Wir singen: „Gegen die Raketen hier im Land, schließt euch fest zusammen, wehrt euch, leistet Widerstand“, immer wieder von vorn. Die ersten werden weggetragen. Da ich mir vorgenommen habe, den Polizisten die Mühe zu ersparen und freiwillig mitzugehen, wenn die Reihe an mich kommt, hat das zur Folge, dass ich nur zur Seite gestoßen werde. Ebenso ergeht es Tina. Das Fahrzeug fährt durch. Sofort setzen sich die nicht Weggetragenen wieder hin, neue kommen hinzu. Obwohl jetzt aber gar kein Fahrzeug herein- oder heraus will, verkündet ein Uniformierter über Megaphon: Auflage der Stadt Schwäbisch Gmünd, wir hätten die Zufahrt zu räumen, andernfalls würden Wasserwerfer eingesetzt.
Tina und ich sitzen jetzt ganz vorn. Ein Junge aus der Gruppe sagt: „Ich weiß nicht, Wasserwerfer, davor habe ich Angst, sollen wir nicht …“ jetzt geht aber alles so schnell, dass ich nicht einmal rekonstruieren kann, wie es dazu kommt: Plötzlich singen wir wieder, lauter und lauter, sodass ich nicht einmal die Durchsagen mehr höre, sondern nur noch diesen immer wiederholten Gesang: „Gegen die Raketen hier im Land, schließt euch fest zusammen, wehrt euch, leistet Widerstand …“ Die Umstehenden, Hunderte, singen und klatschen mit, dieser Gesang macht so stark, dass ich gar keine Angst mehr habe, der Wasserwerfer steht da, die Video-Kamera der Polizei läuft, ich halte mein Pappschild vor mir: „Bruder Polizist, Bruder Bundeskanzler, ich sitze hier auch für dich und deine Kinder“, wir singen und singen, laut und ruhig immer wieder von vorn den gleichen Text.
Der Wasserwerfer wird nicht eingesetzt. Stattdessen greifen uns die Polizisten. Ich erklärte „meinem“, dass ich gehen, ihm das Wegtragen ersparen will. Wir werden in die bereitstehenden Polizeiwagen geführt, jeder fotografiert, die Zurückgebliebenen winken, viele durchaus nicht junge Gesichter, viele lila Halstücher vom Kirchentag „Umkehr zum Leben – die Zeit ist da für ein NEIN ohne jedes Ja zu Massenvernichtungswaffen…“
Ich habe eine Einzelzelle. Als alle drin sind, fährt das Auto los. Durch das Gitter in der Tür höre ich einen Polizisten zu mir sagen: „Und Sie habe ich einmal verehrt!“. Wir fahren und fahren. Einige lachen, andere singen, dann ruft einer: „He Leute, die bringen uns woanders hin, nach Aalen vielleicht oder nach Ulm!“
Ich muss an Festungen denken, an Eingesperrtsein ein Leben lang, an Stammheim. Einen Augenblick lang überkommt mich Angst. „Barbara, sieh mal die schönen Blumen draußen!“ ruft Tina ein paar Zellen weiter. Ich versuche, alles ruhig und bewusst wahrzunehmen, die grünen Wiesen draußen, die schwäbischen Dörfchen, die wir durchqueren, blitzblank, aber wie ausgestorben. Wo sind die Leute bloß? Sitzen sie alle vor dem Fernseher und schauen den ‚Blauen Bock’ an oder ‚Dalli-dalli’? Die wenigen Sichtbaren starren verdutzt unserem Polizeitross nach. Die Zeit erscheint endlos. In einem Dorf halten wir schließlich an, werden in eine Halle gesperrt, die hohen Eisentüren von außen verriegelt.
So, das war das angeblich fabelhafte Demonstrationsgesetz, das Sie noch verschärfen wollen. Stellen Sie sich vor, was dann erst mit Demonstranten passieren wird!
Gefragt, was die Leute denn von den Pershings und unserer Aktion halten, wieder die ewig gleiche ausweichende Antwort: Die da oben machen ja doch, was sie wollen. Wir als Bürger haben ja doch keine Rechte.
Damit die Bürger und Bürgerinnen die Rechte, die sie ja auch als Demonstranten haben, auch wahrnehmen dürfen, lehnen wir Ihr Gesetz ab. Herr Dr. Beckstein, ich hoffe, ich habe Sie überzeugt. Herr Kupka, danke schön, dass Sie doch noch ruhig waren.
Es ist sehr gewöhnungsbedürftig, Sie alle heute ohne Sakko zu sehen. Ich denke nur daran, wie Kollege Gantzer gestern den Kollegen Hufe gerügt hat.
(Prof. Dr. Hans Gerhard Stockinger (CSU): Jawohl, das war genau richtig! – Philipp Graf von und zu Lerchenfeld (CSU): Bei dem schaut es aber nicht so schlimm aus wie bei den anderen!)
