach 1990 beginnen die Großeltern, den staunenden Enkeln zu erzählen, was sie am 17. Juni erlebt haben.
Wir alle mussten lernen: Gegen Panzer ist Zivilcourage machtlos. Ich kann das nicht oft genug sagen, vor allem gegenüber jüngeren Westdeutschen: Gegen Panzer ist Zivilcourage machtlos. Das haben wir 1956 in Ungarn und 1968 in der CSSR wieder erlebt. Wo sich der Ruf nach Freiheit meldet, erscheinen die sowjetischen Panzer. Budapest ist 1956 weit stärker zerstört worden als im Zweiten Weltkrieg. Was wäre passiert, wenn die Vorgänge am 17. Juni zu einem Bürgerkrieg geführt hätten? – Daraus ergab sich außerdem für uns zwingend: Der Schlüssel für Veränderungen liegt nicht in der DDR, er liegt in Moskau. Wenn allerdings dort ein Nagy oder Dubcek auftreten sollte, dann werden keine Panzer rollen. So kam es dann. Der Mann hieß Gorbatschow.
Was genau nun war dieser 17. Juni? Die SED hat doch tatsächlich bis zuletzt behauptet, das sei ein von außen gelenkter faschistischer Putsch gewesen. Ich habe gehört, dass der Vorstand der PDS dieses Jahr nicht bereit war, diese Version noch aufrechtzuerhalten. Aber eine „Erklärung des Berliner Alternativen Geschichtsforums“ zum 50. Jahrestag des 17. Juni, die auch der PDS-Ehrenvorsitzende Hans Modrow unterschrieben hat, macht immer noch „antisozialistische Kräfte im Land und außerhalb seiner Grenzen“, darunter Altnazis, für die Demonstrationen verantwortlich. Das müssen wir aber nicht ernst nehmen.
Peinlich ist, dass alle DDR-Schriftsteller, die sich vor 1989 zum 17. Juni geäußert haben, Stefan Hermlin, Anna Seghers, Heiner Müller, der These vom faschistischen Putsch oder, so Stefan Heym, vom halbfaschistischen Putsch, übernommen haben. Kurt Bartel, der sich damals „KuBa“ nannte und furchtbare Hymnen auf Stalin verfasst hat, schrieb nach dem 17. Juni – natürlich nach dem 17. Juni! – ein Flugblatt gegen die Ostberliner Bauarbeiter, in dem steht, dass er sich für sie schäme. „Da werdet ihr sehr viel und sehr gut mauern... müssen, ehe diese Schmach vergessen ist“, steht in diesem Flugblatt. Dergleichen hat wohl Bertold Brecht veranlasst, nach dem 17. Juni zwar öffentlich seine Solidarität mit der SED zu bekunden, zu Hause aber „Die Lösung“ aufs Papier zu bringen: Die Regierung möge doch das Volk auflösen und ein anderes wählen, wenn das Volk das Vertrauen der Regierung verspielt habe.
Neuerdings treten hier und da Westdeutsche auf, die erklären, der 17. Juni sei kein Ruhmesblatt für die Deutschen. Hubertus Knabe wirft dem Westen vor, nicht eingegriffen zu haben. Gerhard Besier wirft in der Zeitung „Die Welt“ den ostdeutschen Kirchen beim 17. Juni Versagen vor. Die beiden bringen erstens zu Recht in Erinnerung, dass der 17. Juni gescheitert ist. Daran führt nun kein Weg vorbei: Er ist gescheitert. Unter den Ketten der sowjetischen Panzer wurden auch die Hoffnungen des 9. Juni begraben, als die SED Buße tat.
Zweitens behaupten sie aber, das hätte nicht so kommen müssen, wenn der Westen oder der Osten oder beide mutiger gewesen wären. Es geht dabei nicht nur um eine historisch-akademische Frage, sondern um eine moralische Frage in einem Kampf um Anerkennung. Man kann das auch anders ausdrücken: Das sind Thesen, bei denen ich die Absicht rieche, dass wir gedemütigt werden sollen. Ich höre oder lese gar nicht so selten von Westdeutschen die vorwurfsvolle Frage, warum wir uns diese Diktatur so lange haben gefallen lassen. Dazu kann ich nur sagen: die Ahnungslosen! Das klingt ja so, als ob wir Westdeutsche dem Spuk Ruckzuck ein Ende gemacht hätten. Ich empfehle Ihnen, sich daran zu erinnern, wie mutig und zivilcouragiert sich die Transitreisenden gegenüber den Kontrollbehörden der DDR aufgeführt haben.
