Protokoll der Sitzung vom 12.02.2004

Mit den Erkenntnissen des bayerischen Sozialberichts lässt sich die zukunftsorientierte Sozialpolitik der Staatsregierung noch zielgerichteter fortführen. Eine umfassende Datenbasis ist die notwendige Voraussetzung für die von der Staatsregierung erfolgte vorausschauende Sozialpolitik. Die Ergebnisse des bayerischen Sozialberichtes werden dazu beitragen, dass Sozialpolitik im Freistaat auch künftig nicht als nachträgliche Hilfeleistung für gescheiterte Fälle, sondern vielmehr mit einem präventiven Ansatz betrieben wird, sodass die Bürgerinnen und Bürger zu einem eigenverantwortlichen Leben befähigt werden. Dies ist aus der Sicht der Staatsregierung auch in Zukunft von besonderer Bedeutung; denn nur auf der Grundlage einer solchen vorausschauenden Sozialpolitik ist es möglich, das notwendige ausgewogene Verhältnis von Solidarität und Subsidiarität herzustellen.

Das klingt gut – und ist von der Staatsregierung.

(Beifall des Abgeordneten Dr. Sepp Dürr (GRÜNE))

Ich vermisse den Beifall bei der CSU.

(Zuruf des Abgeordneten Dr. Sepp Dürr (GRÜNE))

In einem einstimmigen Beschluss von 1996 wurde die Fortschreibung und Neuvorlage dieses Sozialberichtes beschlossen. Ich saß mit ungläubigem Staunen in der letzten Sitzung des Sozialausschusses, in dem die CSU-Fraktion von diesem einstimmigen Beschluss plötzlich nichts mehr wissen wollte.

(Zurufe von den GRÜNEN und von der SPD)

Sie will am Sozialbericht sparen. Möglicherweise will sie ihn in dieser Legislaturperiode sowieso nicht mehr herausbringen. Die Argumentation ist interessant: schwierige Datenerhebung – das kommt ganz plötzlich – und hohe Kosten. Auch im Haushalt ist kein Betrag dafür eingestellt. Egal, ob die Kosten hoch oder niedrig sind, man hat sich darauf sowieso nicht vorbereitet. Jetzt müssen wir sparen – sparen wir doch gleich am Sozialbericht. Abgesehen davon, dass hiermit die CSU ihre eigenen Beschlüsse unterläuft, glaube ich, dass das Zögern andere Gründe hat: Die CSU will im Sozialausschuss keine Arbeitsgrundlage haben. Sie will nicht wissen, wo die Missstände zu finden sind.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die CSU will sich aus ihrer Verantwortung stehlen und nicht erkennen, dass auch im Musterländchen Bayern Kinder ein Armutsrisiko sind.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Dabei haben in Ihren Zitaten ständig Kinder und Familien Priorität. Auch in Bayern besteht zwischen Armut und Gesundheitsrisiken ein Zusammenhang. Auch hier sind Bildungsarmut und materielle Armut eng verbunden. Immer mehr Schüler verlassen die Berufsschule ohne Abschluss. 8 % der Hauptschüler und 25 % der Kinder von Migranten verlassen die Schule ohne Abschluss. Bricht in diesem Bereich die Unterstützung noch weiter weg, wird bei den Migranten der soziale Missstand noch größer, und das bedient unter Umständen wieder Ihre Politik.

Kinder von Alleinerziehenden und Familien mit mehreren Kindern sind von der Armut bedroht. Es gibt regionale Unterschiede bei der Sterblichkeit. Sie haben eben die Insolvenzberatung, die Sie in Ihrem Landessozialbericht von 1998 noch priesen, zum Scheitern verurteilt, indem Sie die Mittel gestrichen haben – das ist völlig unrealistisch – und nun die Insolvenzberatung den Rechtsanwälten auferlegen. Sie selber haben geschrieben: „Die im Haushalt angesetzten Mittel stellen einen verantwortungsbewussten und ausgewogenen Kompromiss dar zwischen den gesamtwirtschaftlichen Interessen und Haushaltszwängen und den Bedürfnissen der S c h u l d n e r- und Beratungsstellen andere r s e i t s “. Anscheinend war es doch nicht ganz so wichtig, jetzt haben Sie es einfach fallen lassen. Sie wissen genau – zumindest sollten Sie es wissen –, dass der Weg, die Insolvenzberatung über die Rechtsanwälte abzuwickeln, vollkommen unrealistisch ist. Zum einen sind die Rechtsanwälte überhaupt nicht daran interessiert, zum anderen ist es ein langer, sieben Jahre andauernder Weg, und die Mittel, die dafür zur Verfügung stehen, reichen gerade mal für eine eineinhalbstündige Rechtsanwaltsberatung.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Es ist also ein vollkommener Blödsinn, was Sie vorhaben.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die neue Sprachreglung der CSU, die mich immer wieder sehr amüsiert. In der DDR – damit will ich Sie nicht vergleichen, aber es fällt mir gerade ein – gab es immer wieder neue Sprachregelungen. Wir haben es in Bayern auch schon einmal mit den „neuartigen Waldschäden“ erlebt. Aber jetzt heißt es zum Beispiel: „einem anderen etwas geben“, so hat die Kollegin Dodell vorhin gesagt. Einem anderen etwas geben, das heißt, wir streichen die Mittel für Insolvenzberatung und sagen, das sollen jetzt die Rechtsanwälte machen. Das muss man wissen.

