Protokoll der Sitzung vom 19.03.2002

Dringlichkeitsantrag der Abgeordneten Glück, Unterländer, Kobler, Dinglreiter und Fraktion (CSU)

Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit (Drucksache 14/8994)

(Allgemeine Unruhe)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schlage vor, dass ich die Sitzung ganz allein bestreite. Dann gibt es keine langen Wortmeldungen, dann bin ich bald fertig.

(Allgemeiner Beifall – Zurufe von der CSU: Bravo!)

Ich habe schon die ganze Zeit gemerkt, dass ich hier Einzelkämpfer bin und die Sitzung eigentlich nur für mich durchführe.

(Allgemeine Heiterkeit)

In der Aktuellen Stunde dürfen die einzelnen Redner grundsätzlich nicht länger als fünf Minuten sprechen. Auf Wunsch einer Fraktion kann einer ihrer Redner zehn Minuten sprechen. Dies wird auf die Gesamtredezeit der jeweiligen Fraktion angerechnet. Wenn ein Mitglied der Staatsregierung kraft seines Amtes das Wort nimmt, wird die Zeit seiner Rede nicht mitgerechnet. Ergreift ein Mitglied der Staatsregierung für mehr als zehn Minuten das Wort, erhält auf Antrag einer Fraktion eines ihrer Mitglieder Gelegenheit, fünf Minuten ohne Anrechnung auf die Gesamtzeit zu sprechen. – Ich bitte Sie, jeweils auf mein Signal zu achten.

Erste Rednerin ist Frau Kollegin Schmidt. Sie hat einen Zehn-Minuten-Beitrag beantragt. Bitte, Frau Kollegin Schmidt.

Herr Präsident, liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! Zu Beginn möchte ich die Frage stellen: Woran muss sich Familienpolitik messen lassen, in Deutschland und im Freistaat Bayern?

Erstens, woran nicht? Nicht an ökonomischen Erfordernissen. Es stimmt zwar: Trotz nach wie vor leider noch zu hoher Arbeitslosigkeit beklagt die Wirtschaft zu Recht einen eklatanten Fachkräftemangel, der in dieser Größenordnung durch Zuwanderung nicht ausgeglichen werden kann und nicht ausgeglichen werden soll. Gleichzeitig haben wir heute in Deutschland die am besten ausgebildete Frauengeneration, die es jemals gegeben hat und die in einem hohen Maß, obwohl sie arbeiten will, wegen der Kinderbetreuung dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung steht. – Dies ist zwar ein wichtiger Aspekt, aber wirtschaftliche Interessen dürfen nicht ausschlaggebend für die Bewertung von Familienpolitik sein.

Zweitens: Familienpolitik ist auch nicht Bevölkerungspolitik. Dennoch muss festgestellt werden: Wir haben im EU-Vergleich einen der höchsten Prozentsätze der Kinderlosigkeit. 41% der Akademikerinnen in Deutschland sind kinderlos, 30% des Geburtsjahrgangs 1965. Wir haben mit sinkender Tendenz eine der niedrigsten Geburtenzahlen in Europa mit 1,3 Geburten pro Frau 1998. Unterboten werden wir nur noch von Italien, Spanien und Griechenland. Auch Bayern macht hier mit 9,9 Geburten pro 1000 Einwohnern keine Ausnahme. Das ist seit 1997 immerhin ein Rückgang um 0,9, Tendenz sinkend. Im Jahr 2001 – wir konnten es heute der Presse entnehmen – ist die Geburtenrate um 4,4% zurückgegangen, 4,4% weniger Geburten in Bayern.

Gleichzeitig haben wir eine der niedrigsten Erwerbsbeteiligungsquoten von Frauen und liegen auch da in der Europäischen Union an viertletzter Stelle. Es gibt nämlich, liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Erwerbsbeteiligung von Frauen und ihrer Geburtenrate. Je höher – und das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen – die Erwerbsbeteiligung der Frauen, desto höher die Geburtenrate! In Skandinavien und Frankreich liegt Erstere zwischen 75 und 80% und die Geburtenrate bei 1,7 bis 2 Kindern pro Frau. Die Kinderlosigkeit liegt in diesen Län

dern unter 10%, bei uns in der Zwischenzeit bei 25%, Tendenz steigend.

Familienpolitik ist weder Wirtschafts- noch Bevölkerungspolitik noch Gleichstellungspolitik. Sie ist mit all diesen Politikbereichen und mit vielen mehr vernetzt, hat aber ihre Eigenständigkeit zu bewahren. Familienpolitik hat sich deshalb an erster Stelle daran messen zu lassen, ob sie dazu dient, dass sich heutige junge Familien ihre vorhandenen Kinderwünsche erfüllen können. In ihrem Mittelpunkt müssen die Interessen von Kindern und ihren Eltern stehen.

(Beifall bei der SPD)

Dies ist offensichtlich in ganz Deutschland nicht der Fall, und Bayern macht hier keine Ausnahme. In Deutschland sieht es finster aus und in Bayern kohlrabenschwarz. Das bedaure ich zutiefst.