Hätte der Westen am 17. Juni eingegriffen, hätte tatsächlich ein Weltkrieg gedroht. Deshalb habe ich vorhin Jakob Kaiser als jemand Unverdächtigen zitiert, der diese Besorgnis hatte. Die Sowjetunion hatte nach 1945 nicht, wie die Westalliierten, abgerüstet und war auf einen Krieg gefasst.
Hätten die Kirchen vor oder nach dem 17. Juni zu Demonstrationen aufgerufen, hätten sie bloß die Zahl der Opfer erhöht. Es ist nämlich zweierlei: Märtyrer werden – nämlich schwere Nachteile für seinen Glauben hinnehmen müssen – das haben damals viele erlebt –, oder Märtyrer machen. Das ist den Kirchen verwehrt, und dabei soll es bleiben. Andere für irgendwelche Zwecke in den Tod zu schicken, kann Christen nicht erlaubt sein. Nochmals: Gegen Panzer ist Zivilcourage machtlos. Zuletzt ist uns das 1989 in China auf dem Platz des Himmlischen Friedens demonstriert worden. Manche Westdeutsche wollen nicht glauben, dass man eine sta
bile Diktatur von innen nicht stürzen kann. Das stört ihr Weltbild; denn sie träumen von der Allmacht des zivilen Widerstands und ziviler Konfliktbeilegung. Ich sage nochmals: die Ahnungslosen!
In Wahrheit ist gewaltfreier Widerstand nur wirksam gegenüber einer Regierung, die Rücksicht auf die öffentliche Meinung nimmt. Ghandi hatte Erfolg, weil er große Teile der britischen Öffentlichkeit auf seiner Seite hatte und dies der britischen Regierung nicht gleichgültig sein konnte. Stalin soll Churchill bei vorgerückter Stunde einmal gefragt haben, warum er Ghandi nicht einfach erschießen lässt. Stalin hat diese Methode millionenfach erfolgreich praktiziert und ist nie gestürzt worden.
Aber wenn der 17. Juni keinen Erfolg haben konnte, war er dann nicht eine große Torheit? – Immanuel Kant hat zur Französischen Revolution bemerkt: Bedenke man, mit wie viel Elend und Greuel sie verbunden gewesen sei, könne niemand verantworten, sie auf diese Kosten noch einmal zu unternehmen. Trotzdem finde diese Revolution „in den Gemüthern der Zuschauer eine Theilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasmus grenzt“, weil sich da gegen den Despotismus der Gedanke des Rechts Geltung verschafft hat.
So müssen wir auch den 17. Juni sehen. Ihn noch einmal zu initiieren, könnte niemand verantworten. Aber Bewunderung nötigt uns ab, dass der Wunsch nach Einigkeit und Recht und Freiheit damals so unerwartet mächtig wurde. Widerlegt wurde damit, dass den Deutschen der Untertanengeist angeboren sei.
Das wurde im Herbst 1989 noch einmal widerlegt. War er die Fortsetzung des 17. Juni? – Zunächst fallen Diskontinuitäten auf. Diesmal waren es nicht die Arbeiter, die noch einmal ihre Gewerkschaftserfahrungen im Arbeitskampf einsetzten, sondern junge Nonkonformisten, die vom Schrecken der Stalinzeit nicht mehr gelähmt waren. Es war auch nicht so sehr der Zorn gegen Repressionen – das Regime hatte gewissermaßen Samthandschuhe angezogen, die nur gelegentlich ausgezogen wurden –, sondern es waren neue Themen, die sie bewegten: Umweltfragen, Frieden und Abrüstung, Dritte Welt. Diese Themen brachten die SED in Verlegenheit, weil sie eigentlich nicht dagegen sein konnten.
