Nein! Liebe Frau Kollegin Steiger, ich habe sehr wohl eine Ahnung, insbesondere was Großbritannien angeht.
In Großbritannien beziehen 1,9 % der Erwerbstätigen einen Mindestlohn, und gerade Großbritannien kennt keinen Kündigungsschutz. Sie haben dort insgesamt ein wesentlich flexibleres Arbeitsrecht.
Vom Grundsatz her möchte ich also doch sagen: Ich verkenne das Problem überhaupt nicht. Es steckt durchaus eine gesamtgesellschaftliche Brisanz dahinter.
Das gilt auch für die steigenden Vorstandsgehälter. Ich meine durchaus, dass da vieles ungerechtfertigt ist. Die Leute haben tatsächlich das Gefühl, dass es in diesem Staate nicht mehr gerecht zugeht.
Das ist überhaupt keine Frage, liebe Kolleginnen und Kollegen. Aber wir sollten uns doch überlegen, ob man mit einem gesetzlich festgelegten flächendeckenden Mindestlohn in Deutschland tatsächlich den Bedürfnissen der Menschen entgegenkommt.
Und es ist im Koalitionsausschuss verhandelt worden, dass im Arbeitnehmerentsendegesetz und auch im Mindestarbeitsbedingungsgesetz jeweils Vorrang für die Tarifparteien gegeben sein soll.
Hören Sie zu! Es ist verhandelt worden, dass die Tarifhoheit besteht. Wenn sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber nicht einigen, dann kann jeweils der Bundesarbeitsminister mit den entsprechenden Verordnungen sozusagen einen Mindestlohn auf den Weg bringen.
(Lebhafte Zurufe von der SPD – Joachim Wahn- schaffe (SPD): Es geht doch um allgemein verbindliche Erklärungen!)
Das heißt, im Koalitionsausschuss hat man sich darauf geeinigt, und ich meine schon, dass Sie nicht sagen können, dass sich die Kanzlerin hier nicht an diese Verabredungen gehalten hat. Das hat sie nämlich.
Sie hat sich genau an diese Vorgaben gehalten. Und wenn Sie sich nun – das möchte ich zum Schluss schon noch einmal sagen – bei Ihren Forderungen nach einem
Mindestarbeitslohn festbeißen, bedenken Sie bitte: Wenn der Mindestlohn zu niedrig ist, dann ist er wirkungslos, ist er zu hoch, kann er durchaus Verwerfungen in Deutschland auf dem Arbeitsmarkt hervorrufen.
Es gibt namhafte Wissenschaftler, sei es im Sachverständigenrat der Wirtschaftsweisen, oder sei es im Ifo-Institut oder im Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, IAB, – das ist vorsichtigste Schätzung – die schätzen, dass in Deutschland circa 800 000 Arbeitsplätze verloren gehen, wenn wir einen flächendeckenden Mindestlohn einführen.
Schauen Sie sich doch einmal die Franzosen an. Dort gibt es einen sehr hohen Mindestlohn; er liegt bei 8,27 Euro. Und dann schauen Sie sich einmal die brennenden Vorstädte mit der hohen Jugendarbeitslosigkeit an.
(Joachim Wahnschaffe (SPD): Das Ansehen würde ich Ihnen schon empfehlen! – Christa Steiger (SPD): Das haben wir uns durchaus schon angeschaut!)
Die hohe Jugendarbeitslosigkeit, die in Frankreich besteht, ist natürlich auch auf den hohen Mindestarbeitslohn in Frankreich zurückzuführen. Und genau das wollen wir vermeiden.
Wir wollen vermeiden, dass diejenigen, die praktisch begabter und nicht so hoch qualifiziert sind, keine Chance mehr auf dem Arbeitsmarkt haben, weil der Arbeitsmarkt für die niedrig Qualifizierten durch einen flächendeckenden Mindestlohn, wenn er denn zu hoch ist, verriegelt wird.