„Mein Polizist geht mit mir Pipi machen!“ verkündet Tina. So zart sie ist, hat sie doch einen Kursus in Selbstverteidigung absolviert. „Fühlen Sie mal Tinas Bizeps“, ermuntere ich „ihren“ Polizisten. Der fühlt den Bizeps. „Und erst Tinas Bauchmuskeln!“ –
Der Polizist streckt die Hand aus, zieht sie dann aber doch wieder zurück. Wir tauschen Adressen aus. Ich gebe Volker meine Visitenkarte, da bemerkt mein Polizist: „Ach, wohl noch aus der Nobelzeit!“
Personalaufnahme schließlich auch bei den letzten. Als wir uns alle in einem Saal wiederfinden, stellt sich heraus, dass bei einigen ‚Nötigung’ eingetragen worden ist, z. B. bei Tina, bei anderen dagegen ‚Verstoß gegen das Versammlungsgesetz’, für das gleiche Delikt. Wir verlangen eine Aussprache darüber, es erscheint ein Herr, der meint, das seien Nuancen (dabei kann die Strafe für Nöti- gung, wie ich höre, um 1000 Mark betragen, ein Verstoß gegen das Versammlungsgesetz dagegen etwa 40 Mark). Mitten in das Gespräch stürmt ein Trupp junger Polizisten, schwarz behandschuht, und packt die Nächststehenden, als gälte es, schwer bewaffnete Geiselnehmer unschädlich zu machen.
So hat sich das abgespielt – trotz des angeblich so wunderbaren Versammlungsgesetzes, das Sie jetzt noch verschärfen wollen.
Den Demonstranten werden die Arme auf den Rücken gedreht, der erste geht gleich zu Boden. Jemand erklärt etwas, was ich nicht verstehe, akustisch oder weil es schwäbisch ist, und schon wird einer nach dem anderen abgeführt. Da ich mich laut gegen diese Behandlung verwahre, werden die nächsten nicht mehr gepackt, sondern ‚geleitet’ – freiwillig steigen wir alle in ein ellenlanges grünes Polizeiauto, in dem wir sofort in Einzel- oder Zweierzellen gesperrt werden. Rasselnde Schlüssel wie im Gefängnis, Sehschlitze nach draußen. –
Doch, er ist auch dazu da. Jeder von uns hat 15 Minuten Redezeit, und die kann ich verwenden, wie ich will. Ich bitte Sie, so höflich zu sein, zuzuhören, statt sich zu unterhalten.
Was sind denn die Auswirkungen Ihres Gesetzes? Unter anderem werden Veranstaltungen aufgrund von Vermutungen verboten. Veranstalterinnen und Veranstalter verzichten auf Versammlungen, weil sie den bürokratischen Aufwand fürchten.
Das gefällt Ihnen wieder, Herr Kollege Gabsteiger, weil jede Demonstration eine schlechte Demonstration ist, schon klar. Der Datenschutz wird in einer unannehmbaren Weise eingeschränkt. Veranstalter müssen sich als Ermittlungs- und Überwachungsbeamte aufspielen.
Heute wurden schon viele Aspekte genannt. Kollege Linus Förster hat schon die Jugendpolitik ins Spiel gebracht. Als jugendpolitischer Sprecher meiner Fraktion möchte ich die besonderen Auswirkungen auf die Jugendarbeit in Bayern schildern. Gerade die Jugendarbeit und die Jugendverbände leben von der Möglichkeit der politischen Willensbildung durch Versammlungen und Kundgebungen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie – Sie erinnern sich wahrscheinlich nicht gerne daran – an die machtvolle Demonstration der Jugendarbeit auf dem Odeonsplatz gegen die Kürzung des Jugendprogramms erinnern. Ein wichtiges Ziel gerade der Jugendarbeit ist es, die Jugendlichen zu befähigen, Demokratie zu erleben. Zur Demokratie gehören nun einmal Demonstrationen.
Zur Demokratie gehört auch, dass man seine Meinung öffentlich sagen kann, und das auch in einer Mehrheit von Menschen auf der Straße. Dieses wollen Sie erschweren oder sogar vereiteln. Mit Ihrem verqueren Verständnis von Demokratie und Versammlungsfreiheit zerstören Sie das, was Sie vorgeblich schützen wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der CSU, ich bitte Sie hiermit eindringlich: Ziehen Sie Ihren Gesetzesvorschlag zurück, wie das meine Kolleginnen und Kollegen schon gefordert haben. Überarbeiten Sie ihn im Interesse der Petenten, und die Demokratie wird es Ihnen danken.
(Georg Schmid (CSU): Versammlungsfreiheit im Allgäu! – Engelbert Kupka (CSU): Neue Gedanken, wenn es geht, seit 9.30 Uhr hören wir immer wieder das Gleiche!)
Frau Präsidentin! Herr Präsident Gantzer hat Kollegen Hufe nur deswegen kritisiert, weil er die falsche Krawatte getragen hat, und Krawatten trage ich ja nie.
(Heiterkeit und Beifall bei den GRÜNEN – Dr. Thomas Beyer (SPD): Das war eine Erklärung zu einer Krawatte!)
Liebe Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte meinen Ausführungen eine grundsätzliche Anmerkung zum geplanten Versammlungsgesetz vorausschicken. Die Versammlungsfreiheit gehört zu den fundamentalen Grundrechten unserer Gesellschaft, vergleichbar der Meinungsfreiheit und dem Wahlrecht. Eingriffe in diese Rechte unterliegen einem hohen Begründungszwang.
Sie müssen einerseits nachweisbar notwendig sein, und sie müssen das mildeste Mittel zum Zweck sein, das benötigt wird.
Ist dieser Gesetzentwurf unbedingt notwendig? – Nein, das ist er nicht. Wir haben ein Bundesgesetz, das weiterhin gelten würde. Stellt er das mildeste Mittel zum Zweck dar? – Nein, genau das Gegenteil ist der Fall; denn der Gesetzentwurf ist geprägt von sehr weitgehenden Definitionen. Wer die Definition vornimmt, bleibt den Kreisverwaltungsbehörden und der Polizei überlassen.