Das passte nicht ins Bild vom Klassenfeind. Sie forderten auch nicht freie Wahlen, sondern zählten bei der Kommunalwahl im Mai 1989 bei der Stimmauszählung in den Wahllokalen mit und addierten die Zahlen selber zusammen, um dann den Nachweis zu führen, dass die Wahlergebnisse in der Zeitung nicht stimmen und um getreu den Gesetzen der DDR Anzeige wegen Wahlfälschung zu erstatten. Diese Gruppen unter dem Dach der Kirche entdeckten die Vernetzung als Schutz. Als es zu Verhaftungen kam, wurden Fürbittgottesdienste veranstaltet, und via Westfernsehen wurde die Öffentlichkeit hergestellt, denn inzwischen hatten wir in der DDR auch Westkorrespondenten. Die Kirchen konnten den Oppositionellen deshalb einen gewissen Schutz gewähren, weil die SED von Westkrediten abhängig geworden war und sich deshalb eine gewisse Beißhemmung gegenüber
Nicht von Baustellen und Betrieben nahmen die Demonstrationen ihren Ausgang, sondern von Friedensgebeten. Und es wurden Verhaltensmaßregeln gelernt: Wer verhaftet wird, ruft seinen Namen, damit er nicht namenlos verschwindet; und: keine Gewalt! Als die Montagsdemonstration zur Massenbewegung anschwoll und auch an der Leipziger Stasizentrale vorbeiführte, schützten Demonstranten das Gebäude mit Kerzen, damit auch nicht eine zerschlagene Fensterscheibe den Anlass für Gewalt gab. Volkskammerpräsident Sindermann hat später dazu bemerkt: „Auf alles waren wir vorbereitet, bloß nicht auf Kerzen.“ Die SED war vorbereitet auf eine Wiederholung des 17. Juni und völlig verwirrt, dass etwas ganz anderes kam. Sie war wie gelähmt, als Gorbatschow erklärte, dass diesmal die sowjetischen Panzer in den Kasernen bleiben.Meine Damen und Herren, so viele Faktoren oder auch glückliche Umstände sind notwendig, damit eine friedliche Revolution gelingt. Nur wenig davon kann man gezielt inszenieren.
Die Deutsche Einheit gehörte nicht zu den Forderungen der oppositionellen Gruppen in der DDR. Erst als die Mauer fiel und die Ohnmacht des Regimes offenbar war, begannen Demonstranten aus der Nationalhymne der DDR zu skandieren: „Deutschland einig Vaterland.“ Nur in der sächsischen Stadt Plauen war schon vor dem Mauerfall der Ruf nach der Deutschen Einheit bei Demonstrationen zu hören gewesen. Trotzdem waren am Ende wieder alle drei zusammen: Freiheit, Rechte, Einigkeit.
Auch dieses Jahr ist wieder gefordert worden, statt des drögen 3. Oktober den aufregenden 17. Juni zum deutschen Nationalfeiertag zu erheben. Ich möchte dringend davor warnen. Es bekommt keinem Volk gut, wenn es seine Niederlagen feiert und sich an Bildern von Panzern gegen Demonstranten in nationale Stimmung bringen möchte. Das ist Masochismus. Die Serben treiben einen solchen Kult mit dem Amselfeld oder dem Kosovo, auf dem sie von den Türken geschlagen worden sind. Sie haben sich damit aber nur viel Unglück eingehandelt. Sie treiben mit sich selbst einen Opferkult, und das sollten wir lassen. Selbstbewusste freie Völker feiern Unabhängigkeitstage, Verfassungstage oder einfach den Geburtstag ihrer Königin. Das ist in Ordnung. Sie feiern aber keine Niederlagen. Wäre 1990 der 17. Juni zum gemeinsamen Tag der Deutschen Einheit erklärt worden, wäre die Reaktion im Osten gewesen: Jetzt drücken die uns auch noch ihren Feiertag auf, bloß damit sie nicht mit uns die Vereinigung feiern müssen. So wäre diese Entscheidung angekommen.
Die erste frei gewählte Volkskammer hat den Beitritt zum 3. Oktober beschlossen, und zwar aus drei Gründen. Erstens wollte sie so schnell wie möglich beitreten. Zweitens musste sie aber warten, bis der Zwei-Plus-Vier-Vertrag mit den Siegermächten abgeschlossen und der KSZE vorgelegt war. Deswegen durften wir nicht vor dem 1. Oktober beitreten. Schließlich wollten wir Herrn Genscher noch einen Reisetag für den Flug von Amerika nach Deutschland gönnen, und so ist der 3. Oktober zustande gekommen. Drittens wollten die Abgeordneten
das klingt jetzt zwar witzig, aber es war ein schlagendes Argument – unter keinen Umständen einen 41. Jahrestag der DDR erleben. Der 9. Oktober wäre zwar ein schönes Datum gewesen. Wir wären dann zum ersten Jahrestag der Montagsdemonstrationen, die den Durchbruch gebracht haben, beigetreten. Dagegen wurde aber argumentiert, wir wollen keinen 41. Jahrestag mehr, das wäre nämlich der 7. Oktober gewesen. So waren die Emotionen damals. Immerhin war das ein Ausdruck dafür, dass alle von der DDR genug hatten.
Der 3. Oktober – so heißt es – sei ein Datum ohne Emotion; denn der Beitritt sei ja nur ein bürokratischer Akt gewesen. Ich kann das nicht mehr hören. So gesehen ist jede Eheschließung ein bürokratischer Akt; das erste Rendezvous war viel aufregender. Jetzt aber ist alles geklärt und verbindlich veröffentlicht, und nun wird gefeiert, dass sich die Tische biegen. Das könnten wir auch jeden 3. Oktober machen, wenn wir wollten, aber wir diskutieren lieber über das passende Datum, anstatt zu feiern. Ein bisschen verrückt finde ich das schon.