Jetzt will ich Ihnen noch etwas sagen. Die SPD hat – damit bin ich auch am Schluss – mit 6,50 Euro angefangen. Die CDU hat angeboten, die Merkel jetzt bei der Post
(Joachim Wahnschaffe (SPD): Nicht die Merkel, Frau Merkel! – Christa Steiger (SPD): So viel Zeit muss sein!)
die Bundeskanzlerin, Frau Merkel! – 8 Euro. Und die SPD fordert jetzt einen Postmindestlohn von 9,80 Euro. Genau in diesem Geschachere stehen wir und werden weiter verbleiben, wenn die Politik einen Mindestlohn in Deutschland festsetzt.
Ich kann Ihnen sagen, dass das, was die Politik im Bereich des Mindestlohns macht, mit Sicherheit nicht besser und wirkungsvoller sein wird als das, was bislang die Tarifhoheit in Deutschland bewerkstelligt hat.
Frau Ministerin, bleiben Sie einen Augenblick stehen; der Herr Kollege Wahnschaffe erhält das Wort zu einer Zwischenbemerkung.
Frau Staatsministerin, ich habe, ehrlich gesagt, dem, was Sie jetzt ausgeführt haben, relativ wenig entnehmen können, was denn dafür spricht, den Mindestlohn abzulehnen. Sie haben das Beispiel gebracht, dass eine Familie, die von Hartz IV leben muss, mit den entsprechenden Zuschlägen für Kinder über 1000 Euro erhält. Da wäre es doch eigentlich folgerichtig, weil die CDU/CSU immer das Lohnabstandsgebot gefordert hat, dass eine Familie, bei der einer oder beide von ihrer eigenen Hände Arbeit leben, mehr bekommt, zumindest so viel, dass sie davon leben kann. Nicht einmal das wollen Sie denen zugestehen, wenn Sie sagen, sie bekämen doch eine Grundsicherung. Die Grundsicherung ist nicht dafür da,
Außerdem haben Sie davon gesprochen, dass die Einführung des Mindestlohns dazu führen würde, dass die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse zurückgingen. Wir haben heute ganz aktuell aus der Bundesagentur für Arbeit die neuesten Zahlen bekommen. Diesen können wir die erfreuliche Tendenz entnehmen, dass die Zahl der Beschäftigungsverhältnisse von Menschen, die keine oder eine geringfügige Qualifikation haben, von denen man immer sagt, dass sie in Deutschland keine Chance hätten, wieder steigt.
Wie soll das mit dem, was Sie gesagt haben, zusammenpassen? Ich kann Ihnen nur empfehlen: Machen Sie sich bei denen kundig, denen es wirklich schlechter geht, als wir alle uns hier vorstellen können.
Herr Kollege Wahnschaffe, da sind wir am Kern des Problems angelangt, den Sie mit Ihrer Erklärung nochmals aufgegriffen haben.
Es geht letztendlich darum, ob man in Deutschland die Arbeitgeber verpflichten kann, ihre Arbeitnehmer über flächendeckende Mindestlöhne oberhalb der Produktivitätsschwelle zu bezahlen. Wir sehen dieses Problem durchaus, sagen aber auf der anderen Seite, diese Sozialpflichtigkeit obliegt dem Staat als Sozialstaat. Das ist eigentlich genau der Hintergrund; denn wenn wir den Arbeitgebern diese Verpflichtung auferlegen, werden diese Arbeitsplätze wegrationalisiert.
Frau Ministerin, ist Ihnen bewusst, dass Sie mit Ihrer Aussage, bei Mindestlöhnen gingen die Arbeitsplatzangebote zurück, dafür plädieren, dass Arbeitsplätze dadurch erhalten werden, dass wir Löhne unter dem Mindestlohn zahlen? Sie plädieren hier als Sozialministerin tatsächlich dafür, dass die Menschen mit ganz geringen Dumpinglöhnen bezahlt werden. – Sie, die Sie immer sagen, die Familie habe Vorrang! Wenn sich eine Familie nicht mehr aus eigener Kraft ernähren kann, wenn ein Familienvater drei Jobs annehmen muss, um sich bei diesen Löhnen, die Sie favorisieren, überhaupt über Wasser halten zu können, ist das alles andere als sozial. Das hat überhaupt nichts damit zu tun, dass wir noch in einem sozialen Rechtsstaat leben. Dann haben wir New Yorker Verhältnisse und working pur. Das ist Ihre Devise, das befürworten Sie. Das ist mit dem Anspruch, den Sie haben, eigentlich nicht zu vereinbaren.