Protokoll der Sitzung vom 17.07.2002

(Zurufe von der CSU)

Hier muss man einmal draufhauen. Das ist genau so. Das müssen Sie sich jetzt schon anhören.

(Beifall bei der SPD)

Es ist an Dummheit nicht zu überbieten, zu zitieren,

(Zurufe von der CSU)

was vor 30 Jahren irgendwo gestanden hat. Was wäre, wenn wir anfangen, Ihnen vorzuhalten, was Sie noch alles vor ein oder zwei Jahren in diesem Haus abgelehnt haben, wo zu den Kinderkrippen noch Zwischenrufe „sozialistisches Teufelszeug“ kamen? Kehren Sie doch erst einmal vor Ihrer eigenen Tür.

(Beifall bei der SPD)

Soll ich Sie daran erinnern, wie lange Sie unsere Anträge zur Gleichwertigkeit schulischer und beruflicher Bildung abgelehnt haben. Heute brüsten Sie sich hier. Sie haben es jahrelang abgelehnt. Soll ich Ihnen vorhalten, wie lange Sie es abgelehnt haben, in Bayern ein freiwilliges zehntes Schuljahr zur Förderung der Hauptschule überhaupt anzudenken?

(Beifall bei der SPD – Widerspruch von der CSU)

Sie haben Grund genug, darüber nachzudenken, was sich bei Ihnen verändert hat. Ich finde es positiv, dass sich etwas verändert hat. Sie sollten aber nicht darüber lamentieren, was vielleicht vor dreißig Jahren in dem einen oder anderen Beschluss gestanden hat.

Sehr geehrte Damen, meine Herren, Frau Hohlmeier, Sie haben sich viel mit Niedersachsen beschäftigt, aber ich kann Sie trösten: Auch das wird nicht dazu beitragen, dass Herr Stoiber Kanzler wird. Auch das war eine müßige Handlung.

(Beifall bei der SPD)

Sie haben natürlich kein einziges Wort über eine andere schlimme Botschaft der Studie Pisa-International verloren, nämlich, dass in keinem anderen modernen Industrieland die soziale Herkunft so entscheidend für die Bildungschancen ist wie in Deutschland. Deutschland ist Weltmeister in der sozialen Selektion. In Bayern ist dieser Zusammenhang um ein Vielfaches dramatischer. Darüber haben Sie hier kein einziges Wort verloren. Ein Kind aus der Oberschicht hat in Bayern eine 10,5 mal höhere Chance als ein Kind einer Facharbeiterfamilie, sich an der Bildung zu beteiligen. Herr Baumert bezeichnet dies als einen „anstößigen Befund“ und fährt fort: „Wir entziehen diesen Kindern die Lebenschancen.“ Ich kann nur sagen: Recht hat er. Meine Damen und Herren, ich halte es für eine Unverschämtheit, wenn sich weder die CSU noch die Ministerin in ihren Verlautbarungen mit diesem Sachverhalt beschäftigen.

(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Verwirklichung der Chancengleichheit hat bei Ihnen – soweit ich mich an Ihre Programme erinnern kann – nie eine Rolle gespielt.

(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Ministerin, Sie haben gesagt: „Der Mensch beginnt nicht erst beim Abitur.“ Das ist richtig. Aber jeder muss die Chance haben, dorthin zu gelangen. Das unterscheidet uns voneinander.

(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für uns ist nicht die soziale Zugehörigkeit wichtig. Wir wollen, dass jeder seinen Fähigkeiten entsprechend gefördert wird.

(Dinglreiter (CSU): Die Eignung spielt wohl keine Rolle?)

Seinen Fähigkeiten entsprechend. Das enthält die Eignung. Wenn Sie nicht zuhören können, kann ich Ihnen auch nicht helfen. Dann müssen Sie zur Nachhilfe gehen. Ich komme übrigens gleich auf die Nachhilfe. Die Eltern in Bayern geben im Vergleich das meiste Geld für Nachhilfe aus. Aus diesem Grunde kommen wahrscheinlich so gute Resultate zu Stande.

(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, wir sind der Meinung, dass wir es unseren Kindern und Jugendlichen schuldig sind, Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit herzustellen. Dazu ist festzustellen, in Bayern gibt es zu viele Jugendliche, die in und an der Schule scheitern. Das haben Sie verschwiegen. Hier hat Bayern zusammen mit Bremen einen Spitzenplatz. Diese Länder führen die Hitliste der „Sitzenbleiber“ an. Das muss einmal deutlich gemacht werden. In Bayern verlassen zu wenig Schüler

die Schule mit einem qualifizierten Abschluss. 10% der Jugendlichen haben überhaupt keinen Schulabschluss. Bayern hat außerdem zu wenig Hochschulabsolventen und importiert seit Jahrzehnten jährlich circa 4400 Nachwuchsakademiker, entweder aus anderen Bundesländern oder aus dem Ausland. So schlecht können die Absolventen aus den anderen Bundesländern also gar nicht sein.

(Beifall bei der SPD)

Eine Erhöhung der Bildungsbeteiligung ist notwendig, damit wir künftig ein ausreichendes Potenzial an Facharbeitern und Hochschulabsolventen, also an hochqualifizierten Menschen für die Bewältigung der großen Zukunftsaufgaben in unserem Land haben. Sogar die bayerische Wirtschaft hat erklärt, wenn wir zu wenig Hochschulabsolventen haben, wird sich dies als absolute Wachstumsbremse erweisen. Sie haben natürlich auch nicht erwähnt, dass die beiden Pisa-Studien keine einfachen Rückschlüsse vom Schulsystem auf die Schülerleistungen zulassen. Die Tatsache, dass alle Länder, die bei dieser Studie international erfolgreich waren, sowohl Ganztagsschulsysteme als auch integrierte Systeme haben, macht deutlich, dass wir darüber mittelfristig diskutieren müssen, ob Ihnen das nun passt oder nicht.