(Beifall bei der SPD)

Was wollen nämlich junge Menschen heute? Erstens ist bei ihnen das Bedürfnis nach Familie, also nach Geborgenheit, Stabilität und Verlässlichkeit, in unserer von Veränderung, Hektik und Globalisierung geprägten Zeit deutlich gewachsen. Über 80% der jungen Menschen wollen Partnerschaft und Kinder – mit der Betonung auf der Mehrzahl. Zweitens steht dieses Bedürfnis gleichberechtigt neben dem Wunsch nach einer erfolgreichen Berufstätigkeit, und zwar bei jungen Frauen und Männern gleichermaßen.

Nach einer Untersuchung von Professor Fthenakis, der auch bei Ihrer Klausurtagung war, unter der Überschrift „Die Falle Elternurlaub“ wollen 20% der jungen Mütter über einen langen Zeitraum ausschließlich Hausfrau und Mutter sein. Dieser Lebensentwurf – das sage ich ganz deutlich – verdient genauso viel Respekt und Anerkennung wie jeder andere. Auch wenn ich selbst eine ganz andere Biografie habe, werde ich diese Hausfrauen und Mütter nie mit dem abwertenden Wort „nur“ bezeichnen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Aber wir müssen zur Kenntnis nehmen: In der Zwischenzeit ist es eine Minderheit, die das will. 60% wollen nach dieser Untersuchung ihre Erwerbstätigkeit nur kurz unterbrechen und dann wieder voll- oder in größerem Umfang teilzeitbeschäftigt tätig sein. Weitere 20% möchten sogar trotz ihrer Kinder ununterbrochen vollerwerbstätig sein.

Diese beiden letzten Lebensmodelle lassen sich in Deutschland-West schlecht und im Freistaat Bayern nahezu nicht erfüllen. Denn welches Lebensmodell bieten wir den Frauen? Gute Ausbildung, dann ein paar Jahre Erwerbstätigkeit, dann tickt die biologische Uhr, und bei einer Entscheidung für Kinder Aussetzen der Berufstätigkeit mangels Krippenplätzen und Ganztagskindergartenplätzen, weil zum Beispiel offensichtlich das Mittagessen im Kindergarten so viel ungesünder ist als die selbst aufgemachte Dose Ravioli zu Hause oder die Fischstäbchen aus der Tiefkühltruhe. Die Frauen in anderen Ländern Europas fragen uns, ob wir noch alle

Tassen im Schrank haben, wenn sie hören, wie es bei uns zugeht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

In der Grundschule ist dann die Mutter die Nachhilfelehrerin ihrer Kinder und im ländlichen Bereich die Taxifahrerin, die ihre Kinder zum Gitarrenunterricht, zum Hockeyunterricht oder zur professionellen Nachhilfe bringt. Wir sind die Weltmeister in den Ausgaben für Nachhilfeunterricht und die Schlusslichter bei den Ganztagsschulen. Vielleicht hat das eine irgendetwas mit dem anderen zu tun, und vielleicht sollten wir das endlich ändern.

(Beifall bei der SPD)

Wenn die Kinder 12 bis 14 Jahre alt sind, werden die Frauen „wieder eingegliedert“. Allein wenn ich das Wort höre, läuft es mir kalt den Rücken runter. Ich frage mich: Waren wir eigentlich auf einem anderen Planeten? Haben wir unsere Kompetenzen verloren? Sind wir blöd geworden, weil wir uns um unsere Familien gekümmert haben?

(Maget (SPD): Inhaftiert!)

Was bedeutet denn „Wiedereingliederung“? Wiedereingliederung bedeutet, beruflich wieder ganz von vorne anzufangen, unterhalb der eigentlichen Qualifikation beschäftigt zu werden mit deutlich niedrigerem Einkommen. Es ist kein Wunder, dass die Frauen von solchen Lebensentwürfen die Schnauze voll haben.

(Beifall bei der SPD)

Deutschland-West ist bei der Kinderbetreuung das Schlusslicht in Europa, und der Freistaat ist das Schlusslicht vom Schlusslicht. 1,4% Krippenplätze in Bayern! Liebe Frau Stewens, verschonen Sie uns bitte hier und anderswo mit Ihren statistischen Tricks.

Wir beziehen uns ausschließlich auf Ihre Antworten auf unsere Interpellation und sind nicht bereit, jede MutterKind-Gruppe und jede Krabbelgruppe als Betreuungseinrichtung für Kleinstkinder zu werten. Familien haben nämlich nichts von Statistiken, sondern nur von real existierenden Betreuungsplätzen, und daran fehlt es im Freistaat Bayern.