Die CSU will nicht wissen, welche Missstände es bei uns gibt, weil sie nicht handeln will,

(Beifall des Abgeordneten Dr. Sepp Dürr (GRÜNE))

weil sie nichts dazu tun will, dass sich die Missstände verbessern, ganz im Gegenteil. Sie ist mit den Sparbeschlüssen auf dem besten Weg, die soziale Lage in Bayern dramatisch zu verschlechtern.

Ich habe in meiner vorherigen Rede bereits die Felder aufgeführt, auf denen Sie versuchen, erfolgreich bestehende Institutionen und gewachsene Strukturen zu Tode zu sparen. Das Streichkonzert ist schier unendlich. Man braucht keine Phantasie, um sich vorzustellen, welche sozialen Härten und Missstände damit in Bayern entstehen, gar nicht zu sprechen von der finanziellen Dimension der F o l g ekosten, die Sie mit dieser Streicherei provozieren.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Da werden sich alle Ihre Sparvorhaben ins Gegenteil verkehren. Ihre Vorschläge sind kurzsichtig, nicht zu Ende gedacht und weit davon entfernt, nachhaltig zu sein.

Das alles haben Sie, meine Damen und Herren von der CSU, vor Augen, wenn Sie versuchen, eine Bestandsaufnahme der sozialen Lage in Bayern zu verhindern. Sie sparen nicht nur das Geld für die Bestandsaufnahme der sozialen Lage, sondern Sie sparen an den Menschen. Ich appelliere deshalb an Sie: We rden Sie Ihrer sozialen Ve r a n t w o r t u n g gerecht und verhindern Sie den Bericht zur sozialen Lage in Bayern nicht länger. Sie sollten sich nicht an Ihre drei Punkte halten, die da heißen: Reformieren, Investieren, und der Letzte ist mir entfallen. Sie sollten sich an andere Punkte halten, die heißen: denken, planen, handeln. Dann wäre Ihrer Politik wahrscheinlich ein größerer Erfolg beschieden.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Nächste Wortmeldung: Herr Kollege Unterländer.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, ich halte es schon für merkwürdig, wenn Sie formulieren, dass die CSU im Zusammenhang mit dem Sozialbericht Missstände nicht wissen will. Es unterscheidet uns von Ihnen, denn wir wissen, wo die Menschen der Schuh drückt und wo ihre Nöte sind. Wir richten unsere praktische Politik danach.

(Unruhe und Zurufe von den GRÜNEN)

Zum Zweiten: Tun Sie bitte nicht so, als würde Sozialpolitik erst dann beginnen, wenn ein neuer Sozialbericht vorliegt. Das ist absolut unrealistisch.

(Dr. Sepp Dürr (GRÜNE): Warum haben Sie ihn dann überhaupt gemacht? – Karin Radermacher (SPD): Warum gab es dann den ersten?)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, zum jetzigen Zeitpunkt, wenn wir uns über Schwerpunkte in der sozialen Landschaft des Freistaats Bayern unterhalten,

(Dr. Sepp Dürr (GRÜNE): Gehört Armut nicht dazu, oder was?)

dann ist es notwendig, dass wir uns über die Schwerpunkte im Nachtragshaushalt und auch bei der Aufstellung des kommenden Haushalts sehr genau unterhalten und darüber beraten. Dann frage ich mich schon, ob in der Prioritätensetzung ein Plan, ein Bericht Priorität hat gegenüber Fragen der Vermeidung von Obdachlosigkeit, der Insolvenzberatung, und gegenüber den Fragen, die Sie in diesem Zusammenhang auch thematisieren. Ich sage Ihnen, in der Prioritätensetzung müssen wir uns um die Inhalte kümmern.

(Joachim Wahnschaffe (SPD): Nicht um die Menschen?)

Wie ist es denn dort – zum Dritten –, wo Sie Verantwortung tragen, meine sehr geehrten Damen und Herren,

(Dr. Sepp Dürr (GRÜNE): Wir tragen hier Verantwortung!)

zum Beispiel auf Bundesebene? Da schlagen die deutschen Bischöfe unter dem Gesichtspunkt „soziales Neudenken“ vor, jährlich einen Bericht zur gesellschaftlichen und sozialen Lage zu geben. Darüber kann man diskutieren. Ich habe auch meine spezielle Meinung dazu, ob es ausreicht, sich mit sozialpolitischen und gesellschaftspolitischen Fragen auseinander zu setzen. Aber ich habe noch

nicht erlebt, dass sich eine der hier im Landtag vertretenen Oppositionsparteien dieses Themas angenommen hat. Also, es kommt immer ganz auf Ihre Rolle an, und das nenne ich nicht besonders glaubwürdig.