(Beifall bei der SPD)

Die innerdeutsche Untersuchung zeigt ganz deutlich, dass kein Zusammenhang zwischen früher Selektion im gegliederten Schulwesen einerseits und dem Schulerfolg andererseits festzustellen ist. Dies ist schlicht und einfach nicht festzustellen, weil es unter den 16 Schulsystemen in Deutschland kein einziges integriertes Schulsystem gibt, das dem in Finnland ähnlich ist. Folglich ist dieser Vergleich nicht möglich. Die Schulsysteme aller anderen Bundesländer sind mehr oder weniger selektiv. Die Selektion wird ab der 4. oder 5. Klasse mit oder ohne Notenhürden vorgenommen. Die Systeme sind mehr oder weniger gegliedert. Wir haben dreigliedrige und zweigliedrige Systeme und einige wenige Gesamtschulen. In den meisten Fällen sind es Halbtagsschulen. Die Aussage, wonach die unionsgeführten Länder generell besser abschneiden, stimmt so nicht.

Selbstverständlich stellen Sie nicht dar, dass bei der Untersuchung der Lesekompetenz unter den sieben Spitzenländern vier sozialdemokratische Länder sind. Sie haben sich selbstverständlich auch nicht mit den Ergebnissen der Jugendlichen mit einem Migrationshintergrund beschäftigt. Vielmehr haben Sie sich das herausgepickt, was Ihnen gefällt. Das ist verständlich.

(Zuruf von der CSU)

Herr Kollege Hofmann, Sie haben Recht. Das hätten wir auch getan.

(Hofmann (CSU): Ich habe das nicht gesagt!)

Dann war es jemand anderes. Ich habe mich schon gewundert, warum Sie heute so still sind.

(Hofmann (CSU): Jetzt habe ich Sie ausgeschmiert!)

Offenbar bin ich so überzeugend. Auch das Zentralabitur ist kein Indikator. Länder mit und ohne Zentralabitur haben nämlich gut abgeschnitten.

Jetzt zu den notwendigen Änderungen. Sie haben heute den Bundeskanzler kritisiert, weil er einheitlich Bildungsstandards gefordert hat. Er hat wörtlich gesagt: „Wir brauchen einheitliche Standards. So weit müssen wir den Bildungsföderalismus überwinden.“ Ich frage mich, worin sich diese Forderung von Ihrer Forderung und der Forderung der Kultusministerkonferenz unterscheidet. Auch Sie fordern einheitliche Bildungsstandards. Was hätten Sie wohl für einen Zirkus veranstaltet, wenn Herr Schröder gesagt hätte, was Herr Dr. Stoiber bereits angekündigt hat? – Herr Dr. Stoiber hat nämlich Sanktionsmaßnahmen für den Fall angekündigt, dass die Länder Qualitätsstandards nicht einhalten. Wenn das kein Eingriff in die Bildungs– und Kulturhoheit der Länder ist, weiß ich nicht, was ein Eingriff wäre.

(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was ist eigentlich verwerflich daran, wenn der Bund ein Vier-Milliarden-Euro-Programm zur Förderung von Ganztagsschulen zur Verfügung stellt?

(Dr. Bernhard (CSU): Er ist dafür nicht zuständig!)

Herr Dr. Bernhard, das ist doch kein Problem. Wir können dieses Geld doch gut gebrauchen. Das Problem ist doch, dass Sie das aus ideologischen Gründen nicht wollen. Frau Kultusministerin Hohlmeier hat gesagt, der Bund hätte dazu keine Vorschläge gemacht und Frau Bulmahn wüsste überhaupt nicht, was sie täte. Ich hätte Sie einmal hören wollen, wenn Frau Bulmahn Vorschläge gemacht hätte. Dann wäre genau das Gegenteil gesagt worden.

(Beifall bei der SPD)

Das ist doch scheinheilig. Frau Bulmahn hat gesagt: Wir werden dieses Programm mit den Ländern besprechen. Was wollen Sie eigentlich mehr? Besprechen Sie es mit der Bundesbildungsministerin und sehen Sie zu, dass Sie für Bayern möglichst viel Geld an Land ziehen.

(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CSU: Wir bauen Autobahnen dafür!)

Das ist klar, dass von Ihnen so ein Zwischenruf kommt. Dümmer kann man wirklich nicht sein. Das ist die Aussage der CSU zur Bildungspolitik.

(Zuruf von der CSU: Das war nicht Herr Hofmann!)

Das war nicht Herr Hofmann. Herr Hofmann macht meistens intelligente Zwischenrufe.

(Werner (SPD): Er ist doch sonst immer für die blöden Zwischenrufe zuständig! – Maget (SPD): Herr Hofmann ist ein qualifizierter Zwischenrufer! Manchmal!)

Was ist in Bayern zu tun? – Der dramatische Zusammenhang von Bildungsbeteiligung und sozialer Herkunft in Bayern verlangt, dass wir die Benachteiligung aufgrund der sozialen Herkunft stoppen und Chancengleichheit schaffen.

(Beifall bei der SPD)

Das muss im Mittelpunkt unserer Politik stehen. Unbestritten ist die Erkenntnis, dass Kinder in den ersten sechs Lebensjahren so viel lernen wie später nie mehr im Leben.

Deshalb sind wir der Meinung, dass wir ein eigenständiges pädagogisches Konzept mit einem klaren Bildungsauftrag benötigen.