Protokoll der Sitzung vom 25.06.2003

Ich weiß nicht, welche Hauptschulen Sie immer besuchen; denn bei jeder Rede malen Sie ein Desaster der bayerischen Hauptschulen an die Wand, das so nicht stimmt. Gehen Sie einmal hinaus, sehen Sie sich alle Hauptschulen an.

(Beifall bei der CSU)

Tun Sie nicht so, als ob die Hauptschule das Letzte wäre, was wir in der bayerischen Bildungspolitik haben.

(Frau Werner-Muggendorfer (SPD): Das haben wir nicht gesagt!)

Fast 40 Prozent der bayerischen Schülerinnen und Schüler sind an den Hauptschulen und machen gute und beste Abschlüsse mit den Möglichkeiten des Aufstiegs und der Durchlässigkeit. Wenn wir das jetzt noch erhöhen und ausbauen, durch die FOS 13, dann stinkt Ihnen

das, weil Sie nicht selbst draufgekommen sind, wie mir eine höhere Charge Ihrer Fraktion gesagt hat.

(Frau Marianne Schieder (SPD): O mei! O mei)

Aber das macht nichts. Tragen Sie es wenigstens mit. Tun Sie nicht so, als ob wir damit das Abitur in Misskredit bringen würden. Hören Sie mit den Märchen auf!

(Beifall bei der CSU)

Frau Zweite Vizepräsidentin Riess: Herr Kollege Schneider, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wörner?

Ich mache es wie Frau Kollegin Schieder. Er hat genügend Zeit, sich nachher zu Wort zu melden.

Verlässlichkeit und Ehrlichkeit sind die Markenzeichen der CSU-Politik. Das gilt auch und besonders für die Bildung. Ich nenne ein Beispiel, an dem man dies besonders deutlich machen kann: Ganztagsschulen. Die SPD lässt jetzt ihren Ministerpräsidenten Beck aus Rheinland-Pfalz durch alle Lande touren und erzählen, welch tolles Modell der Ganztagsschulen er hat. Wenn man nachfragt, dann handelt es sich dabei um nichts anderes als um die bayerischen Angebote zur Betreuung und zur Förderung. Wir sagen, was wir meinen, bei uns ist auch drin, was drauf steht. Das führt dazu, dass Bayern in der Statistik der Kultusministerkonferenz plötzlich an erster Stelle steht, was Sie nicht wahrhaben wollen.

(Beifall bei der CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bilanz der bayerischen Bildungspolitik kann sich nicht nur im nationalen Vergleich sehen lassen. Mit den heute aufgezeigten Perspektiven werden wir zu den international führenden Ländern aufschließen. Dazu werden wir unseren Beitrag leisten, und dem dient auch der Dringlichkeitsantrag, den wir im Anschluss an die Regierungserklärung behandeln werden.

(Beifall bei der CSU)

Frau Zweite Vizepräsidentin Riess: Das Wort hat Frau Münzel.

Frau Präsidentin, Kolleginnen und Kollegen! Trotz aller Vertuschungen, die wir auch heute wieder von Ihnen gehört haben, Frau Staatsministerin: Das bayerische Schulsystem ist ein Schulsystem, das hierarchisch gegliedert ist und auf Auslese und Ausgrenzung aufbaut. Es grenzt die Kinder aus bildungsfernen Schichten aus, es grenzt die behinderten Kinder aus den Regelschulen aus. Es grenzt an den Realschulen und Gymnasien die ausländischen Schülerinnen und Schüler aus. Es grenzt Schülerinnen und Schüler, Eltern und Lehrkräfte von wichtigen Entscheidungen aus. Es verteilt die Bildungschancen regional unterschiedlich. Das heißt, dieses Bildungssys

tem grenzt Kinder aus, wenn sie das Pech haben, in gewissen Regionen Bayerns zu wohnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diesen Weg gehen Sie heute weiter, indem Sie Noten in der 2. Klasse einführen und schwierige Schülerinnen und Schüler aus der Schule ausgrenzen wollen.