Interessant wäre in diesem Zusammenhang vor allen Dingen, wie sich die von der rot-grünen Bund e s regierung unkoordiniert beschlossenen so genannten Sozialreformen auf Familien, Rentner und Behinderte auswirken.

(Dr. Sepp Dürr (GRÜNE): Machen Sie einen Sozialbericht, dann wissen wir es!)

Doch da ziehen Sie jetzt nur den bayerischen Sozialbericht heran. Strukturveränderungen, die es jetzt gibt, zum Beispiel durch die Grundsicherung, durch die Kürzungen für Rentner und Ähnliches, das interessiert Sie gar nicht, das wollen Sie von der Wirkung her gar nicht abwarten,

(Christa Steiger (SPD): Doch, das wollen wir im Sozialbericht!)

sondern Sie wollen jetzt, zu einem Zeitpunkt, der sich absolut nicht eignet, den Sozialbericht haben.

Insgesamt ist es notwendig, meine sehr geehrten Damen und Herren – und das möchte ich jetzt unter sozialpolitischen Gesichtspunkten in den Vordergrund rücken –, eine Neuorientierung von Folgeabsetzungen von Entscheidungen vorzunehmen. Wir benötigen hierfür allerdings weniger Statistiken als das, was wir Auf-den-Prüfstand-Stellen nennen von Entscheidungen, ob sie zielgenau, effizient und richtig strukturiert sind.

(Dr. Sepp Dürr (GRÜNE): Und wie messen Sie das, auf welcher Grundlage?)

Dies gilt übrigens für neue Maßnahmen genauso wie für bestehende Maßnahmen. Die Strukturen und die Entstehungsgeschichte des Sozialberichts haben gezeigt – denn die muss man sich auch einmal heranziehen –, dass sich Gutachter gegenseitig bei der Entstehungsgeschichte blockiert haben und zu erheblichem Diskussionsstoff und zu Zündstoff allein im Blick auf diese Frage beitrugen.

Meine sehr geehrten Damen und Herre n , Sozialpolitik in Bayern – ich habe das schon anges p rochen – gibt es nicht erst, seit wir den Sozialbericht haben. Es gibt vielfältige Entscheidungsgrundlagen, auf die zurückgegriffen werden kann, gerade in den Bereichen der Gesundheitsberichterstattung und der Arbeitsberichterstattung sowie im Bereich der Familien den Familienreport des Staatsinstituts in Bamberg – alles Daten, alles Materialien, auf die Sie zurückgreifen können. Im Übrigen habe ich in den vergangenen Jahren bei

Ihnen von SPD und GRÜNEN in den Diskussionen eigentlich nicht festgestellt, dass Sie in Ihrer Argumentation ständig auf diesen Sozialbericht zurückgegriffen hätten.

(Christa Steiger (SPD): Das ist ein Irrtum! – Dr. Sepp Dürr (GRÜNE): Wir haben immer mit der Bildungsarmut argumentiert! – Karin Radermacher (SPD): Wie sollen wir denn das bitte tun?)

Sie erklären nicht – das ist der nächste Punkt -, wie Sie den Bericht überhaupt gestalten wollen. Wenn Sie wollen, dass die Federführung vom Ministerium gemacht wird, dann finden Sie in diesem Aufgabenbereich gegenwärtig Kräfte, die ohnehin überlastet sind und die vordringlichere Aufgaben zu erledigen haben. Wollen sie die Begutachtung durch Sachverständige, dann kostet dies, seriös gerechnet, mindestens 500 000 Euro, die nicht vorhanden sind. Übrigens ist schon interessant, wie widersprüchlich die Opposition in diesem Zusammenhang zu Gutachten steht. Auf der einen Seite kritisieren Sie mit großem Getöse Fremdaufträge, die angeblich in Auftrag gegeben wurden, und auf der anderen Seite fordern Sie das Gleiche.

(Karin Radermacher (SPD): Jetzt verwechseln Sie etwas!)

Wo steht die Opposition tatsächlich? Wirksamkeit und konkrete Umsetzung eines solchen Berichtes müssen wir immer wieder kritisch hinterfragen. Das bitte ich Sie, allen Ernstes zu tun, weil Sie dann sehen, dass in der Prioritätensetzung die Maßnahmen, die wir auf der Basis vorhandener Daten tatsächlich bereits umsetzen können, in den Vordergrund rücken können und das Datenmaterial erst dann weiterzuentwickeln ist, wenn die Entwicklungen durch bundesgesetzliche Maßnahmen tatsächlich voll berücksichtigt sind.