Protokoll der Sitzung vom 30.11.2004

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren! Ich eröffne die 29. Vollsitzung des Bayerischen Landtags. Presse, Funk und Fernsehen sowie Fotografen haben um Aufnahmegenehmigung gebeten. Diese wurde, wie üblich, erteilt.

Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich einige Geburtstagsglückwünsche aussprechen. Einen runden Geburtstag feierte am 15. November Herr Kollege Herbert Müller und am 20. November Herr Kollege Staatsminister Eberhard Sinner. Heute feiert Kollegin Reserl Sem ihren Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch.

(Beifall)

Dieser Glückwunsch gilt natürlich auch den beiden anderen Kollegen, die ihren Geburtstag schon etwas früher gefeiert haben.

Ich rufe die Tagesordnung auf. Ich darf zunächst darauf hinweisen, dass nach dem Tagesordnungspunkt „Aktuelle Stunde“ die namentliche Abstimmung zum CSU-Antrag 15/880, Beschneiungsanlagen, der in der letzten Sitzung über die Zeit hinaus noch ausdebattiert worden ist, erfolgt. Die Aussprache ist geschlossen. Es kommt, ausschließlich nur noch zur Abstimmung.

Ich rufe auf:

Tagesordnungspunkt 1

Aktuelle Stunde

Für die Aktuelle Stunde hat die SPD-Fraktion das Vorschlagsrecht. Sie hat das Thema: „Im Interesse aller Bayern: Eine solidarische Krankenversicherung für die Bürger weiterentwickeln – Keine Geschenke für Besserverdienende durch Kopfpauschalen“ beantragt.

Die Redezeitregelung ist bekannt: Kein Redner grundsätzlich länger als fünf Minuten. Die ersten Redner können jeweils zehn Minuten für ihre Fraktion beanspruchen. Ergreift ein Mitglied der Staatsregierung das Wort und spricht länger als zehn Minuten, dann gibt es eine entsprechende Verlängerung der Redezeit für jede Fraktion.

Ich eröffne damit die Aussprache. Erste Wortmeldung: Herr Kollege Wahnschaffe.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Mit dem bei ihrem letzten Parteitag gefundenen Gesundheitskompromiss setzt die CSU die Wählertäuschung des letzten Jahres fort. Genauso wie Sie bei der letzten Landtagswahl Eltern, Lehrer, Beamte, Wohlfahrtsverbände und viele mehr bewusst über Ihre wahren Absichten im Unklaren ließen und nach der Wahl die erstaunte und entrüstete Öffentlichkeit mit Ihren Kürzungsorgien überraschten, so glauben Sie jetzt, den Menschen Sand in die Augen streuen und ihnen vorgaukeln zu können, durch diese Billigprämie für alle sei die soziale Balance gewahrt, und es komme alles nicht so schlimm,

wie das im Kopfpauschalen-Programm der CDU, der Frau Merkel, stehe und natürlich gebe es bei diesem Murks, wie es Herr Blüm genannt hat, auch keine Verlierer.

Nun, meine Damen und Herren und der CSU, rechnen Sie nicht damit, dass die Bürgerinnen und Bürger so vergesslich sind, wie Sie glauben. Diesmal geht es nicht nur um bayerische Wähler, die Ihnen bisher so manches haben durchgehen lassen, sondern um ein Zukunftsmodell für ganz Deutschland. Es gibt bei diesem Formelkompromiss nur Verlierer. Der „Münchner Merkur“ hat das in einem Kommentar so beschrieben:

In einem hat Herr Seehofer Recht: Der nach monatelangem Hickhack gefundene Gesundheitskompromiss der Union ist blühender Unsinn. Die Parteichefs haben darüber buchstäblich ihr Gesicht verloren.

Und Horst Seehofer, der von Ministerpräsident Stoiber jetzt offenbar gnadenlos zum Abschuss freigegeben ist, kommentierte den oberfaulen Kompromiss des Herrn Rodenstock, immerhin Arbeitgeberpräsident in Bayern, mit den an Deutlichkeit und Klarheit nicht zu überbietenden Worten. Wörtlich Seehofer:

Es bleibt an den kleinen Leuten hängen. Fast 31 Millionen Menschen werden zu Bedürftigen gemacht, bei Ihnen wird das gesamte Einkommen, auch die Sparbücher der Kinder, herangezogen, um zu entscheiden, ob sie einen Abschlag von ihrer Gesundheitsprämie erhalten.

Weiter Seehofer:

Von der CSU-Parole „Kleine Einkommen – kleine Prämie, große Einkommen – große Prämie“ ist nichts übrig geblieben.

(Beifall bei der SPD)

Wer wenig verdient, bekommt einen kleinen Zuschuss und muss dafür vor dem Finanzamt die Hosen herunterlassen.

So Seehofer. Der Verriss Ihres Modells, man könnte auch sagen die Fehlleistung des Jahres, reicht von Rürup bis Rodenstock. Was die CSU im Unterschied zur CDU genau wollte, war jedenfalls für die Nichteingeweihten nie so ganz klar.

So meldete der „Spiegel“ im Juli: „Im Detail schlägt die CSU ein Stufenmodell mit insgesamt bis zu zehn Beitragsklassen vor.“ Das hat ja auch Frau Stewens nachdrücklich verteidigt. Nur, meine Damen und Herren, wo ist da der Reformansatz gegenüber dem bestehenden Modell? Oder war es nicht vielmehr ein Beitrag zur Verwaltungsreform à la CSU? Offenbar wusste niemand genau, wie das Ganze gehen soll. Noch im Juni dieses Jahres lehnte Ministerpräsident Stoiber das CDU-Modell mit den Worten ab: „Eine Kopfpauschale bei der Krankenversicherung würde den gleichen Beitrag für den Chef und für

seine Bürokraft bedeuten. – Das geht nicht!“, so Stoiber. Dass es doch geht, und zwar mit der CSU, zeigt der oberfaule Kompromiss. „Die CSU kündigt damit das „S“ aus ihrem Parteinamen“, urteilte die „Mittelbayerische Zeitung“.

Und Ihr Fraktionskollege Kobler – ich bin gespannt, ob er heute reden darf –

(Beifall und Heiterkeit bei der SPD)

nannte das die „Zertrümmerung der Solidarität und der Subsidiarität“. Sehen Sie, Herr Kollege Kobler, so kommen Sie zu späten Ehren.

(Zuruf des Abgeordneten Joachim Herrmann (CSU))

Die nüchterne Bilanz des nicht Fisch, nicht Fleisch, sondern dieses „Tofu-Kompromisses“, wie die „Süddeutsche Zeitung“ meinte, lautet: Einer der bisher 500 Euro Beitrag zahlen musste, kommt bei der CDU/CSU künftig mit 109 Euro davon.

Und, meine Damen und Herren, was Ihnen jahrzehntelang wichtig war, genauso wichtig wie uns, das kehren Sie jetzt vollständig um. Da nützen auch alle Vernebelungstaktiken nichts, Frau Stewens. Es wird so sein, so sieht Ihr Modell aus: Bis zu 7 % Belastung. Das heißt also, die unteren Einkommen haben eine Belastung bis zu 7 %. Das sind diese 109 Euro, für manche auch etwas weniger. Um es ganz genau zu sagen: Bis 1557 Euro zahlt man 7 % seines Einkommens, nach Ihrem Modell höchstens

Je höher die Einkommen, desto geringer ist die Belastung. Wer also beispielsweise 4000 Euro verdient, wird künftig nur noch eine Belastung von 2,7 % haben. Das ist eine Umkehrung des Solidarmodells, wie es Seehofer auf einmalige Weise beschrieben hat: Bei Ihnen zahlen in Zukunft die Kleinen mehr, die Besserverdienenden weniger. Das ist in höchstem Maße unsolidarisch.