Wir GRÜNEN setzten statt dessen auf Integration, Vielfalt, Selbstverantwortung, Individualität, Freiheit und Demokratie.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir setzen uns für eine Schule ein, die Kinder nicht schon nach der 4. Klasse aussortiert und in Schubladen steckt, sondern für eine Schule, in der alle Kinder länger gemeinsam gefördert werden, die Begabten genau so wie die Kinder, die mit dem Lernen Probleme haben. Wir setzen uns für eine Schule ein, welche die Unterschiedlichkeit der Einzelnen als Chance und nicht als Belastung versteht und die Vielfalt zum Ausgangspunkt von Bildung macht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir setzen uns ein für eine Schule, die nicht nur für die Kinder, die Jugendlichen und für die Lehrkräfte zum Lebensraum wird, sondern die auch zum Bildungs- und Kulturzentrum einer Gemeinde wird, also für alle Bürgerinnen und Bürger.

Kolleginnen und Kollegen, das größte Problem innerhalb des bayerischen Schulsystems ist die Chancenungleichheit. Es ist eine Tatsache, dass es in keinem anderen Bundesland einen so engen Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und dem Bildungsweg gibt. Gerade auf diesem Gebiet haben Sie, Frau Staatsministerin, keine Lösungsansätze aufgezeigt. Im Gegenteil: Durch die von Ihnen durchgesetzte Strukturreform zur Einführung der sechsstufigen Realschule haben Sie einen fundamentalen Fehler begangen und den Zug in die falsche Richtung gelenkt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Zwei internationale Untersuchungen bestätigen dies eindrucksvoll. Die Grundschulleseuntersuchung „Iglu“ hat den Erfolg der einzigen Schulart bestätigt, in der die Kinder unabhängig von ihrer Herkunft gemeinsam lernen. Die Untersuchung „Pisa“ sieht die Länder vorn, die ihre Schülerinnen und Schüler ebenfalls länger gemeinsam zur Schule gehen lassen. Nur die bayerische Kultusministerin – –

(Siegfried Schneider (CSU): Ganz hinten!)

Wie bitte? Die Pisa-Spitzenländer?

(Siegfried Schneider (CSU): Die Länder mit Gesamtschulen sind auch die Letzten in der Liste der Pisa-Studie!)

Ach so. Nur die bayerische Kultusministerin und mit ihr die CSU-Fraktion sind der Meinung, diese Befunde könne man einfach ignorieren. So wird in unserem stark gegliederten Schulsystem getestet und sortiert, um die richtigen Kinder für die richtige Schule zu finden, da man den festen Glauben hat, man könne eine homogene Lerngruppe herstellen. Man glaubt dies trotz der hohen Zahl der Schülerinnen und Schüler, die sitzen bleiben oder die die Schulart wechseln müssen. Dort ist in der Tat die Durchlässigkeit von oben nach unten anstatt von unten nach oben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das hat Ihr Fraktionsvorsitzender richtig festgestellt. Obgleich wir also eine hohe Zahl von Schülerinnen und Schülern haben, die sitzen bleiben oder die Schulart wechseln, wird an diesem Glauben nicht gezweifelt. Durch die frühe Auslese werden auch die Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern im Stich gelassen. Wer aber kann diesen Kindern helfen, wenn es nicht die Schule tut? – Wer diesen Kindern hilft, hilft allen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Bayerische Staatsregierung aber lässt weder den Kindern noch den Lehrkräften die notwendige Zeit, um Bildungsdefizite aus den Elternhäusern aufzuholen. Hier wird nicht nur die Zukunft vieler Kinder verspielt, hier geht auch viel Kapital für unsere Gesellschaft verloren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Unverdrossen wird aber versucht, Schüler schulgerecht zu machen. Ziel aber muss es sein, die Schule schülergerecht zu gestalten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Das heißt für uns nichts anderes, als dass die Unterschiedlichkeit der einzelnen Schülerinnen und Schüler als Bereicherung und Chance und nicht als Belastung oder als Sortierungsmerkmal angesehen werden muss. Die Heterogenität muss zum Ausgangspunkt des Lernens gemacht werden. Dies gelingt bei uns offensichtlich in der Grundschule am besten, weil diese kaum eine Möglichkeit hat, Schülerinnen und Schüler in eine andere Schulart abzuschieben. Die Untersuchungen „Iglu“ und „Pisa“ zeigen, dass das gemeinsame Lernen der vergleichsweise unausgelesenen Grundschulschülerschaft zu nachweisbar besseren Ergebnissen führt als das Lernen in gegliederten Bildungsgängen. Was wir brauchen, ist also eine Pädagogik der Vielfalt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Herr Kollege Schneider, eigentlich haben wir das beste Beispiel für den Erfolg gemeinsamen Lernens in unseren Grundschulen selbst. Wir bräuchten eigentlich gar nicht in andere Länder zu blicken, wir bräuchten nur auf unsere eigenen Schulen zu schauen, ob wir dieses Modell nicht verlängern können, um den Kindern mehr

Zeit zu geben, die keine ausreichende Unterstützung von zu Hause mitbekommen.

Das Mindeste – und das ist unsere Forderung –, was wir unseren Kindern bieten sollten, sind sechs gemeinsame Schuljahre. Ich finde es interessant, Herr Kollege Schneider, Sie haben es ja auch angesprochen, dass auf einmal in der Debatte die Schulstruktur in Ihren Augen nicht mehr wichtig ist. Als wir aber heftig über die sechsstufige Realschule diskutiert haben, da war die Schulstruktur eines der wesentlichen Merkmale, um die Qualität in der Realschule verbessern zu können. Da haben Sie nicht locker gelassen, Sie haben die Schulstruktur ganz nach vorn gestellt. Auf einmal soll das für die Qualität an unseren Schulen nicht mehr von Bedeutung sein. Wir haben hier, zugegebenermaßen, unterschiedliche Auffassungen. Wir sollten uns aber wenigstens darin einig sein, dass wir zugestehen: Schulstruktur hat sehr wohl etwas mit Qualität von Unterricht und Qualität von Schule zu tun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Frau Ministerin, Sie sprechen nun zunehmend von individueller Förderung, von innerer Schulentwicklung und der Selbstständigkeit der Schulen. Sie haben sich ein modernes Vokabular zugelegt. Die Verhältnisse vor Ort sind aber nicht so, dass diese Ansprüche auch in die Tat umgesetzt werden könnten. Ich möchte das am neuen Grundschullehrplan deutlich machen. Wir sind der Ansicht, dass die frühe Auslese diesen neuen Grundschullehrplan konterkariert. Im Ausschuss haben wir diesen Grundschullehrplan alle gelobt. Wir haben es mit Freude zur Kenntnis genommen, dass auf individuelle Förderung der einzelnen Schülerinnen und Schüler großer Wert gelegt werden soll. Das ist das Positive.

Auf der anderen Seite muss man aber, wenn man der Individualität einen breiten Raum geben möchte, dem Einzelnen Zeit dafür lassen, sich zu entwickeln. Ich muss auch dem Langsamen oder denjenigen, die nicht so schnell und gut lernen, Zeit lassen. Durch den vorgezogenen Übertritt durch die sechsstufige Realschule wird diese Zeit jedoch beschränkt. Die Schüler haben dann wieder dieses Rennen um die Noten und den Zwang, zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Leistung punktgenau erbringen zu müssen. Die Lehrkräfte, die den neuen Grundschullehrplan sehr schätzen, können ihn also gar nicht in der Weise umsetzen, wie er intendiert ist. Das hat auch etwas mit der Schulstruktur zu tun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch die geplante Einführung der Noten in der 2. Klasse trägt unserer Ansicht nach nichts zur individuellen Förderung aller Kinder bei, sondern verschiebt den Auslesedruck noch weiter nach vorne. Noten mögen die Leistungsstarken zu noch größerer Leistung motivieren. Das gebe ich gerne zu. Die Leistungsschwachen aber werden von den Noten nur demotiviert.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie müssen sich nur einmal in die Rolle eines Kindes versetzen, das voller Neugierde auf die Welt in die Schule kommt. Die Kinder möchten etwas lernen. Sie sind gespannt darauf. Alle Kinder, die in die Schule kommen, strengen sich an. Sie werden aber, nach nur kurzer Eingewöhnungszeit, durch die Noten ständig darauf hingewiesen, dass sie verschiedenste Dinge nicht können würden. Die leistungsschwächeren Kinder bekommen dadurch den Eindruck, sie könnten sich anstrengen, wie sie wollen, es sei immer vergeblich. Diese Kinder denken dann: Ich tauge nichts. Was tut ein solches Kind? – Es resigniert, weil alle Anstrengungen nichts nutzen. Je früher wir den Kindern Noten geben, desto früher entmutigen wir sie. Daran ändert auch Ihr differenziertes System nichts.