(Beifall bei der SPD)

1,4% Krippenplätze – das ist meilenweit von europäischen Standards entfernt, zum Beispiel in Frankreich, zum Beispiel in Skandinavien mit 30 bis 55% Krippenplätzen. In diesen Ländern sind die Kinder weder verhaltensgestörter noch drogenabhängiger noch krimineller als bei uns – im Gegenteil. Zwischen 30 und 50% der Kleinstkinder und 97% der Kindergartenkinder gehen zum Beispiel in Frankreich in die kostenlose Ecole maternelle. Ein ebenso hoher Prozentsatz der Schülerinnen und Schüler wird ganztätig betreut. Die Bildungsergebnisse sind besser, und die Armut von Kindern und ihren Eltern ist geringer, obwohl die direkte materielle

Förderung von Familien größtenteils geringer ist als bei uns.

Wir dagegen schicken Familien buchstäblich in die Armut. So werden die knapp 20% Alleinerziehenden im Freistaat Bayern bei 1,4% Krippenplätzen von vornherein auf die Kombination von Erziehungsgeld und Sozialhilfe verwiesen und sind damit in der Armutsfalle. Nicht besser als bei den Krippenplätzen sieht es mit den Ganztagskindergartenplätzen im Freistaat aus. Nur ein Bruchteil der Plätze verdient diesen Namen. Am beschämendsten ist die Situation bei den Ganztagsschulen: 24 sind vorhanden, und eine quälende Diskussion wird geführt über ganze 30 weitere in den nächsten vier Jahren, und dies in einem der reichsten Bundesländer und dem flächenmäßig größten Bundesland. Dies ist eine Schande und verdient den Namen Ganztagsbetreuung nicht.

(Beifall bei der SPD)

Nur ein Gegenbeispiel: In Rheinland-Pfalz werden in dieser Legislaturperiode zusätzlich 300 Ganztagsschulen geschaffen, die an vier Tagen in der Woche bis 16 Uhr verbindlich für die Schülerinnen und Schüler geöffnet haben. Nicht so bei uns! Ihr Handeln wird immer noch ideologisch bestimmt. Sie wollen den Menschen einen Lebensentwurf aufoktroyieren, der von der übergroßen Mehrheit nicht mehr gewünscht ist. Dies versuchen Sie mit untauglichen Modellen wie Ihrem Familiengeld zu verschleiern. Dabei gehen Sie von der Fiktion aus, dass erstens Mütter nur aus finanziellen Motiven erwerbstätig sein wollen und man ihnen nur Geld geben muss, damit sie von diesem Wunsch Abstand nehmen, und zweitens unterstellen Sie, dass familienergänzende institutionelle Betreuung für Kinder generell schlecht oder maximal die zweitbeste Lösung ist. Deshalb geht Ihr Familienkonzept auch an den wirklichen Bedürfnissen der Familien vorbei. Das sagen alle Familienorganisationen und die großen Wohlfahrtsverbände; das sagt Jürgen Borchert, der von einem Irrweg Familiengeld spricht. Deshalb rudert auch der Kandidat Edmund Stoiber zu Recht zurück und verschiebt dieses nicht finanzierbare und an den Bedürfnissen von Familien vorbeigehende Vorhaben auf den Sankt Nimmerleinstag.

Ich glaube, dass wir bessere Betreuungsmöglichkeiten brauchen, dass wir für die Zukunft des Freistaates Bayern, für die Bedürfnisse von Familien und Kindern, und zwar für ihre heutigen, etwas tun müssen; denn der gesamten Gesellschaft muss klar werden: Wenn wir so weitermachen, müssen wir einmal sagen: Ohne Kinder sehen wir in Bayern ganz schön alt aus.

(Beifall bei der SPD und beim BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich nutze den Rednerwechsel, um Ihnen die Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen bekannt zu geben. Zum Dringlichkeitsantrag auf Drucksache 14/8749 der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreffend Entlassung des Staatsministers Sinner lautet das Abstim

mungsergebnis: 64 Ja-Stimmen, 110 Nein-Stimmen, 8 Stimmenthaltungen. Der Antrag ist abgelehnt.

(Abstimmungsliste siehe Anlage 1)

Zum Dringlichkeitsantrag 14/8755 der SPD-Fraktion betreffend Entlassung der Staatsminister Eberhard Sinner und Josef Miller, Neuordnung der entsprechenden Geschäftsbereiche, lautet das Abstimmungsergebnis: 65 Ja-Stimmen, 108 Nein-Stimmen, 7 Stimmenthaltungen. Auch dieser Dringlichkeitsantrag ist abgelehnt.

(Abstimmungsliste siehe Anlage 2)

Wir fahren fort in der Aktuellen Stunde. Als Nächster hat Herr Kollege Unterländer das Wort. Auch ein Zehn-Minuten-Beitrag? – Ja.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach der Einführung der Aktuellen Stunde durch Frau Kollegin Schmidt frage ich mich, ob all das, was Sie von sich gegeben haben, tatsächlich Ihrer Auffassung entspricht.

(Frau Radermacher (SPD): Was denn sonst?)

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

(Maget (SPD): Das kann er nicht fassen! – Weitere Zurufe von der SPD)