(Beifall bei der SPD)

Aber es kommt noch besser: Sie wollen die Besserverdienenden noch besser stellen, indem in Zukunft beispielsweise Privatversicherte, die im Augenblick für ihre Kinder noch Prämien zahlen müssen, weil sie besser verdienen, genauso freigestellt werden wie derjenige, der 1500 Euro verdient. Wie hat es die „Süddeutsche Zeitung“ so schön beschrieben: Der Ministerialdirektor oder der Konzernchef bekommt also in Zukunft für die Kinder genauso die Erstattung.

(Zuruf von der CSU: Das sind Märchen!)

Das sind keine Märchen, sondern das hat Frau Stewens offiziell bestätigt, und das wird sie vielleicht auch heute wieder tun. Das ist eine Umkehrung des Solidarsystems. Das wird es mit einer SPD, und ich hoffe, auch mit allen

demokratischen Parteien außerhalb der CSU, nicht geben.

(Beifall bei der SPD)

Aber was bringt denn eine solche Pauschale? Wir können dies buchstäblich vor der Haustüre studieren. Die Schweiz hat diese Pauschale schon vor Jahren eingeführt. Das Ergebnis ist, dass diese Kopfpauschale inzwischen seit 1997 in der Bundesrepublik um mehr als 50 % gestiegen ist. Es ist bemerkenswert, dass mit einem Gesundheitssystem, dass Sie grundlegend ändern wollen, die Beiträge in der Zwischenzeit nur um 6 % gestiegen sind, obwohl die Ausgaben sehr stark gestiegen sind; also 50 % zu 6 %.

Es gibt Experten, die meinen, bis zum Jahr 2050 werde die Kopfpauschale auf 500 oder sogar auf 700 Euro steigen. Meine Damen und Herren, das käme, wenn es um Ihre Lösung ginge.

Sie wollen auch – auch da hat Seehofer

Recht – die Menschen zu Bedürftigen machen; denn nach Ihrem Modell würden jetzt schon 28 Millionen Menschen über dieses Bedürftigkeitsprinzip zu Bittstellern; in der Schweiz sind es – auch das kann man studieren – bereits jetzt 40 %.

Abgesehen von dem bürokratischem Monstrum, das Sie mit Ihrem Sondervermögen aufbauen wollen, ist dies weder mit einem solidarischen System noch mit der Menschenwürde vereinbar; denn wir sind der Meinung, dass ein Mensch für Grundbedürfnisse und Risiken, die er nicht abschätzen kann, weil sie unvorhersehbar sind, entsprechend seines Einkommens abgesichert sein muss. Sie wollen das Ganze auf den Kopf stellen. Das ist unsolidarisch und wird es hoffentlich in Zukunft nicht geben.

(Beifall bei der SPD)

Auch jetzt ist es schon so, dass nach den Berechnungen von Sachverständigen diese Prämie gar nicht ausreichen würde; denn der Sachverständigenrat sagte, 189 Euro würden jetzt schon fällig. Das wird wahrscheinlich nicht reichen, denn in Ihrem System ist bereits jetzt eine Deckungslücke von 14 Milliarden DM versteckt. Das wollen Sie bloß nicht offen bekennen. Dazu kann man nur sagen: Sie haben einen Trümmerhaufen, kein Reformmodell produziert. Wir hoffen, dass Herr Dr. Stoiber Recht behält. Dieses Modell ist für die Schublade, und da sollte es auch liegen bleiben.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Nächste Wortmeldung: Frau Kollegin Stamm.

Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Wahnschaffe, bitte sehen Sie es mir nach, aber bei Ihrem Beitrag kam mir jetzt nur in den Sinn: Wer selbst im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen.

(Beifall bei der CSU – Zurufe von der SPD)

Ich vergegenwärtige mir, dass Ihre Parteifreunde in Berlin das erste Mal mit dem großartigen Satz angetreten sind, der in Deutschland Geschichte gemacht hat: Wir wollen nicht alles anders, aber wir wollen alles besser machen.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜ- NEN – Dr. Sepp Dürr (GRÜNE): Das ist doch gut!)