Ich kenne – und das ist meine letzte Bemerkung – nur ein Datum der deutschen Geschichte, das mit dem 3. Oktober vergleichbar ist: Es ist der Westfälische Frieden von 1648. Damals ging es allerdings nicht um zwei plus vier, sondern um 111 deutsche und 38 europäische Mächte. Verhandelt wurde dort noch während des heißen Krieges. Wir sollten uns aber daran erinnern, dass der Zwei-Plus-Vier-Vertrag nicht nur die Teilung, sondern auch den Zweiten Weltkrieg beendet hat. Er hat dem vereinigten Deutschland die völkerrechtliche Mündigkeit zurückgegeben. Erstmals in der deutschen Geschichte leben wir seitdem in allseits anerkannten Grenzen und umzingelt von Freunden. Wem das kein Grund zum Feiern ist, dem kann ich auch nicht mehr helfen.
Verehrter Herr Professor Schröder, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ereignisse vom Juni 1953 haben uns im Westen immer betroffen gemacht, aber sie haben uns nicht in demselben Maße getroffen wie die, die in der DDR lebten. Deshalb lag uns daran, eine Beurteilung eines unmittelbaren Zeitzeugen zu hören. Herr Professor Schröder, ich danke Ihnen im Namen des Hauses herzlich für diesen Vortrag. Er muss von mir nicht kommentiert werden, aber er sollte von uns allen verinnerlicht werden. Sie haben ihn ohne Pathos, dafür aber umso anschaulicher vorgetragen. Herzlichen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung wird wieder aufgenommen. – Wir freuen uns auch über die Aufmerksamkeit eines jeden Ministers.
Am 5. Juni 2003 verstarb nach schwerer und mit immer wieder neuem Mut ertragener Krankheit Herr Manfred Hölzl im Alter von 61 Jahren. Er gehörte 1978 und seit 1980 dem Bayerischen Landtag an und vertrat für die CSU den Stimmkreis Fürstenfeldbruck-Ost.
Seine Sachkunde und seine geradlinige und gewissenhafte Art machten ihn zu einem über die Fraktionsgrenzen hinweg geschätzten und anerkannten Kollegen. Er war Vorsitzender im Parlamentarischen Kontrollgremium und Mitglied in mehreren Ausschüssen, darunter über viele Jahre im Ausschuss für Kommunale Fragen und Innere Sicherheit. Er war Polizeibeamter mit Leidenschaft und setzte sich für Schutz und Sicherheit der Bevölkerung ein. Ein anderes wichtiges Anliegen war ihm der Tierschutz. Sein ganzes Engagement galt den Menschen in Fürstenfeldbruck und in seiner bayerischen Heimat. Manfred Hölzl wird uns als engagierter und verlässlicher Kollege in Erinnerung bleiben.
Am 14. Juni 2003 verstarb nach schwerer Krankheit Herr Staatsminister a.D. Dr. Ludwig Huber im Alter von 74 Jahren. Er war von 1958 bis 1977 Mitglied des Bayerischen Landtags und vertrat für die CSU den Stimmkreis Traunstein.
Die Fraktion wählte ihn 1964 in das Amt des Fraktionsvorsitzenden, das er acht Jahre lang ausübte. Als Kultusminister setzte er Maßstäbe in der Schul- und Hochschulpolitik und legte damit die Grundlage für eine erfolgreiche Entwicklung des Bildungs- und Wissenschaftsstandortes Bayern. Eines seiner Hauptanliegen war, jungen Menschen vielfältige Bildungschancen zu ermöglichen. Als Finanzminister war er ein verantwortungsvoller Anwalt des bayerischen Staatshaushaltes und der Steuergelder. Er stellte die Weichen für die erfolgreiche Finanzpolitik Bayerns. Die verdiente Auszeichnung seines politischen Wirkens und seiner Persönlichkeit war die Ernennung zum Stellvertreter des Ministerpräsidenten. Auch in seinem späteren Amt als Präsident der Bayerischen Landesbank stärkte er die Wirtschafts- und Finanzkraft Bayerns. Als Anerkennung seiner herausragenden Verdienste wurden ihm zu Lebzeiten hohe Auszeichnungen zuteil.
Der Bayerische Landtag wird den Verstorbenen ein ehrendes Gedenken bewahren. Sie haben sich zu Ehren der Toten von Ihren Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen.